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XIII

Ich wurde aber noch lange nicht der, der ich vor meiner Tat gewesen war.

Ich kehrte aus der Beobachtungsabteilung in das Gefängnis zurück.

In dieser ganzen Zeit, das heißt angefangen von meiner Rückkehr ins Gefängnis bis zu meiner Verurteilung, war ich von einer geistig-seelischen Lähmung befangen. Möglichst wenig von Vergangenheit, möglichst nichts von Zukunft, Hauptsache war die Gegenwart, der Augenblick. Es mag sein, daß das Leben, wie ich es gezwungenermaßen jetzt führte, die Ursache dieser Lähmung war. Nur unmittelbar Wahrnehmbares beschäftigte mich – was ich aus den Nachbarzellen hörte, wie mir und den anderen die Stunden des Tages vergingen, welcher Art die Kost war, die ich bekam, wie ich die Nächte verbrachte, welche Besuche ich empfangen durfte, was mein Bruder mir mitbrachte etc. etc.

Mein Bruder beschenkte mich eines Tages mit Blumen, hochgezüchteten Edel-Wicken, wenn ich mich recht entsinne. Früher hatte mich alles ästhetisch Schöne begeistert, ich war dem Schönen, dem Vollendeten, dem Fleckenlosen wie magisch verfallen gewesen – was man mir angesichts meiner Ehe und meines Berufes vielleicht nicht zutrauen wird –, aber es war trotz allem so. Jetzt erregten zwar die blaßrötlichen, in seidenartigem oder cremeartigem Glanz schimmernden Blumen mein Interesse, aber in ganz anderer Art. Ich begann sie lang hinzulegen, sie mit den Nadeln festzustecken, mit denen die Seidenpapierhülle zusammengehalten gewesen war, sie dann sorgfältig zu zergliedern, zu sezieren, wobei ich mich in Ermangelung eines Messers des langgewachsenen Nagels meines rechten kleinen Fingers bediente, den ich zu diesem Zweck während der Unterhaltung mit meinem verblüfft zusehenden Bruder an der Wand möglichst scharf und spitz zugeschliffen hatte.

Die Anatomie der Wickenblüte und des Stengels, die merkwürdige Verteilung der Gefäße der Pflanze (auch eine Pflanze hat Gefäße wie ein Tier) – damit hätte ich mich stundenlang beschäftigen mögen. Mein Anwalt, der den Bruder an diesem merkwürdigen Tage bei mir ablöste, war weitsichtig, hatte ein Monokel. Ich bemächtigte mich dessen und hatte eine nicht einmal üble Lupe in Händen. Ich verbrachte also einen weniger stumpfsinnigen Abend und eine friedlichere Nacht als sonst. Das ist nur ein Beispiel für die Wohltat, die mir mein Bruder mit seinen Besuchen erwies.

Meinem Bruder, nicht meinem Vater gelang es also allmählich, mich von dieser Art Umnachtung zu befreien –. Es kann sein, daß ich unmittelbar nach meiner Tat einer solchen Starrheit bedurfte, um überhaupt weiterleben zu können.

Es wäre mir aber auch jetzt, in dieser weniger kritischen Zeit, nicht gerade absurd erschienen, mir das Leben zu nehmen, und ich glaube, es wird nur wenige Rechtsbrecher geben, die vor einem Eingriff in das eigene Leben und Dasein grundsätzlich zurückweichen. Mehr als ein Mörder oder Einbrecher oder Wollustverbrecher würde, wenn man es ihm genügend leicht machte, seinem Leben freiwillig ein schmerzloses Ende setzen. Ließe man in den Zellen die Gashähne in erreichbarer Nähe, es würde der sogenannten Justiz manche Arbeit und oft sehr unfruchtbare Arbeit erspart. Aber keineswegs kann man unmittelbar nach dem jähen Umschwung von dem Augenblick der Tat, der höchst aktiv ist, bis zu der ersten Nacht in der Zelle, bis zu diesem schauerlich passiven, kastrierten, entmannten Dasein, auf eine derartige, glückliche Lösung hoffen. Nachher kommt erst das Stadium, das nur auf den aktuellen Gegenwartsmoment eingestellt ist und das ich jetzt hinter mir hatte. Und dann schließlich beginnt die Zeit des Wiedererwachens, die Rückkehr zu dem alten Adam, und erst dieser »alte Adam« begreift die schauerliche Wendung des Schicksals und möchte sich nur zu gern ihrem doch unentrinnbaren Zwange entziehen.

