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XVI

Ein gefangener Verbrecher ist eine trübselige Angelegenheit. Die Tat, die er mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln versucht hat, ist ihm mißlungen. Ich war zwar meine Frau losgeworden, und das war etwas wert. Aber ich begann zu begreifen, daß ich meine Freiheit von ihr nicht billig zu bezahlen haben würde Ich hatte meinen Plan wohl zu ihrem Schaden durchgesetzt, aber nicht zu meinem Nutzen. Mein Leben war vor der entscheidenden Handlung eine sehr fragwürdige Sache gewesen. Jetzt konnte oder vielmehr mußte es eine sehr erbärmliche werden, und ich bedurfte meiner ganzen Willenskraft, um nicht zusammenzubrechen wie in jener Nacht, wo mich das schauerliche Gebaren meiner Umgebung in der Geistenkrankenabteilung so verstört hatte, daß ich mich als gesund erklärt hatte. Nun begann ich öfters an meiner Gesundheit zu zweifeln. Ich war stumpf wie ein Stein, ich fraß, was man mir vorsetzte, ich verrichtete meine Bedürfnisse in einem ein paar Liter fassenden Kübel, da unsere Anstalt, die doch von Sachverständigen so unbändig gelobt worden war, nicht einmal die Vorteile eines W. C. kannte. Ich hatte in gesunden Tagen stets sehr auf Körperpflege gehalten. Ein Bakteriologe, ein Arzt (vom bürgerlichen Anstand ganz abgesehen) kann ohne die peinlichste Körperpflege nicht bestehen. Wie tief war ich jetzt gesunken! Der Bart wurde einmal in der Woche, die Haare jeden Monat einmal geschoren. Seife gab es sparsam, ein Handtuch mußte länger reichen, als mir lieb war. Ich hütete mich daher, es schmutzig zu machen, das heißt, es zu gebrauchen. Und so alles! Ich begann, an Zahnstein zu leiden, und eines Tages fiel mir eine bröcklige, übelriechende Kruste aus den Zähnen, Zahnstein, der sich infolge der schlechten Ernährung angesetzt hatte und abgefallen war. Meine Zunge, die an der Innenseite der Zähne entlangfühlte, glaubte eine hohle Stelle an dem rechten unteren Prämolarzahn gefunden zu haben.

Der Anstaltsarzt, der übrigens keiner von den schlechtesten war, wenn er mich auch nur mit derselben gleichgültigen Routine behandelte wie alle anderen, konnte keine Karies finden, trotzdem wälzte ich mich fast die ganze Nacht in bohrenden Zahnschmerzen umher, ließ mich am nächsten Tage nochmals vorführen – ohne daß etwas gefunden wurde. Dieselbe Geschichte den nächsten Tag. Endlich führte der überlastete Mann, der fahl war wie seine Patienten, den Spiegel an die Stelle, die ich ihm genau bezeichnete, und fand eine hohle Stelle. Ich erwartete, daß er den Zahn, das heißt die Wurzel, behandeln würde. Aber er zeigte mir ohne ein Wort seine primitive Einrichtung, zwei Zangen aus dem vorigen Jahrhundert, er wies, ebenso eine Erklärung, auf die lange Reihe abgemergelter, hustender, tiefäugiger, darmkranker und hautkranker Gefangener, die alle in einer halben Stunde abgefertigt sein mußten, denn in diesem mustergültigen Institut zur Aufbewahrung menschlicher Schädlinge gab es keinen hauptamtlich beschäftigten und besoldeten Arzt, sondern nur – außer zahlreichen inspizierenden und kontrollierenden höheren Beamten diesen einen abgehetzten, müden medizinischen Tagelöhner, der die Gefangenenbehandlung nur im Nebenamte durchführte und vom Staat mit einem erbärmlichen Hungerlohn entschädigt wurde.

Er ließ mich abseits warten und bot mir am Ende der Sprechstunde nochmals an, den Zahn zu ziehen. Ich scheute zurück. War ich so feige, daß ich den Schmerz einer Zahnextraktion ohne Kokain fürchtete? War ich so eitel, daß ich in meinen sonst schönen, eng aneinandergereihten Zähnen keine Lücke haben wollte? Früher hatte ich meinen Zahnarzt alle drei Monate aufgesucht, ich hatte mein Gebiß auf die minutiöseste Art gepflegt. Ich schüttelte den Kopf und verließ das Sprechzimmer des Arztes, den kleinen, erstickend riechenden, von der Ausdünstung ungepflegter, schlecht gewaschener Männer erfüllten Raum, in dem stets künstliche Beleuchtung herrschte.

Anschließend waren drei kleine zellenartige Räume, die als Krankenzimmer eingerichtet waren. Nur die schwersten Patienten, die hoffnungslosen, wurden dem Inquisitenspital zugewiesen.

