Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XVI

Wenn mich in dieser Zeit, (ich sage nicht schwer, ich nenne sie nicht fürchterlich, nicht teuflisch, die Worte drücken das wesentliche nicht aus), wenn mich in der Zeit nach dem Abtransport Marchs etwas aufrechterhielt, war es das Verhalten des Generalarztes. Er nahm sich meiner an, wie ich es nicht verdient hatte. Ich selbst hatte ja der sogenannten Menschlichkeit keinen Einfluß auf meine Handlungen eingeräumt. Ich war in meiner nicht grausamen, sondern nur folgerichtigen Härte, welche die Sache erforderte, bei dem armen March vielleicht, wer weiß es? zu weit gegangen. Ich hatte nach den Worten der Schrift versucht, das Auge, das mich ärgerte, auszureißen. Durfte ich über Schmerzen klagen? Um so mehr überraschte mich das Benehmen des Carolus, dieses in seinem ganzen Wesen, in allen seinen Zielen kleinbürgerlichen, beschränkten und pedantischen Mannes, der aber in unserer Sache aufgegangen war und der ihr zuliebe endlich das opferte, was ihm aufzugeben am schwersten fiel, sein Geld. Aber davon später.

In den ersten Tagen bemühte er sich, aus der Entfernung alles nur Erdenkliche für den todkranken March zu tun. Er war jetzt ebenso hartnäckig am Fernsprecher wie es früher die Frau Walters gewesen war. Er ruhte nicht, bis er nicht an jedem Tag zwei- bis dreimal genaue Nachrichten über das Befinden des Selbstmordkandidaten erlangt hatte. Man hatte drüben von einer Operation abgesehen. Ich weiß nicht, in welchem Zustande der bemitleidenswerte Junge im Sammelhospital angelangt war, ob so prächtig aussehend – oder so sichtlich todgeweiht, daß die Herren dort keinen Eingriff mehr unternehmen wollten. Sie mußten entweder an eine wunderbare Selbstheilung geglaubt haben oder ihn als gänzlich aussichtslosen Todeskandidaten bloß mit schmerzstillenden Mitteln versehen und im übrigen in Ruhe gelassen haben.

Das Schicksal, (nennt es Gott oder Teufel oder Natur, – das gleiche bleibt es!), erwies sich mir als mild. Das Schicksal hatte die kleine Portugiesin von der kaum betretenen, schönen Erde abtreten lassen. Das Schicksal hatte den großen Walter mitten im Beginn seiner großartigsten Leistungen zum Verstummen gebracht. (Ich hatte seine hinterlassenen Notizbücher studiert, in denen wissenschaftliche Anregungen und ärztliche Erkenntnisse von unabsehbarem Wert angedeutet waren, zu deren Ausführung er unter dem Drucke der Familiensorgen nie gekommen war und die sein früher Tod abschloß.) Dafür hatte das Schicksal auf dem Schiff den Schweinepriester Soliman gerettet, hatte hier oben den aller Welt zur Last fallenden Hafenarbeiter mit dem Geschenk der Genesung vom Y. F. bedacht, hatte die Witwe Walters und seinen nachgeborenen Sohn, (die Mutter ließ ihn denn auch auf die Namen Walter-Posthumus taufen), am Leben gelassen. Und jetzt war der, wie es doch schien, tödlich verwundete March auf dem Wege der Besserung! Er hatte das große Los gezogen, sich wahrscheinlich bloß den Rand der Milz durchschossen und sollte schnell genesen.

Ich kann nicht beschreiben, mit welchen Gefühlen ich die von Tag zu Tag weniger pessimistisch lautenden Nachrichten von seinem Krankenlager empfing. Endlich trat (welch prosaischer Abschluß seiner von Leidenschaft eingegebenen Tat!) die erste normale Stuhlentleerung ein. Damit war der junge Mensch außer Gefahr. Carolus brachte es dazu, daß March nach ungefähr zwei Wochen selbst an den Telephonapparat des Krankenhauses kommen konnte. Carolus sprach mit ihm. March konnte offenbar nur leise sprechen, Carolus, dessen Gehör auch nicht mehr das beste war, konnte ihn nicht immer sofort verstehen, und so hörte ich aus der Zelle seine langweilige, aber sehr beruhigende Stimme immer wieder mit den stereotypen Worten herausdringen: »Wie? Was? Wie?« Aber March war nicht nur auf dem Wege der Heilung, er hatte sogar seinen alten Galgenhumor wiedergefunden, und wenn ich auch nicht hören konnte, was March dem Carolus erzählte, so sah ich ein sehr beruhigendes Schmunzeln in den ledernen Zügen des alten Herrn. Dann bemerkte Carolus, daß ich lauschte. Er war verstimmt. Sein Gesicht umzog sich. Er winkte mir – zu kommen? Nein! nur mich an meine Arbeit zu machen. Er wechselte noch einige, anscheinend sehr wichtige Worte mit dem Rekonvaleszenten. »Wie?!« fragte er dann mit erhobener Stimme, »warum denn nicht? Ist das Ihr Ernst?«

Dann trat er aus der Zelle heraus und tat die Tür sehr sachte und vorsichtig zu. Er sah mich nicht an und sprach sich mir gegenüber weiter nicht aus. Am nächsten Tage erwartete ich vergebens das Schrillen des Telephons. Carolus erwartete es nicht. Langsam begriff ich, was der Inhalt der Schlußunterredung gewesen war. Carolus hatte gefragt, ob der wiedergenesene March zu uns zurückkehren, ob er mich wiedersehen wolle. March mußte mit »nein« oder »ich weiß nicht« geantwortet haben. Er wollte nicht zurück.

