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Drittes Kapitel

I

Wenn ich begreiflich machen soll, wie aus mir durch meinen Vater der Mensch wurde, der ich bin, muß ich bei der Geschichte meines Vaters beginnen, bei dem Mann, der auf meine Jugend bestimmend eingewirkt hat. Auch er hat sich einmal auf einer langen, entbehrungsreichen und, wie ich gleich sagen will, letzten Endes ergebnislosen Schiffsreise befunden. Diese große, seine Reisesehnsucht völlig sättigende Fahrt hat ihn nicht nach Süden in die Äquatorgegend, sondern nach Norden geführt. Zum Pol.

Er war schlank, muskulös, ausdauernd, hatte in jungen Jahren die schwierigsten, gefährlichsten Bergpartien gemacht, hatte Höhen erreicht, die noch kein anderer betreten hatte. Er war wissenschaftlich gut vorgebildet, ein hervorragender Geologe und ein großer Botaniker, der der damals neuen Wissenschaft der Pflanzengeographie mit anderen Gelehrten die Grundlage zu bilden geholfen hatte. Physikalische Erdbeschreibung war sein spezielles Gebiet, hatte er doch eine Doktorarbeit über den magnetischen Erdpol und über die Zusammenhänge des Erdmagnetismus mit den variablen Luftströmungen verfaßt und sich darin als ideenreicher Meteorologe bewiesen. Das alles in dem Alter unter dreißig Jahren. Hätte man glauben können, daß aus diesem vielseitigen, hoffnungsvollen Gelehrten und Naturforscher einmal ein Verwaltungsbeamter im Ackerbauministerium und die »linke Hand« der jeweilig wechselnden Minister werden würde? Und der Erzieher eines so hoffnungsvollen Sohnes wie ich? Mit staatlicher Unterstützung wurde er in seinem einunddreißigsten Jahr in den Stand gesetzt, einen großen Dreimaster nach den letzten Erfahrungen der Nordlandfahrer auszurüsten, sich die notwendigen Mitarbeiter in Gestalt von Geographen, Navigateuren, Meteorologen, Zoologen, Botanikern, Sprachforschern und Ethnographen auszuwählen. Womöglich sollte ein Gelehrter mehrere Fächer beherrschen. Eine Akademie im kleinen. Dazu ein auserlesenes Mannschaftsmaterial und einen schönen Hund, Ruru mit Namen.

Mit großen Lettern stand sein Name als der des Führers in den Tagesblättern, als er abreiste. Man hatte Vertrauen zu ihm. Man glaubte an seinen guten Stern. Die amtlich besoldete Wissenschaft, die sich sonst bekanntlich jedem wahren Fortschritt entgegenzustemmen pflegt, stand ihm hilfreich zur Seite. Vor dem Antritt seiner Expedition ließ er sich mit seinen Gefährten einsegnen. Er war ein ebenso schöner wie kluger, ein gewinnender Mensch. Er konnte kommandieren, alle fügten sich ihm gerne.

Wer ihn dann später kennengelernt hat nach dieser Reise als einen verschlossenen, überhöflichen, maßlosen eitlen Mann unter seiner Maske der Bescheidenheit, krankhaft geizig unter dem Anschein der Freigebigkeit, von sinnlichen Leidenschaften in aller Heimlichkeit umhergetrieben, als Atheisten von reinstem Wasser und dabei Frömmler und Kirchengänger, Anarchisten für sich und Anbeter der Autorität für die Welt, streng gegen die andern, aber viel zu milde gegen seine eigenen Schwächen, die Menschen aus dem tiefsten Herzensgrunde verachtend und sie mit Souveränität beherrschend – wer meinen Vater als den Dr. Georg Letham, den älteren, gekannt hat, wie er außer seiner amtlichen Laufbahn, seinen niedrigen Leidenschaften, seinem Machttrieb und seinen Seelenexperimenten nur noch das Bankkonto anerkannte und seinen zweiten Sohn, der hätte in ihm nicht den Georg Letham wiedererkannt, wie er vor der Jahrhundertwende mit reinem Willen, mit guten Gaben, scheinbar unter den günstigsten Schicksalssternen ausgezogen war, um den Nordpol geographisch zu erobern. Zwei Jahre beinahe blieb er fort – aber was für Jahre! Das Ergebnis war ein nur fünf Seiten langer Bericht an die Akademie der Wissenschaften, der leider mehr aus Stimmungsbildern und allgemeinen Theoremen als aus streng wissenschaftlichen Tatsachen bestand. Es war eine Katastrophe. Millionen hatte die Reise gekostet. Einige Phrasen waren das Resultat.

