Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIX

Schon an dem Tage vor dem Ausbruch des Fiebers war der Doktor seltsam erregt. Er arbeitete mit einer Hast, die man nur mit dem Worte »fieberhaft« bezeichnen kann, obwohl seine Körpertemperatur damals noch genau auf dem normalen Stand war. Seit der Szene mit seiner Frau war er nicht mehr der gleiche. Seine krampfhafte Gefaßtheit und sein angestrengtes Bemühen konnten aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß in ihm etwas zu Bruch gegangen war. Dabei war er im Gegensatz zu der gereizten Art, die er in letzter Zeit oft gegen March und Carolus und den Geistlichen (gegen mich als Rekonvaleszenten nicht) gezeigt hatte, sehr sanft. Als wir abends mit der Arbeit, bei der ich wieder ein paar Handgriffe verrichten durfte, fertig geworden waren, ließ er uns nicht ohne ein Wort des Dankes auseinandergehen. Es war, als ob er sich an uns Kameraden anklammerte. Von seiner Gattin hatte er nichts weiter gehört. Der Küstendampfer war wieder auf Fahrt; ob er seine Gattin und seine Kinder wieder von C. mitgenommen hatte, wußte er nicht.

Dafür meldete sich der Subagent zudringlich, vielleicht auch von echtem Eifer beseelt, wer weiß es? ich hatte fast diesen Eindruck. Walter ließ ihn nicht vor. Er hatte nichts mit ihm zu tun. Als der Subagent sich dennoch vorzwängte, übersah Walter ihn vollständig, überhörte, was er sagte. Nie habe ich einen Menschen einen anderen so wie Luft behandeln sehen. Dabei war es nicht Stolz. Der einzige unter uns, der Standesunterschiede kannte, war nicht der Gentlemanarzt Walter, nicht der geheimnisvolle Kaplan, ein stumm und stumpf gewordener Mann von unbekannter Herkunft, auch nicht der zu Amt und Würden gekommene hohe Beamte der Medizin, Carolus, sondern der aus einfachen Verhältnissen stammende March. Ich verstand diesen Zug nicht an ihm, ich staunte über seine herablassende Art gegenüber allen Farbigen, mochten es die aufopfernden Krankenschwestern, mochte es der reich gewordene Subagent sein. Aber er ließ es sich nicht nehmen. Später sollte ich sehen, daß meine Menschenkenntnis mich bei der Beurteilung von Marchs ganzem Wesen oft im Stiche gelassen hatte.

Jetzt wurde ich hier von Walter, dort von March in Beschlag genommen. Hier der Mann aus meiner Interessensphäre, der geistige Mittelpunkt der Kommission, mein Studienkollege, der Mensch, den ich bewunderte. Dort der junge, durch nichts zu brechende, wieder aufblühende, leidenschaftliche Mensch, der sich zwar in seinen sinnlichen Regungen bezwang, wie ich es nie bei einem so hemmungslosen Menschen vermutet hätte, der sich mir aber statt dessen mit seiner ganzen Seele gab und auf den (und auf dessen guten Humor) ich bei Tag und Nacht in jeder Stunde, in jeder Schwierigkeit meines Lebens rechnen zu können glaubte. Er war mir hier auf C. eine große Hilfe, ich dankte meinem Schöpfer, (wenn ich diese Phrase anwenden darf), oft dafür und dachte, diese meine erste »wahre« Freundschaft könne nur der Tod beenden.

Walter fand trotz seiner schweren Arbeit in dieser Zeit nachts keinen Schlaf. Sei es, weil die Krankheit schon in ihm steckte, sei es, weil er innerlich zu erregt war, und weil er sich eben auch nachts nicht fassen, beruhigen, entspannen konnte.

Ich erwachte wie so oft eines Nachts, und da aus einer Kellerluke in unserem dumpfen, von Ratten bevölkerten Schlafraum eine so schöne kühle Luft wehte, eine Seltenheit in dem Waschküchendunst dieser heißfeuchten Klimate, machte ich mich so leise wie möglich auf die Socken. Ich wollte draußen ein wenig umhergehen, bis meine von Schweiß triefend nasse Wäsche mir am Leibe getrocknet war und mich dann wieder hinlegen. Ich mußte jetzt morgens nicht wie früher der erste im Laboratorium sein, hatte als Rekonvaleszent die Freiheit, zu kommen und zu gehen, wann ich wollte. Wenn ich also die Nachtstunden zu einem Spaziergange ausnutzte, konnte ich nachher solange schlafen als ich Lust hatte.

Auf dem totenstillen, unter meinen Schritten hohl dröhnenden Korridor, der zu dem Hauptausgang führte, traf ich, am offenen Fenster lehnend und auf die matt beleuchtete Stadt und die Kirche und die See hinabstarrend, Walter. Er trug noch seine Laboratoriumskleidung, offenbar hatte er sich noch gar nicht zur Ruhe begeben. Als er mich sah, hob er seine schweren, verdickten Lider und sah mich lange ohne Worte mit glasigen Blicken an, dann schloß er sich mir an, und wir streiften, ohne eine Silbe zu reden, durch die verlassenen Gänge und die leeren Säle des für eine viel größere Anzahl von Kranken eingerichteten Lazarettes, in dem sich derzeit zufällig bloß vier bis fünf Patienten befanden, sämtlich auf dem Wege der Genesung. Ebensoviel waren allerdings in den letzten Tagen an Y. F. zugrunde gegangen, dessen Sterblichkeitsprozentsatz sich jetzt auf fünfzig bis fünfundfünfzig Prozent belief. Plötzlich nahm er mich unter den Arm und faßte mich unter, wie sich etwa ein Vater in seinen großen Sohn einhängt. Auch jetzt kam kein Wort aus seinem Munde. Dabei hatte er noch am letzten Abend sehr belustigende Geschichten aus seiner nicht sehr langen, aber bewegten Dienstzeit als Militärarzt berichtet. Aber dies war nur Schein gewesen. Als ich so an ihn angelehnt ging, merkte ich, daß er in der Tasche seines Laboratoriumskittels eine halbvolle Literflasche trug. Halbvoll mußte sie sein, weil sie hohl gluckerte. Aber wenn jetzt der arme Herr sich zu mir wandte und ruckweise seine Schritte setzte und ebenso ruckweise seine Worte aus einem schwerfällig gewordenen, weit geöffneten Munde an mich richtete, merkte ich, daß sein Atem nicht richtig nach Whisky duftete, sondern viel stärker nach etwas anderem, nach einem Parfüm von seltsamer Scheußlichkeit. Man wird erraten, was es war.