Ich versuchte es mit Humor zu tragen. Mit Philosophie. Vielleicht ist Humor nichts anderes als Philosophie und Philosophie im Grunde nichts als Humor. Aber echte Philosophie und echter Humor sind selten. Genug davon. Jetzt komme ich zu der bereits angedeuteten Änderung in der Haltung des Carolus, die ihn die Schnüre seines Geldbeutels lockern ließ.

Es schien, daß der alte Carolus den geistigen Lebensinhalt, der mir blieb, mit allen Mitteln zu fördern gedachte, indem er zum erstenmal, seit ich ihn kannte, auch davon sprach, seine bedeutenden Geldmittel zur Verfügung zu stellen.

Wir mußten unsere Versuche jetzt in größerem Umfang weiterführen. Dazu war das Y. F.-Haus, das sich jetzt mit »echten« Y. F.-Kranken zu füllen begann, nicht der richtige Ort. Unsere Versuche hätten in dem normalen Betrieb des Krankenhauses störend gewirkt, und umgekehrt hätte uns der gewohnte Betrieb des Hauses den Platz für unsere experimentellen Kranken fortgenommen. Das war sonnenklar.

Hätte man aber nicht ebensogut sagen können »Genug der Experimente! Genug der Greuel! Genug der Toten!«

War nicht das Schicksal des armen March ein Wink des Schicksals, das genügend auf die Probe gestellt war? Hätte man sich nicht mit der Pflege der auf natürlichem Wege mit dem Y. F. geschlagenen Menschenkinder begnügen können! Unnütze Fragen. Wir wußten noch viel zu wenig.

Unser Kollektiv war, da auch der Geistliche infolge seiner jetzt außerordentlich angespannten beruflichen Tätigkeit ausfiel, auf uns beide, Carolus und mich, zusammengeschrumpft. Aber wir ergänzten uns. Wir durchschauten einander. Wir tolerierten einander. Wir waren uns in unserem Endziel einig. Wir sagten auf diese Fragen nein, oder besser noch, wir stellten sie ernstlich gar nicht auf. Wir wollten weiter. Von der Ätiologie zur Therapie oder, gemeinverständlich ausgedrückt, vom Wissen zum Handeln. Vom Mikroskop zur Heilmethode.

Wir erhielten Nachricht, daß die sogenannte amerikanische Kommission, der übrigens auch einige hochbegabte Japaner angehörten, nicht ohne Erfolg gearbeitet hatte. Einerlei, worin dieser Erfolg der konkurrierenden Expedition bestand, unsere Arbeit mußte entweder die Resultate der amerikanischen Kommission widerlegen oder sie bestätigen.

Man durfte sich nicht mit dem Erreichten begnügen. Man mußte der Wahrheit so nahe zu kommen trachten, als es unsere Kraft erlaubte.

Ich hatte bald wieder meine alte Energie und Arbeitsfreude, (richtige, herzhafte Freude war es, und es blieb meine einzige), einzusetzen, Carolus hatte auch noch sehr bedeutende Geldmittel und seinen Namen, seinen Rang, seine militärische Stellung, seine makellose Vergangenheit in die Wagschale zu werfen. Er tat es jetzt ohne Schwanken.

Man hätte vielleicht glauben sollen, die staatliche Verwaltung hätte uns in unserem Bestreben aus allen Kräften unterstützt. Nein. Der Posten des Gouverneurs war noch nicht besetzt. Man wollte nicht ja und nicht nein sagen. Die Strafverwaltung hatte ihre eigenen Sanitätsreferenten. Die Herren am grünen Tisch hielten zwar sehr geheimnisvolle Sitzungen ab, der oberste Sanitätschef der Gefangenenverwaltung erstattete Gutachten über die letzte Welle der Y. F.-Seuche, mit Statistiken, die des alten Carolus würdig waren. Aber er ignorierte aus Standesdünkel unsere Existenz. Er lebte und arbeitete zwanzig Jahre hier und hatte nichts Nennenswertes gefunden. Was wollten dann wir?

Wäre nicht die alte Rivalität zwischen Kolonieverwaltung (Ministerium des Inneren) und Gefangenenverwaltung (Justizdepartement) gewesen und hätte nicht Carolus beide gegeneinander ausgespielt, dann wäre hinter unsere Tätigkeit jetzt der Schlußpunkt gesetzt worden. Man hätte uns dann nicht nur nicht gefördert, sondern matt gesetzt. Als aber Carolus zu allem anderen auch seine bedeutenden Geldmittel einsetzte und diese sicherlich zum Teil auch für »vermittelnde Zwecke«, also für eine Art Bestechung verwandte, so wurde der Weg wieder frei.

Wir zögerten nicht lange, sondern begannen – zu handeln? nein, erst recht zu überlegen und ein neues, umfassendes Arbeitsprogramm zu entwerfen, um definitive Resultate zu erreichen, an denen kein objektiver Mensch zu rütteln vermochte. Gut.


 << zurück weiter >>