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VII

Ein junger, blühender Mensch, konnte ich nicht hoffen, ihn zu retten? Was menschenmöglich war, sollte geschehen. Trotzdem konnte ich mich aber nicht nur dieser einen Kranken widmen. Es wurden noch im Laufe des gleichen Tages zwei andere Y. F.-Kranke eingebracht, oder vielmehr ein Y. F.-Kranker und ein zweiter Mann, der unter ähnlichen Erscheinungen erkrankt war wie ihn die mit Y. F. Angesteckten boten, der aber ein anderes, weniger gefährliches Leiden hatte.

Es handelte sich um einen Ende der Fünfzigerjahre stehenden, durch Alkohol- und Nikotinmißbrauch vor der Zeit verbrauchten Menschen, einen Schenkenbesitzer aus der Hafengegend. Sein Lokal sollte klein, ertragreich und verrufen sein, da sich die verdächtigsten Elemente der Stadt bei ihm trafen, Freigelassene, Diebe und Halunken, häufiger waren es Betrüger als Mörder; dann Leprakranke, die ihre auf ihrer (offiziell) hermetisch abgeschlossenen Leprafarm gezüchteten Hühner bei ihm heimlich in Absynth und Whisky umsetzten, Halbblutweiber und dergleichen mehr. Er hatte die besten Beziehungen zur Verwaltung, der er gegen Geld und gute Worte Spitzeldienste leistete. Denn wer außer ihm war so genau informiert über das Treiben und Lassen des Abschaums der Bevölkerung? Natürlich nützte er dieses Vertrauen der Behörde dazu aus, Erpressungen aller Art an seinesgleichen zu begehen. Schamlos drückte er den Leuten, um sich dessen später zu rühmen, die Kehle zu, er war einer der reichsten, aber auch bestgehaßten Menschen der Stadt. Er war stolz auf seine selbst geschaffene Existenz und machte mir gegenüber kein Hehl aus ihr. Er hatte übrigens auch einen Teil des Tiermaterials an uns geliefert und nicht schlecht dabei verdient.

Man hatte ihn, als er plötzlich unter Schüttelfrost und blutig gefärbten Urinausscheidungen erkrankt war und als, sich auf seinen schwammigen, flachen Zügen eine Art gelblicher Färbung gezeigt hatte, gegen seinen Willen in das Gelbfieberkrankenhaus eingeliefert. Er war in heller Angst, man könne sein Haus in seiner Abwesenheit anzünden und er könne, werde sich inzwischen hier anstecken. Er tobte, schrie, spuckte unaufhörlich, wollte sich trotz seines offenbar schwerkranken Zustandes nicht im Bette halten lassen und brachte durch sein tumultuöses Wesen das für Schwerleidende bestimmte, ruhige, traurige Haus in die größte Verwirrung. Brüllend wie ein bei lebendigem Leibe im Stall an der Kette verbrennender Stier wollte er gegen den Direktor, gegen die alten Krankenschwestern los, und es bedürfte meiner ganzen ruhigen Überredungskraft, ihn wenigstens dazu zu bringen, daß er sich gründlich untersuchen ließ.

Ich hab es schon gesagt, daß ich sowohl bei Kindern als selbst bei tobenden Kranken eine gewisse Suggestionskraft besaß. Auch hier versagte sie nicht. Sie lag wohl in meinem Blick und in meinem wortarmen, aber willenskräftigen Wesen. Er fügte sich mir, sich nur mit größter Mühe bezwingend. Seine Glieder zuckten immer noch. Seine Blicke rollten, als spiele er einen Bösewicht auf der Dilettantenbühne, und er schleuderte seinen mit öligen, glatt anliegenden Haaren besetzten, nach rückwärts fliehenden Schädel auf der Lagerstatt unter meinen Händen hin und her. Kaum hatte ich aber die ersten untersuchenden Griffe getan, als er sich wie ein magnetisierter Hahn zusehends beruhigte. Ja, er grinste mich an, packte meine Hand, sah mir ins Gesicht und legte los. Er hielt mich für seinesgleichen, hatte sofort erfaßt, daß ich nicht zu den berufsmäßigen Ärzten des Hospitals gehörte, sondern ein Strafgefangener war (wie er selbst einer gewesen) und daß ich mich der unverdienten Protektion der Behörde erfreute (genau wie er). Auch er war ein halber Arzt, hatte seine Erfahrungen in achtzehn Jahren auf der Insel gemacht, wo es stets mehr Kranke als Gesunde, mehr Sterbende als Neugeborene gab. Denn die Gegend war nun einmal nicht gesund. Er nahm mich beim Handgelenk, führte meine Hand unter seinen linken Rippenbogen und ließ mich daselbst einen mäßig harten, bis in die Mitte der linken Oberbauchseite vorspringenden Geschwulstkörper unter der fieberheißen, dunkel behaarten Haut anfühlen.

