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XV

Ich hatte niemals gespielt mit dem jungen Menschen, der jetzt ohnmächtig, leichenblaß, bei steinhart gespannten Unterleibsmuskeln nur noch oberflächlich mit der Brust wie eine Frau atmend, vor mir auf den Fliesen des Laboratoriums lag. Ich hatte mit ihm nie gespielt, ich schwöre es bei dem Heiligsten, was es für einen Menschen meiner Art geben kann, ich schwöre es bei mir selbst, daß ich mit ihm nie experimentiert hatte. Eher hatte er mit mir experimentiert: er hatte mich auf die Probe gestellt, wie viel er mir wert sei. Konnte er denn jemals glauben, daß er durch seinen Selbstmord mein Leben und meine Arbeit erleichtere? Er hatte mein Gott sein wollen, wie ich der seine war. Aber ich war nur ein Mensch, wie es deren zu viele gibt.

Er hatte beim Mißlingen seines Experiments die Lust am Leben verloren und sich davonmachen wollen. Ich sah ihn einen Augenblick mit tränenumflorten Augen (so nennt man es wohl) an. Dann tat ich das Notwendige.

Der Puls war zwar fadendünn, sehr beschleunigt, zwischen neunzig und hundert, aber doch noch fühlbar und er blieb so. Das Gesicht zeigte jenen entrückten, unnatürlichen Ausdruck, den man bei schweren Unterleibsverletzungen im Felde oft genug gesehen hat und den der Arzt Bauchgesicht, facies. abdominalis, nennt. Das Herz war es nicht, woran er starb, der Unterleib war es. Ironie liegt mir jetzt ferne. Die Tatsachen sind, wie sie sind. Ich schnitt ihm mit aller Vorsicht die Kleider vom Leibe. Viel hatte er nicht an. Er stöhnte dumpf, schien plötzlich tief bewußtlos. Die Einschuß- und Ausschußöffnungen durch das kleinkalibrige Geschoß waren ungefähr gleichgroß, die Einschußöffnung war durch Pulverreste und Wäschezunder verunreinigt, offenbar war der Schuß aus unmittelbarer Nähe abgegeben worden. Es war ihm also ernst gewesen.

Nicht minder ernst war es mir und dem fassungslosen Carolus, der den guten Jungen im Laufe der letzten Zeit fast ebenso liebgewonnen hatte wie ich, die Rettung mit allen Mitteln zu versuchen. Carolus, der mich als Chirurgen über Gebühr schätzte, (denn er wußte ja nicht, mit welchen Umständen es bei der schwierigen Entbindung zugegangen war) riet mir, sofort den Versuch einer lebensrettenden Operation zu machen. Aller Wahrscheinlichkeit waren die Darmwände durch das Geschoß durchbohrt, es konnte auch ein Blutgefäß im Leibe getroffen sein. Ich dachte nach und schüttelte den Kopf. In keinem Falle durfte ich mir zutrauen, hier den Versuch einer Operation zu riskieren. Ich hatte keinen sachkundigen Helfer. Ich hatte keinen mehr. Eine schwere Entbindung läßt sich unter Umständen auch von einem wagemutigen, vom Glück begünstigten Arzt improvisieren; eine technisch komplizierte Operation, wie es die Eröffnung der Bauchhöhle ist, niemals. Ich sagte das dem Generalarzt.

Er wollte mir nicht recht geben. Möglicherweise hatte er Angst, die Tatsache offenkundig werden zu lassen, daß er den seiner Obhut anvertrauten Sträfling nicht besser beaufsichtigt hatte, so daß dieser sich die todbringende Waffe hatte verschaffen können. Auch mein Schicksal stand auf dem Spiel. Würde man mich, nachdem ein Mord mit der Waffe (auch Selbstmord bleibt Mord) vorgekommen war, weiterhin unbewacht lassen? Hatten March und ich ihre »Freiheit« hier verdient?

Es gab aber für mich keinen Konflikt. Die Lage war eindeutig. Ich zog die Konsequenzen, indem ich dem armen March, der eben stöhnend erwachte, einen aseptischen Verband anlegte, ihm eine Kampferspritze nach der anderen verabreichte und Carolus bat, an das Haupthospital der Sträflingsverwaltung zu telephonieren, wo ein einigermaßen moderner Operationsraum und eine Röntgenabteilung erst vor wenigen Jahren geschaffen worden waren, nachdem ein wissensdurstiger, mutiger und hochherziger Journalist die furchtbaren Mißstände auf der Insel im allgemeinen und in der ärztlichen Versorgung der Deportierten im einzelnen in schaudererweckenden, aber genialen Reportagen aufgedeckt und der entsetzten Öffentlichkeit mitgeteilt hatte.

Carolus war froh, daß er einen anordnenden Menschen neben sich hatte, er befolgte alles, pedantisch genau. Mir blieb nur noch übrig, dem bedauernswerten Jungen, der aus der Bewußtlosigkeit erwacht war, eine schmerzstillende Injektion zu verabreichen. Möglicherweise war es der letzte Dienst in diesem Leben, den ich ihm erweisen durfte.

Die Wirkung schien auffallend spät und schwach einzutreten. War denn der arme Teufel an Morphium gewöhnt? Die Untersuchung unseres Medikamentenvorrates bestätigte diesen Verdacht. Nicht nur Alkohol, auch Rauschgift! Auch darin war der junge March der Sohn seines Vaters gewesen. Er war längst aus scheinbar unlösbaren Schwierigkeiten in das Morphium geflüchtet. Und ich hatte nichts gesehen! Dem Beobachter, dem Freunde war alles entgangen. Er hatte sich längst schon aufgegeben. Und doch, was hilft es, schamhaft den Schleier des nüchternen, objektiven Arztes über sein Schicksal zu breiten? War ich frei von Schuld? Es ging mir so nahe, wie ich nach dem Tode meiner geliebten kleinen Portugiesin nicht gedacht hatte, daß mir noch etwas nahe gehen könne. Ich beugte mich zu ihm hinab. Ich glaubte ihn endlich unter der einschläfernden Wirkung des Morphiums. Aber er war immer noch klar.