Ich erschrak und blieb stehen. Der Arme merkte nichts. Er dachte an seine Frau, die ihn geschlagen hatte, nicht an Y. F. Er fürchtete die Erkrankung nicht mehr, nachdem er so und soviel vergebliche Versuche gemacht hatte, sich experimentell anzustecken. Er wußte nicht oder hatte vergessen, daß ein geschwächter, ein seelisch gebrochener Mensch nicht mehr die gleichen Widerstandskräfte gegenüber den Keimen des Y. F. hat wie eine ungebrochene Natur. Die Schläge, die ihm seine Frau versetzt hatte, hatten ihn so tief getroffen, daß er ein Mensch zweiter Güte geworden war. Unseren Versuchen war die Frau also zu Hilfe gekommen. Ohne es zu wissen, hatte sie ihren Mann widerstandslos gemacht gegen das Gift des Y. F.

Gegen das Gift des Alkohols konnte er sich schützen. Er vertraute mir an, daß es ihn jetzt mehr denn je dazu treibe, zu trinken, daß er von furchtbarer Unruhe geschüttelt werde, er müsse umhergehen, er müsse den Whisky bei sich haben, er müsse ab und zu sogar daran riechen, aber er habe sich geschworen »beim Leben seiner Frau und seiner Kinder« keinen Tropfen Alkohol mehr zu trinken, solange er auf C. sei. »Ist das vorüber, ist alles vorüber«, sagte er. Dann folgten lange Erörterungen über den Gang unserer Untersuchungen. Sollten wir nun eiligst veröffentlichen, was wir jetzt wußten, was wir an uns selbst experimentiert und klar herausgefunden hatten? Genügten die zwei sicheren Fälle, nämlich der des March und der meine, und der eine unsichere, Carolus, um die wissenschaftliche Welt mit der großen Tatsache zu überraschen, wie das gelbe Fieber von Mensch zu Mensch übertragen wird – oder waren noch Kontrollversuche notwendig?

Er war oder wurde mit mir einig, wir müßten warten. Auf jeden Fall wollten wir aber die bisherigen Ergebnisse, um uns die Priorität zu sichern, festlegen und schriftlich beim Notar der Stadt hinterlegen. »Meine Kinder werden Nutzen davon haben«, sagte er mit einem Rest seines alten strahlenden Lächelns, »daß ihr Vater etwas für die Gegend hier geleistet hat«. Als er dies gesagt hatte, lehnte er sich wieder weit zum Fenster hinaus. Die Wachen kamen, wie immer zu zweit, gerade vorbei, sie machten die Morgenrunde, ohne Gewehre und ohne Schuhe. Vom Hafen unten und den Bäumen auf einem kleinen Plateau bei einer alten Kirche noch aus der spanischen Zeit stieg eine Welle balsamisch duftender Luft. Die Sterne standen in ungeheurer Fülle, aber angesichts der nahenden Dämmerung nicht mehr ganz auf dem Gipfel ihrer Leuchtkraft, über dem stillen Lazarett und über dem mit alten Bäumen bestandenen Garten des Krankenhauses. Dabei merkte ich, wie Walters stark abgemagerter Körper, (ich fühlte es durch die Lüsterjacke hindurch, die Walter im Laboratorium immer trug) ein ganz zarter Schauer durchzitterte, wie wenn man im Vorübergehen eine tiefe Baßseite im Klavier eben nur leicht anrührt. Es schwirrt, es surrt, aber sogleich beruhigt es sich wieder. So auch hier.

Es war, wie stets in den Nächten, unvergleichlich kühler als am Tage, aber doch nicht so, daß ein vollständig angekleideter Mann hätte erschauern müssen. Er begriff dies auch, faßte sich mit der linken Hand (er war Linkshänder) an die rechte Handwurzel, um seinen Puls zu zählen, dann aber verlor er das Interesse daran, er lachte und sagte: »Jetzt hätte ich beinahe gedacht ...« er vollendete den Satz nicht, dafür aber setzte er eine ganz andere Gedankenkette fort, und ich erkannte, daß diese und nicht der Gedanke an eine mögliche Erkrankung ihn beschäftigt hatte: »Wenn die Frauen in der Hoffnung sind, darf man nicht mit ihnen rechnen. Es ist eine Krise. Sie sind alle pathologisch. Wenn eine so viel trägt wie meine Frau, darf man seine Wangen hinhalten und hat nur darauf zu achten, daß sie sich nicht wehe tut und dem ungeborenen Kind.« Ja! Ich sagte natürlich ja, aber ich muß gestehen, ich haßte die Frau auf den Tod, wenn ich sie auch irgendwie verstand; und die Wut ließ mich nicht zum Schlafen kommen, als mich der Doktor endlich allein gelassen hatte.


 << zurück weiter >>