An diesem Tage empfing ich endlich auf meine immer wieder vorgebrachten Bitten noch einmal den Besuch meines Verteidigers. Er war in Eile, legte seinen Paletot nicht ab, verwechselte meine Angelegenheiten mit denen eines anderen Klienten, entschuldigte sich zwar mit Arbeitsüberhäufung, ließ mich aber nebenbei wissen, daß er sein Honorar nicht habe erhalten können, mein Vater hatte sich geweigert, etwas zu zahlen, wofür er nicht haftbar gemacht werden könnte. Der alte Herr sollte zwar mich mit phrasenhaften Worten bemitleidet haben, gleichzeitig hatte er seinen Entschluß angekündigt, für seine Person beim Ministerium des Innern um Namensänderung anzusuchen. Ich war viel zu stumpf, viel zu sehr auf meine ganz persönlichen Leiden beschränkt, als daß mich diese pathetische Geste hätte rühren können. Denn der Augenblick unserer Abreise nahte heran, ich bedurfte einer Ausrüstung, ich brauchte Geld. Der Verteidiger war erstaunt, daß ich ihn um Geld anging! Hätte er nicht das Menschenmögliche schon für mich getan und alles um Gotteslohn, eine bei vielbeschäftigten Rechtsanwälten unbeliebte Entlohnung?

Ich bedeutete ihm an, es müßten doch Vermögenswerte von mir da sein in solchem Umfang, daß die relativ geringfügige Summe für ihn und für mich keine Rolle spielte. Er, plötzlich von seiner Zerstreuung geheilt, nannte mir in Windeseile Zahlen über Zahlen. Über mein gesamtes Eigentum war der Konkurs eingeleitet worden, die kostbaren Möbel und echten Teppiche waren von meiner Stieftochter und ihrem Mann für einen minimalen Betrag aus der Konkursmasse aufgekauft worden. Meine Gläubiger hatten sich mit einer Summe abfinden wollen, die fünfzehn Prozent entsprach, aber es war zweifelhaft, ob dies erreichbar war. Mein Schwiegersohn und seine holde Gattin waren zu ausgekocht! Und meine Versicherung? Der Verteidiger, mit seinem glitzernden Monokel spielend, zuckte lächelnd die Achseln. (Ich war eines Lächelns so ungewohnt, daß ich es, sehr zu seinem Erstaunen, kopierte.) Die Versicherung hatte einen Einwand erhoben, der ihm, dem Verteidiger, sehr raffiniert erschien, sie hatte den Vertrag, den doch die höchst tugendsame Gattin eingegangen war, und nicht ich! als gegen die guten Sitten verstoßend angefochten. (Ich hatte es vorausgesehen und doch nicht glauben können!) Er hätte, schon in eigenstem Interesse, Protest eingelegt. Mein Bruder hätte sich dem Verfahren angeschlossen. Aber die Öffentlichkeit hätte sich in Gestalt der Presse entrüstet gegen mich auf die Seite der Versicherungsanstalt gestellt, mein Bruder hätte zwar alle Hebel in Bewegung gesetzt und hätte von sich aus große Opfer gebracht, um die Versicherung wenigstens zu einem Vergleich zu bewegen, wäre aber leer ausgegangen und seine Anwaltskosten wären größer gewesen, als ihm lieb war. Gut. Das war zwar noch kein ausreichender Grund für sein Schweigen, aber er mußte mir genügen. Allen Ernstes. War das alles, was der Verteidiger mir zu sagen hatte?

Er war die letzte Brücke, die mich mit meinem bisherigen Leben verband. Er drehte den geriffelten Rand des Monokels in seiner fleischigen, mit einer Unmenge blonder Haare und bräunlicher Sommersprossen bedeckten Hand, als ob er eine Uhr aufzöge. Er hörte mir gar nicht mehr recht zu, nickte mit seinem Doppelkinn, schloß seine kostbare, nach Saffian duftende Aktentasche mit aller Sorgfalt, Druckknöpfe und Schloß, blickte sich im Räume um, ob er nichts vergessen habe. Als ich ihm die Hand geben wollte, wich er zurück, sich so tief verbeugend, daß ich meine Hand nicht schnell genug zurückziehen konnte und eine Geste vollführte, als wollte ich den glatzköpfigen, dicklichen, blonden, eleganten Herrn mit seinem Monokel nach kirchlicher Art segnen. Bedarf es eines Hinweises darauf, daß mir dieses fern lag?

Bis zum Tage des Abtransportes wartete ich sehnsüchtig, ich gestehe es offen, auf ein Lebenszeichen von seiten meines Bruders, dem ich ein »liebendes Herz« zugetraut hatte. Bedarf es eines Hinweises, daß dieses Lebenszeichen eines liebenden Herzens niemals eintraf?


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