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III

Gerade jetzt begann sich die Rattenplage ins Ungemessene zu entwickeln, im wahrsten Sinne des Wortes stank sie zum Himmel. Das schwergebaute Schiff konnte sich nicht von der Stelle rühren. Höchste Sauberkeit war vonnöten, die Latrinengesetze mußten von Mannschaft und Offizieren genau eingehalten werden, was oft zu Gerichtssitzungen führte, bis alles geordnet war – nur die Ratten setzten sich darüber hinweg und erfüllten alles mit ihrem Schmutz und dem scharfen, übelriechenden Wasser.

Sie gingen ihrem Werk nach, sich außer den Vorräten des Schiffes auch das Schiff selbst zu Gemüte zu führen, in aller Seelenruhe nagten sie an den guten Bohlen, fraßen tiefe Löcher in die gerefften, starken, vom Eis starren Segel, sie machten sich intensiv an die Lebensmittel, weder Fässer noch Kisten waren sicher. Sicher waren nur die in Blechbüchsen eingelöteten Konserven, die Weinflaschen und Rumfässer und die Schiffsapotheke. Sicher waren auch Waffen, Munition und die vielen wissenschaftlichen Instrumente. Was nützte das?

Der Schlaf der gesamten Bemannung wurde schlecht. Während der Schlafenszeit standen die Leute auf, irrten durch die Gänge des Schiffes, machten Jagd auf Ratten, schossen mit Karabinern ins Dunkle, und es war ein Glück, daß keiner einen Kameraden verwundete.

Der Missionar erschien kurz nach dieser Mitteilung der Eskimos ernsten Gesichts bei meinem Vater. Er hatte sein Amt als Proviantverwalter gewissenhaft aufgefaßt und fürchtete, die Ratten könnten einen großen Teil der Vorräte angegriffen haben. Auf seinen dringenden Wunsch wurde neuerlich ein Schiffsrat einberufen. Einige der Herren waren nicht aus ihren Kojen zu bekommen, viele führten zu dieser Zeit schon ein vegetatives, völlig geist- und willenloses Dasein, wollten es nur warm und satt haben. Endlich gelang es, sie mit dem Hinweis auf das Verhängnis aufzuscheuchen und zu dem Schiffsrat zusammenzubringen. Zehn Stunden diskutierte man ununterbrochen. Die Leidenschaften waren schließlich erwacht. Der Lebenswille war neu aufgepeitscht worden. Man beschloß, die Ratten zu Tode zu räuchern. Mein Vater unternahm es, eine besonders giftige Gasmischung zusammenzustellen. Man erfand den Giftgaskrieg lange vor dem Weltkriege. Arsengift hatte man in fester Form reichlich zwecks Konservierung wertvoller Säugetiere und Vogelbälge mitgenommen. Schwefel gab es ebenfalls in großer Menge, zwecks Reinigung der Trinkwassergefäße.

Es sollten alle Vorkehrungen getroffen werden, den Ratten das Leben auszublasen. Nur zwei wurden auf den flehentlichen Wunsch des Geographen ausgenommen, die zwei gezähmten Rattenmännchen, die er bei sich hielt und mit denen er seine kargen, eintönigen Rationen teilte.

Er soll sie behalten dürfen, sofern die zwei Tiere wirklich gezähmt sind, was allgemein bezweifelt wird. Doch er behauptet, es gäbe kein Tier, das man nicht durch Güte zähmen könne, selbst den Menschen eingeschlossen. Gut, solange die zwei Männchen sich nichts zu schulden kommen lassen. Der Geograph ist beglückt. Hat mein Vater seinen Hund Ruru und besitzt der Missionar seine zwei kleinen, meerblauen Papageien, die er aus dem Hafen mitgenommen hat, so hat er seine gezähmten Ratten. Aber allen anderen gilt der Krieg. Man will das Giftgemisch (Arsen plus Schwefel) auf altem Leder, den Resten von Schneestiefeln etc. verqualmen lassen. Hier wird das gelblichweiße Pulver auf einem Ledertellerchen unter eine Treppe verteilt, dort in dem Magazin in der Nähe eines Brutplatzes der Ratten ausgelegt. Man weiß, daß hier in der Nähe ein Rattennest ist, denn man hört die jungen Rattlein wie Vögel zwitschern; man kann es nur nicht ausfindig machen. Aber der giftige Qualm soll überall hindringen, wohin der Blick des Menschen nicht hat dringen können. Methodisch werden alle Luken verschlossen. Nicht die geringste Öffnung nach außen darf offen bleiben. Mein Vater als der strategische Leiter des Unternehmens gibt die Parolen aus, alle arbeiten mit Feuereifer, alles ist aufgeheitert, jedermann faßt an, die Schlafstunden werden jetzt pünktlich eingehalten, die Leute vertragen sich. Der Appetit ist besser, der Gesundheitszustand hebt sich, und bei einigen Herren entschließen sich die Zähne, die infolge der eintönigen, blutlosen Nahrung und des damit verbundenen Skorbuts auszufallen drohten, nun doch bei ihren alten Besitzern zu bleiben, worüber diese armen Teufel glücklich sind. Alles bewirkt die Freude, die Hoffnung auf Hoffnung, der seligmachende Glaube – an den Glauben. Nachts ist es ruhiger, man sieht und hört und riecht die Ratten weniger, sie sind nicht so frech wie bisher, vielleicht haben sie Angst vor dem Schicksal, das sie bedroht. Nur die zwei »gezähmten« Ratten machen eine unrühmliche Ausnahme. Das stärkere Männchen verwundet das schwächere durch Halsbiß und nicht genug daran, wird es dabei betroffen, wie es den zwei Papageien des Missionars listenreich nachstellt, seine scharfbekrallte Pfote zwischen die Stäbchen des Vogelgitters zwängend. Die kleinen Papageien rufen sich durch ihr aufgeregtes Kreischen Hilfe herbei. Die Ratte wird abgefangen und ebenso wie der schuldlose Gefährte zum Tode durch Erschießen verurteilt. Der Geograph ist tiefbetrübt, die Tränen kommen ihm, aber er stimmt, in einer Ecke der Schiffsmesse hockend, schweigend dem Hinrichtungsbefehl seiner zwei übelriechenden Lieblinge zu, verschwindet vor der Exekution vom Schiff und treibt sich draußen in der Dunkelheit mit seiner Laterne auf den schneebedeckten Schollen umher, wo die Eskimos ihre Zelte aufgeschlagen haben.