Er wußte, was er tat, als er seine kraftlosen, abgemagerten Arme um meinen Hals schlang und meinen Kopf zu sich hinabzog. Ich wehrte mich nicht gegen seine Lippen. Ich verschweige es nicht. Es war der erste Kuß seit dem Tode meiner armen Gattin, den ich einem Menschen gab. Aber er: nahm er diesen ersten Kuß als das, was er war? Ich weiß es nicht. Er schien, als ob es ihn würge. Seine Lippen krampften sich zusammen. Verstand ich ihn recht? War es sein Körper oder war es seine Seele, die bewirkte, daß er meinen Kuß wieder auszuspeien schien? Gummibonbon! Wer ist es jetzt, du oder ich?

Hatte er mich ausgespieen? Nach den Worten der Schrift geschah mir nur recht. Denn so und nicht anders soll es denen ergehen, die nicht warm und nicht kalt sind. Aber konnte ich denn anders?

Er trug seine Schmerzen tapfer und verlangte nach keiner weiteren Injektion. Sein Gesicht verfiel und er begann dauernd aufzustoßen. Kein gutes Zeichen. Es war ein Wunder, daß er noch lebte und daß sein Herz arbeitete. Er wehrte ab, als ich ihm die dritte Spritze aus eigenem Antrieb geben wollte. Denn sie war von mir ärztlicherseits nicht nur als Schmerzstillung beabsichtigt, sondern sie sollte die eigenmächtigen Bewegungen der verletzten Eingeweide ausschalten und die Ausbreitung der infektiösen Keime solange wie möglich hintanhalten.

Um ihm jede Erschütterung des Körpers zu ersparen, hatten wir ihn, so gut es ging, auf den Tisch des Laboratoriums gebettet. Jetzt hielt er doch meine Hand mit der seinen fest. Ich erinnerte mich jenes Augenblicks vor so langer Zeit, als ich zum erstenmal diese fast krankhaft weiche, wie knochenlose Hand in der meinen gehalten hatte, damals, als ich an Bord der »Mimosa« erwachte, in seiner Nähe, unter seinem Schutz. In seinem hübschen, erdfahlen Gesicht spielten jetzt alle Leiden und Leidenschaften. Ich erinnerte mich meiner Prognose beim ersten Zusammentreffen mit ihm. Er hat gelitten, er leidet, er wird leiden. Aber wie sinnlos er litt! Meine Frau war schnell gestorben.

Endlich, nach mehr als drei Stunden, kam das Automobil, das ihn forttransportierte. Die Fahrt vom Sammelhospital über die versumpften Knüppeldämme hierher war nicht so einfach gewesen als ich angenommen hatte. Aber das allein war es nicht; man hatte unter anderem auch Angst, das verseuchte Y. F.-Haus zu betreten und – was bedeutete für die Sanitätsverwaltung und für die Leitung des großen Sammelhospitals mit seinem Belegraum für einige hundert Sträflinge das Leben eines einzigen, der noch dazu, wie dieser March, selbst den Wunsch gehabt hatte, aus dieser besten aller Welten zu scheiden? Ich winkte ihm zu, ich winkte ihm nach.

Als ich ihn auf der Bahre, die man aus dem Transportauto geholt hatte, von geschulten Trägern aus dem Hause forttransportiert sah, wußte ich nicht, sollte ich glücklich sein, daß mir der Anblick seines Sterbens erspart blieb? Sollte ich hoffen, daß er durch ein Wunder des Himmels (aber gibt es Wunder? Gibt es einen Himmel?) gerettet würde? Sollte ich trauern? Nein, dies fragte ich nicht. Ich stürzte mich, von krankhaftem tränenlosen Zittern geschüttelt, in meinen Kellerraum hinab, von jetzt an und für immer und ewig meinen Raum, den er niemals mehr teilen würde. Ich weinte nicht. Die Natur hat mir diesen Trost, diese Erleichterung nicht geben wollen. Dieses Ventil öffnet sich bei mir nicht. Ich lag wach und war nicht müde. Ich dachte nach – nur einen einzigen Gedanken.

Ich hatte noch in meiner Tasche das Nickeletui mit der Injektionsspritze.

Ich hatte noch niemals in meinem ganzen Leben, auch in den schwersten Zeiten, im Beobachtungshause des Untersuchungsgefängnisses und in den ersten Nächten auf der »Mimosa« nicht, so wie jetzt den Hunger, ja eine fast unüberwindbare Gier nach Betäubung empfunden.

Aber ich trug in der anderen Tasche meines Ärztekittels auch noch die präzise Waffe aus dem Besitze Walters. Sechs Patronen faßte das Magazin; eine fehlte, fünf waren da.

Ich sagte mir: Kannst du nicht mehr leben, gut! Stirb! Aber betäube dich nicht. Vernichte dich, aber fliehe nicht!

Der Mensch will leben. Selbst wenn er sich das Leben nimmt, wie March, im letzten Grunde seines Herzens will er leben. Nur anders. Er versucht das Schicksal zu erpressen. Er experimentiert mit seinem letzten Einsatz und einerlei, wie das Experiment ausgeht – er geht zugrunde... Ich wollte es nicht. Mein Leiden und mein Tod hätten nichts bewiesen. Nichts geändert. Ich belog mich nicht. Auch dieser Trost war dem Sohne meines Vaters nicht gegeben.


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