Und doch! Welche Meisterschaft in der Behandlung von Menschen und Ausnutzung von gegebenen Verhältnissen mußte man ihm zubilligen, wenn er geschlagen, nach schauerlichen Entbehrungen und Irrfahrten zurückkehrend, dennoch auch aus diesem Ergebnis sich retten, behaupten, sogar vorwärtshelfen konnte. Er bekam nachher einen hohen Posten im Ackerbauministerium, wobei ihm seine meteorologischen Erfahrungen angerechnet wurden. Er heiratete die Schwester seines Reisegefährten, reich, aber nicht sehr glücklich; und ich war sein zweiter Sohn.

Seiner Seele nützten diese Laufbahn und diese »meteorologischen Kenntnisse« nichts. Er war so enttäuscht worden, daß sich das Grundgewebe seines Wesens geändert hatte. Zum Nichtwiedererkennen.

Nicht der Mißerfolg allein war es, was ihn stürzte, sondern der Abgrund, nicht zu überbrücken, zwischen seiner Aufgabe und zwischen ihrer Durchführung.

Wissen, wozu man lebt, und es können, das war sein primäres Lebensziel, sein Glaube, der seiner katholischen Kindheitsreligion nicht widersprach. Und daß er späterhin zwar wußte, aber nicht konnte, lag das an ihm? War er schuld? Welch eine Frage! Nur der Tatbestand war schuld, das, was im Protokoll steht. Und was war nun dieser Tatbestand, welche gewaltigen Katastrophen waren in dem grandiosen Protokoll verzeichnet? Wäre es doch derartiges gewesen! Aber es waren nur tragikomische Tatsachen, an kleinen Tierchen lag alles, an lieben Bestien, die nur gar zu anhänglich sind, an zutraulichen Wesen, die den guten, reichen Menschen als Vater und Versorger ansehen, an solchen geliebten Gotteskindern, wie sie eben jetzt im Dunkel zwischen den Medizinalkisten und den Tauen an Deck der »Mimosa« hin und her huschen, die langen Schwänze hinter sich herschleifend – habe ich nicht schon von ihnen genug und übergenug erzählt? – an Ratten.

Von dieser Reise her kannte er sie und kannte die Welt. Vom Naturforscher war er zum Menschenkenner geworden.

Der Nordpol liegt in ewigem Eise. Wenn überhaupt, ist er nur auf Schneeschuhen, durch Hundeschlittenexpeditionen zu erreichen. Aber die weite Eisfläche ist im Sommer von Schrunden und Spalten durchzogen, die unter den Strahlen der kärglichen Sonne aus der Eisdecke herausgetaut sind. Im Winter aber, wenn diese Rinnen zugefroren sind, sind die Unbilden der Witterung zu hart. Vier Monate lang herrscht völlig Nacht. Man muß also die kurze Sommerzeit benutzen.

Am besten auf dem Wasserwege nach dem Pol, hatten doch gelegentlich einmal wagemutige Forscher einer riesigen schwimmenden Scholle ihr Leben anvertraut! Sie haben aber diese Methode nicht glücklich gefunden. Denn sie wanderten auf der Scholle (sie war unabsehbar) nordwärts, die Scholle trieb südwärts, und alles war vergebens. Aber ein weltberühmter Nordpolfahrer (mein Vater war es nicht) ist in jenen Jahren, zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts, dem ersehnten Stück kalter Erde doch so nahe gekommen, als es bei dem damaligen Stande der Technik, das heißt also noch ohne radiotelegraphische Einrichtungen und ohne Aeroplane und Luftschiffe, möglich war. Seine Methode war die gleiche wie die meines Vaters, es gab wie in vielem auch hier nur einen praktischen Weg. Ihm ist es geglückt. Meinem Vater nicht. War der andere klüger? Vielleicht nicht. Nur hat er weniger Ratten an Bord gehabt.

Was war nun die Methode? Viele Schiffe hatten vergeblich die Donquichoteausfahrt nach dem sagenhaften Pol unternommen. Alle waren gescheitert, aber jedes auf eine andere Weise, an anderer Stelle.