Vom Standpunkt der sogenannten Gerechtigkeit ist dies von Wichtigkeit. Die Verhandlung soll noch einmal alle schuldhaften Lebensmomente dramatisch aufrollen, die Tat soll in Gedanken noch einmal begangen werden, man will sie nicht begraben, ebenso, wie sich die Gerechtigkeit genarrt vorkommt, wenn ein Verbrecher sich selbst erhängt, bevor das Urteil erfolgt ist! Man will die Tat auferstehen lassen, durch das Geständnis des Täters, durch das Bekenntnis seiner Identität, ja sogar seiner Reuelosigkeit, und dann, dann erst soll zum Troste aller anderen die büßende Negation der Tat, die praktische Reue, das heißt die »richtige« Strafe des gebrochenen Sünders folgen.

Mein Bruder (ich kann es nicht oft genug wiederholen, damit man die Illusionen versteht, die ich an ihn knüpfte) mein Bruder war es, der mich zum Leben zurückbrachte. Und warum soll ich es leugnen, er tat mir wohl. Nur zu wohl. Ich wartete mit Sehnsucht auf sein Kommen, ich hörte gerne seine Stimme. Es war Spätsommer, es war immer noch sehr warm, besonders in der engen, nur durch ein kleines Fensterloch mit der Außenwelt verbundenen Zelle. Er schwitzte, das Grübchen über seiner Oberlippe, im Schatten der etwas stämmigen Nase, füllte sich ihm mit kristallklaren Schweißperlen, die er mit verlegenem Lächeln fortwischte, dabei die breiten Schultern reckend und tief aufatmend. An seiner nicht gerade sehr hohen Stirn wuchs ihm (nie hatte ich das früher bemerkt und sicherlich hatte er doch diese Eigentümlichkeit seit Kindesbeinen) eine Unmenge goldblonder Härchen, mit einer kleinen Spitze nach unten zu, ein ziemlich dichter Flaum, der besonders bei schräger Beleuchtung in metallischem Flimmern erglänzte, ähnlich dem Glanz, den reife Felder von der Ferne bieten. Seine Zähne, die er beim Lachen (er konnte noch lachen, wenn auch jetzt, bei mir, nur selten!) entblößte, waren fest, durch kleine Lücken geschieden, gelblichweiß, niedrig, das gesunde hellrote Zahnfleisch reichte tief hinab. Das dunkelblonde Haar trug er wie eine Bürste hinaufgekämmt.

Auf seiner Stirn, unmittelbar unter den blonden Flaumhärchen, zogen sich aber schon recht tiefe Falten. Es wären aber keine Sorgenfalten, sagte er, als einst die Rede darauf kam, sondern sie kämen davon, daß er sich in jeder freien Minute mit seiner Frau und seinen Gören im Freien, besonders gern in praller Sonne aufhielte, und da er hier die Augen zusammenkniff, hätten sich ihm die Falten zwischen den Augen über der Nasenwurzel tief, viel zu tief für sein Alter, eingegraben. Ich sah es, wenn wir gemeinsam über ein Buch oder eine Zeitung gebeugt saßen und lasen. Beide stumm und sorgenvoll.

War es ein Wunder? Er mußte angesichts seines kleinen Gehalts und seiner schnell anwachsenden Familie Nahrungssorgen nicht nur vom Hörensagen kennen. Mein Bruder hatte ebensowenig Geld wie ich. Das vierte Kind war unterwegs. Mein Vater lachte nur darüber. Er gäbe kein Geld, sagte er, vor seinem Tode, damit sich keine Kinder nach ihm richteten.

Mein Bruder war oft bedrückt. Die Sorge, die Frau könne durch die Aufregung meines Prozesses »verfallen«, das heißt, das werdende Kind durch eine Fehlgeburt verlieren, beschäftigte ihn mehr, als er es merken ließ.

Eines Tages hatte ich mich über eine Stunde lang mit meinem Verteidiger über meine Lage ausgesprochen. Auch der Verteidiger lebte in einem Gegenwartsrausch, wenn ich so sagen darf, ihn interessierte das Vergangene sowie das Zukünftige nur insoweit, als es mit der gegenwärtigen Sachlage in Zusammenhang stand und soweit es in meinem Falle den kommenden Prozeß und damit auch seinen Ruf als »fabelhafter« Kriminalverteidiger beeinflußte.

Er setzte also, was unseren Verkehr sehr erleichterte, alles Tatsächliche als gegeben voraus. Er fragte weder zuviel noch zu wenig. Er grub nicht in mir herum, stichelte auch nicht. Er machte sich keine Gedanken über meine Tat, schnüffelte nicht nach ihren psychologischen Motiven, sondern sprach nur darüber, wie die Tatsachen auf das Gericht und die Geschworenen wirken müßten – mit einem Wort, er war mehr aktueller Journalist als Ewigkeitsphilosoph, mehr der ruhige Naturwissenschaftler einer pathologischen Natur als ein Deuter und Richter des verletzten Rechtsgedankens. Er sah, im Gegensatz zu allen anderen, meine Lage als durchaus nicht verloren an.