Anfangs hatte er gewütet, hatte sprudelnd, Speichel im Schwung verspritzend, seine Angaben gemacht, hatte die Fäuste geballt und mit den langen, rissigen Nägeln in das weiche Holz des Nachtkästchens Furchen eingegraben. Jetzt aber hatte er, schnell beruhigt, schweigend meine Hände geführt.

Er war ein Verbrecher, ein gemeiner Schädling der menschlichen Gesellschaft, aber keineswegs dumm und selbst bei einer Temperatur von über vierzig Grad Herr seiner selbst.

Und er hatte recht. Er litt an allem, nur nicht an Y. F. Es war aller Wahrscheinlichkeit nach eine schwere Tropenmalaria, die ihn krank gemacht hatte, und zwar, wie sich herausstellen sollte, nicht der erste und nicht der letzte Anfall. Was tun? Ihm dies loyal zugestehen? War denn er loyal, begriff er überhaupt, was dies loyal bedeutete? Er war nicht unerfahren in tropischen Krankheiten, ich sagte es schon, denn wer lange Jahre unter diesem teuflischen Himmel im Dunstkreis der Dschungeln, in einem Kreis einander ablösender und nebeneinander einträchtig bestehender Seuchen gelebt hat (wenn man das noch leben nennen kann), weiß mit allen Plagen dieses gesegneten paradiesischen Landstriches Bescheid. Was er meiner Hand zu fühlen gegeben hatte, das hatte er für die infolge schwerer Malaria geschwollene Milz gehalten, und das war sie auch!

Nochmals, was tun? Durfte man ihn entlassen? Nun war er, ob mit Recht oder mit Unrecht, innerhalb des Y. F.-Kordons, ließ man ihn hinaus, wer garantierte den Hütern der Gesundheit hierin der Stadt, daß er die unbekannten Keime nicht etwa unter dem schwarzen Rande seiner rissigen Nägel, die sich in das Holz des Nachtkästchens eingebohrt hatten, mit sich in die Stadt unten hinausschleppte? Wenn es Bakterien waren, konnten sie sich nicht gerade hier versteckt gehalten haben und allen Desinfektionsversuchen entgangen sein? Fragezeichen über Fragezeichen.

Und ihn hier behalten? Auf seine Gefahr? Wer garantierte ihm , der doch auch ein Mensch war und dessen moralische oder unmoralische Qualitäten bei seinem Leiden und dessen Beurteilung niemals mitsprechen durften, daß er sich hier nicht wirklich an Y. F. ansteckte? Durfte man sagen: Sieh, du alter Wucherer, Menschenlieferant a. D., Tierlieferant, Blutsauger, du gemeines Vieh, du zwar bestrafter, aber keineswegs gebesserter Verbrecher, du geschwollene Zecke am kranken, armen, geplagten Leibe der bürgerlichen Gesellschaft, hörst du, wir, die hier im Krankenhaus Dienst tun, sind genauso der Gefahr des Y. F. ausgesetzt wie du. Es opfern sich: der Generalarzt Carolus, ein hoher militärischer Würdenträger, unbescholten, ein Mann des Geistes und der Wissenschaft, hat sich ohne weiteres dem öffentlichen Wohl zur Verfügung gestellt, nicht bedenkend, daß er Frau und Kind und Kindeskind hinter sich zurückließ. Desgleichen Walter, ein Mann weit über dem Durchschnitt, Gelehrter und Menschenfreund, ebenfalls Gatte und nicht weniger als fünffacher Vater, ein Mann von höchstem Wert, ebenso als Mensch wie als Wissenschaftler? Vom Direktor des Hauses, dem Anstaltsgeistlichen und den opferwilligen, völlig selbstlosen Schwestern des Hauses ganz abgesehen, sie alle, von der alten Oberin bis zu den Wäscherinnen, die die beschmutzten Laken und Pyjamas der Y. F.-Kranken reinigen müssen, denn einer muß sie ja doch reinigen, und bis zu uns, March und mir, wir alle nehmen die Gefahr des Y. F. auf uns, tue du doch desgleichen und folge uns nach!