Eines dieser Schiffe, genannt Jeanette, war nördlich der nordsibirischen Inseln vor Jahren an eine Stelle gekommen, wo es im Packeis nicht weiter ging. Mannschaft und Führer verlassen das Schiff. Retten sich. Der Dreimaster bleibt zurück. Gigantisch türmen sich Eisblöcke auf Blöcke. Immer neue Berge nahen sich, unwiderstehlich getrieben, der ganze Horizont, die weite stahlblaue Meeresfläche ist von ihnen erfüllt. Grünlichblau schimmernd, mit langen Barten geschmolzener Eismassen behangen, im Nordlicht funkelnd, so segeln sie von allen Seiten allmählich an die Wände des Schiffes heran. Eines Tages verbinden sie sich, von ungeheuren Kräften lautlos gegeneinander gepreßt. Das kleine Schiff wird zerquetscht wie ein Ungeziefer zwischen zwei glatten Fingernägeln. Es kracht. Es ist aus. Die kompakte Eismasse steht wie ein in Jahrmillionen gewachsenes Gebirge da. Eisbären, Polarfüchse, Schneehasen, Robben, vereinzelte Vögel und weniges anderes Getier zieht heran und vorbei. Die Balken des zertrümmerten, verlassenen Schiffes, die Rahen und Ketten, die Bretter und Kisten, die Seile und Segel, alles friert in den Eismassen ein. Schnee legt sich darüber. Alles ist still. Der Mond, eine gläserne Kugel, dann ein Halbmond, dann ein feines Sichelchen und das alles wieder zurück – er verschwindet vom Himmel nie, wenn nicht Schneestürme ihn verdecken. Dann hellt es sich auf: Die Sterne stehen und leuchten. Die Eisfüchse schnüren ihre Fährte. Einsame Vögel schweben in der nebligen, düsteren Luft, weit die perlfarbenen Flügel ausgebreitet, den langen Hals vorgestreckt.

Frei wird die Schiffsruine erst im Frühjahr, wenn das Eis sich unter den schrägen Sonnenstrahlen und den wärmeren Winden wieder auflöst. Das Meer wird offen.

Demzufolge müßte man alle Schiffstrümmer nach Jahren noch in der gleichen Gegend wiederfinden? Nein. Ungeheuer weit von diesen nordsibirischen Inseln entfernt findet man sie auf. An der Ostküste von Grönland, also jenseits des Nordpols. Tausende von Meilen Reise. Blind, unbemannt, fanden die Trümmer des Schiffes den einzigen praktischen Weg. Die Menschen mit allen ihren wissenschaftlichen Kenntnissen und Erfahrungen hatten ihn nicht finden können. Es muß also eine zwar langsame, aber stetige Strömung von Nordsibirien über den Nordpol nach Grönland führen. Was war zu folgern? Man mußte ein Schiff so solid bauen, es an Seitenwänden, Spanten und Kiel derart verstärken, daß es selbst dem gigantischen Druck der anpressenden Eismassen widersteht. Wenn man den Pol nicht auf den ersten Anlauf während der kurzen Sommerzeit erreicht, muß man sich dort einfrieren lassen, wo »Jeanette« unterging. Bei der nächsten Tauperiode wird dann die »Drift« das Schiff in die Gegend des Pols hintreiben, so nahe, daß man ihn vielleicht mit Hundeschlitten erreichen könnte, die man von den Eingeborenen bekommt.

Das ist jenem weltberühmten Polarfahrer Frithjof Nansen geglückt. Meinem Vater wäre es vor Nansen geglückt, wären die Ratten nicht gewesen.

Kein größeres Schiff ohne Ratten. Aber auch die kleineren haben genug Prachtexemplare davon. Neue Schiffe, wie das meines Vaters, werden ebensowenig von ihnen verschont wie alte, verlotterte, mit allem Hafenschmutz getränkte Schaukelkästen wie die »Mimosa«, mein Schiff. Aus den alten Kähnen die Ratten auszurotten weiß man keinen sicheren Weg, und die neuen Schiffe werden von diesen kühnsten Seefahrern aller Kontinente augenblicklich besetzt, sobald diese ihre erste Ladung einnehmen. Auf den langen Seereisen vermehren sie sich in geometrischer Progression, wenn sie nur genug zu fressen haben. Auf Segelschiffen wie dem meines Vaters finden sie kolossale Vorräte, die für jahrelangen Aufenthalt eingerichtet sind.


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