Zwei Schüsse. Aus.

In seiner Abwesenheit werden nun die Giftbomben mittels Lunten in Brand gesetzt, eine Schelle, die an einer Rahe hängt, wird angeschlagen, Alarm, das verabredete Signal, alle Mannschaft, alle Offiziere an Deck. Die Mannschaften kriechen aus ihren Kajüten hervor, schwer bepackt. Die Polarnacht ist eiskalt, sie haben ihr ganzes Hab und Gut bei sich, als wäre es ein Abschied auf immer. Die Herren haben bloß Decken und Pelze bei sich, der Missionar außerdem seine zwei Papageien, deren Käfig er vorsorglich unter die Säume seines schweren Pelzmantels untergestellt hat, die Vögel zirpen leise, kaum zu hören; sie frieren, zum erstenmal in die Kälte an Deck gebracht. Früher, vor dem Attentat der eben hingerichteten Ratten, waren sie sehr laut, flatterten oft kreischend in dem geräumigen Käfig hin und her. Von dem Schock haben sie sich noch nicht erholt.

Die Mannschaft sitzt auf den bereits von Ratten angeknabberten Schiffskisten, auf angefressenen Rollen von Tauen unter den zerfetzten Segeln, die von den Rahen herabhängen. Die Eskimos sind, vom ungewohnten Schauspiel angelockt, ebenfalls an Bord mit ihren wolligen, klugen, starken Hunden, die still beisammenhocken, bisweilen bloß leise aufknurrend, an ihren Ketten zerrend, bis sie ein Fußtritt eines Eskimos schnell beruhigt.

Völlig dunkel ist sie nicht, diese Nacht, obwohl Neumond ist. Ein besonders prächtiges Nordlicht zieht sich in weich geschwungenem Bogen über den ganzen östlichen Himmel. Ein vielfach gefaltetes, zerrissenes Band von grünlichem, zauberhaftem, unwirklichem Licht. Es löst sich scheinbar an den Rändern los, hängt in vielen Schichten hinab. Ein blauer Stern von besonderem Feuer scheint durch den wallenden Nordlichtnebel hindurchzuschimmern. Das kalte Feuer in der starren, eisigen Luft wogt und beruhigt sich allmählich.

Mein Vater mußte das Licht photographieren. Er wagt sich, sein eigenes Gebot umstürzend, in seine Kabine hinab, findet sie noch frei von Giftgas und bald stellt er an Bord des feststehenden Schiffes ein dreibeiniges Photographierstativ auf und richtet das Objektiv des Apparates auf die Lichterscheinung, bittet alle Anwesenden um äußerste Ruhe, um eine Erschütterung des Apparates zu vermeiden. Niemand darf eine Laterne, eine Zigarre anzünden. Ich erinnere mich noch des Bildes, das mein Onkel uns als Kinder oft gezeigt hat. Zu sehen war nur ein verwaschener Lichtstreifen, eine Art in die Breite gegangenen Lichthofes, alles andere mußte die Kinderphantasie dazu tun. Aber es war eine der ersten Photographien des Nordlichts, die Expositionszeit betrug bei ganz geöffneter Blende eine Viertelstunde.

Auch das Eis, terrassenförmig auf den Schollen aufgebaut, unten in Schiffshöhe angefressen und zerklüftet, in den höheren Teilen scharf und kühn gezackt, war zu sehen, wie es ein fahles Licht aussandte. Nichts rührte sich. Nicht die Eskimohunde, nicht der schottische Schäferhund meines Vaters. Nicht das Nordlicht. Nicht das Schiff. Nicht die Menschen.


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