Mein Bruder quälte mich oft mit dummen Fragen: um Gottes willen, wie konntest du ... ein Mensch, wie du!, etc., es fehlte nur noch, daß er in mir, wie einst mein senil schwachsinniger Patient, ein »liebendes Herz« entdeckte. So täuschte er sich in mir. Aber täuschte ich, weder senil, noch schwachsinnig, wie ich war, mich nicht auch in ihm? Nur der Verteidiger wunderte sich über niemanden und nichts. Denn, da »es« geschehen war, hatte es geschehen müssen. Tatsachen = Gesetz, Wirklichkeit = Notwendigkeit.

Der Tod meiner Frau konnte, wenn es nach ihm ging, den Geschworenen, Männern von mäßigen Verstandeskräften, als Folgen einer groben Fahrlässigkeit meinerseits hingestellt werden. Ich hätte, darauf baute er sein System, seinen Plan auf, meiner Frau statt der verlangten schmerzstillenden Injektion aus unbegreiflichem Versehen eben eine andere Injektion verabreicht, hätte mich in der Dunkelheit, der Aufregung geirrt. Daher mein kopfloses Verhalten nachher. Wenn man ihm glaubte, war ich stets ein schlechter Arzt gewesen und hatte aus guten Gründen meine Praxis vernachlässigt – je weniger ich als Arzt unternahm, desto eher war ich ein Wohltäter der Menschen. Ich hatte mich eben in tragischer Weise »geirrt«.

Möglich war seiner Ansicht nach alles. Meiner Überzeugung nach war aber nur das wirklich Vorgefallene möglich. Die Tatsachen mußten einen Sinn haben, wenn auch einen zerstörenden, bösen. Eben den, der sich in den Folgen ausgewirkt hatte, die wieder zu wirkenden Ursachen wurden. Aber er rechnete mit meinem Selbsterhaltungstrieb und meinte, während er in Gedanken mein (sein) Monokel einklemmte, diese Rechnung habe nie getrogen, ich würde den zusammenbrechenden, reueerfüllten Sünder, den tolpatschigen Arzt, der sich bei seiner teuren Gattin vergriffen hat, vor Gericht spielen, um mich zu retten.

Was gibt es denn auch Natürlicheres, als daß ein Mann, um dessen Kopf es geht, von sich aus alles Menschenmögliche versucht, um die Todesstrafe von sich abzuwenden? Aber über diese Rechnung später. Jetzt beschäftigten uns noch andere Rechnungen, die mittlerweile eingelaufen waren, Forderungen meiner alten Gläubiger mit verhältnismäßig großen Summen, aber auch verhältnismäßig kleinen Rechnungen für die Miete unserer Wohnung, das Leichenbegräbnis meiner armen Frau, den Platz auf dem Kirchhofe, andere laufende Summen für den Lohn der Dienstpersonen, für die Beleuchtung, Telephon etc.

Mein Vater wollte nicht mehr mein Vater sein. Schwiegersohn und Schwiegertochter zahlten nicht einen Pfennig. Man konnte sie nicht dazu zwingen. Auch aus dem pathologischen Institut kamen an die Kanzlei meines Herrn Verteidigers allmonatlich Rechnungen wegen des Unterhaltes der Versuchstiere. Als der Verteidiger eines Abends mich verlassen hatte und mein Bruder erschien (ich hatte dank meines Namens und meiner früheren sozialen Stellung weit mehr Sprecherlaubnis als die meisten anderen) bot ich dem guten Mann die Versuchstiere, Meerschweinchen, Hündchen und einige Ziegen und Affen als kleine Privatmenagerie für seine Jungen an. Wie er strahlte, daß ich daran gedacht hatte! Ich hatte früher niemals meinen Neffen das geringste als Geschenk zukommen lassen. Aber dann bekam er Bedenken wegen der Ansteckungsgefahr und der Erhaltungskosten. Wir überwiesen die Tiere dem zoologischen Garten der Stadt. Er schien glücklich darüber zu sein, daß er sie dem Vivisektionstode entrissen hatte. Er hatte ein gutmütiges Naturell. Wie konnte er jetzt, da er den Optimismus des Verteidigers teilte, lachen, selbst hier – selbst in meiner Nähe! Er steckte mich an und machte mich einen Augenblick lang froh. Ich kopierte sein Lachen – und darüber lachte er noch mehr. Ich sezierte an diesem Abend (es war schon gegen den Herbst) seine Blumen nicht. Nachher war der Abend ruhig und der Schlaf tief.


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