Was tun, wiederhole ich. Das, was ich eben gesagt habe, konnte man jedem philanthropisch angehauchten Menschen in seinem blöden Dusel, ich sage es offen, zumuten. Diesem Manne nicht. Er war im Recht, das war sicher. Man hatte ihm unrecht getan. Denn man hätte ihn ohne genaue Untersuchung nicht zwangsweise hierher transportieren (und inzwischen seine Habseligkeiten durchschnüffeln) dürfen.

Aber geschehen war geschehen. Ich zuckte die Achseln, machte mich von seinen ordinären Anbiederungen, plumpen Beteuerungen und Schmeicheleien frei und zog ab. Ich fragte den Hospitaldirektor. Dieser war zu keiner Entscheidung zu bringen (obwohl sich Fälle wie dieser schon oft hier oben ereignet haben mußten), sondern er gab die Entscheidung weiter an Carolus. Dieser hätte nicht Carolus sein müssen, wenn er sich zu einem eindeutigen, mannhaften Entschluß hätte durchringen können. Also weiter an Walter. Auch dieser Mann, der das Wunschbild meiner jungen Jahre gewesen war, dem ich alles zugetraut hatte, was mir selbst an ungebrochenem Lebenswillen und positiver Haltung und Glauben fehlte, sollte diese meine hochgesteckte Meinung von seiner Willensstärke heute bitter enttäuschen. Er schwieg, legte die Spitzen der Zeigefinger aufeinander, sah uns aus seinen grauen, ernsten, männlichen Augen an und machte sich dann, ohne ein einziges Wort gesprochen zu haben, wieder an die Durchforschung seiner Präparate. Er hatte das Laboratorium mit allem Nötigen hier eingerichtet, und es herrschte mustergültige Ordnung. Wenn es sich bloß um seine Person gehandelt hätte, er wäre vielleicht schnell zu einer Entscheidung gekommen, denn er gehörte zu den glaubensstarken, heroischen Männern, denen man große Aufgaben stellen darf, die sie erfüllen, soweit es sie selbst betrifft. Aber nicht, wenn es andere betrifft.

Aber er zog sich auf sich zurück, zuckte die Achseln, mit einer zerstreuten Bewegung streifte er seinen breiten, goldenen Ehering ab und tat ihn in die Brusttasche seines weißen Kittels zwischen die Blätter eines in rotes Leder gebundenen Notizbuches. Plötzlich erinnerte ich mich bei dieser unbewußten, mechanischen Bewegung Walters, daß ich noch immer die Schachtel mit den Moskitos (Stegomyias) des Magisters v. F. bei mir hatte. Ich machte der Diskussion ein Ende und bat Walter um die Erlaubnis, die Moskitos aufziehen zu dürfen. Er hatte nichts dafür und nichts dagegen, und ich machte mit Marchs Hilfe, der ebenfalls schweigend der Diskussion gefolgt war, ein breithalsiges Gefäß aus Steingut, oben mit dichter Gaze verschlossen, für die niedlichen Libellen zurecht. Dann kehrte ich zu meinen drei Kranken zurück.


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