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XVI

Bis in den Schlaf hinein verfolgte mich das Bild des kranken March. Alles, was er mir in früheren Tagen erzählt hatte, dazu Erinnerungen an die junge M., die im Traum seine Züge angenommen hatte, bewegte sich in meinen Gedanken durcheinander, unsinnig, aber mit solcher Lebenstreue, mit solch einer überwirklichen Helle und Deutlichkeit, daß ich beim Erwachen, bei meinem ersten Erwachen bei etwas gesunkenem Fieber, nur davon erfüllt war. Und March sollte, mir zuliebe, zugrunde gegangen sein? Die kurze Zeit, die letzten Krankheitstage, in denen ich den Armen nicht gesehen hatte, hatten meine Anhänglichkeit und Dankbarkeit verstärkt. Ich wußte auf einmal nicht, wie ich ohne ihn leben sollte.

Ich, der ich auch in kranken Tagen meine Schmerzäußerungen und Lustäußerungen stets auf das beschränkt hatte, was auch der festeste Wille absolut nicht zu unterdrücken vermochte, schrie leise auf, und vor Freude, als ich auf einmal an der Wand, die unsere Zimmer trennte, plötzlich wieder das rhythmische Pochen hörte. Ich weiß nicht mehr, was er mir signalisierte. Wahrscheinlich war es keine richtige Morseschrift, denn noch befand er sich in einem Zustand, der ihm nicht den klaren Gebrauch der Verstandeskräfte erlaubte. Aber er lebte! Sein Zustand war nicht leicht, er stand im Beginne der zweiten ernsteren Krankheitsperiode, während ich am Ende dieser Periode stand. Aber sein Anfall war milder gewesen als der meine, seine Temperaturen hatten sich stets unter achtunddreißigeinhalb Grad gehalten, und die Krankenschwester hoffte, daß auch er davonkommen würde.

Ich empfing im Laufe des Tages den Besuch der Herren Carolus und Walter. Ich erwartete von ihnen Bericht über die Experimente, die im Gange waren, aber beide schwiegen sich aus.

Walter sah verfallen aus. Aber es war nicht der Verfall eines Mannes, der an einem inneren Widerspruch leidet und sich darin verzehrt, der an Rauschgiften selbstmörderisch zugrunde geht, sondern nur die Übermüdung eines Forschers auf der Höhe seiner Tätigkeit.

Wenn Walter von den Versuchen schwieg, war es nicht ein Beweis seines Mißtrauens gegen mich. Im Gegenteil, mehr als je zuvor sah er in mir einen Menschen, den man nicht aufgeben solle, und er vertraute mir trotz seiner angeborenen und anerzogenen Reserve vieles an, das seine persönliche Lage betraf. Ich habe bereits berichtet, was er seiner Frau, die auf einer wenige Tagereisen weit entfernten, fieberfreien Insel mit den Kindern sich erholen sollte, telegraphiert hatte. Er schien es zu bereuen. Mit flüsternder Stimme, vielleicht weil er mir nicht zumuten wollte, ihm mit einer lauteren Stimme zu antworten, berichtete er mir, sie hätte zurückgedrahtet, daß sie ihn beglückwünsche, er sollte es aber jetzt endlich damit genug sein lassen, er dürfe Gottes Vorsehung nicht länger auf die Probe stellen, das Schicksal nicht herausfordern. Namentlich führte sie an: die fünf Kinder und – zwei Rufzeichen. Die waren im Grunde nichts als die alten Redensarten, wobei jedes einzelne Wort dieser Phrasen (und die Interpunktion nicht minder) mit teurem Geld bezahlt werden mußten und andern, wichtigeren Mitteilungen den Platz wegnahm. Denn am Schluß des kostspieligen Telegrammes, das leider nicht im Depeschenstil stilisiert war, stand: sie könne, weil ihr die Mittel zu einem längeren Telegramm fehlten, keine weiteren Mitteilungen machen.

Diese an sich unbedeutende Nachricht spannte den abgearbeiteten, unruhigen Arzt-Gentleman sehr auf die Folter. Wie verlief die Schwangerschaft? Wie ging es seiner Frau, wie lebten seine Kinder? Davon nicht eine Silbe! Er ahnte Böses und hätte es nur zu gerne abgewendet. Sein Weg war vorgezeichnet und konnte kein anderer sein, als wir ihn gemeinsam festgelegt hatten. Aber er fürchtete für die Menschen, an denen sein Herz hing. Wozu hatte er eines, hätte ich früher gefragt. Nun schwieg ich und betrachtete den glatten Ring an seinem Finger ohne ein Wort.

Sollte man es für denkbar halten, daß er mir dies und eine Menge anderer Einzelheiten aus einer Ehe, in der die beiden Teile einander wohl liebten, aber nie verstanden, bloß deshalb erzählte, damit ich , wenn sein Experiment an sich selbst übel ausging, ihnen Schutz und Schirm bieten solle? Wir sprachen nicht ausdrücklich darüber. Möglich war es. Er zögerte, sah sich im Zimmer um, nahm mein Merkblatt zur Hand, schickte die Schwester hinaus. Seine Worte wurden spärlicher, und doch wollte er sich von mir nicht trennen. Er sah wohl ein, daß ich an dem ersten fieberfreien Tage noch schwach war wie eine Fliege, und daß jedes noch so leise geflüsterte Wort mich schwere Mühe kostete. Ich hielt die Augen gewaltsam offen, um nicht einzuschlafen und zwischen seinen lakonischen Worten lauschte ich noch auf die Kratz- und Klopfgeräusche meines Freundes an der Wand.

Mein Gehör hatte sich sonderbarerweise jetzt sehr verschärft, ich wurde feinhörig, wie ich es nie gewesen war. Ich habe diese Erscheinung auch bei anderen Kranken nach Überstehen der Krisis bemerkt, bei keinem freilich so deutlich wie bei mir.

Endlich mußte dem Dr. Walter die alte Krankenschwester ein Zeichen gegeben haben, daß ich der Ruhe bedürfe. Kaum war er fort, als sich March an der Wand meldete, immer das gleiche Zeichen monoton gebend, bis auch er zur Ruhe gebracht wurde.

Mein Zeitempfinden war noch nicht geordnet. Ich habe die der Krisis folgenden Tage in einem schnellen Wechsel von Wachen und Schlafen verbracht, ich wußte nicht, welcher Wochentag es war, oft wachte ich morgens auf und dachte, es sei noch der Abend des vorhergehenden Tages.

Ich befand mich in einem Zustand körperlicher Schwäche, der nicht zu beschreiben ist. Meine Hand, die den Löffel zum Munde führte, sank hinab, ich verschüttete jede Flüssigkeit, die man mir gab, und dabei wollte ich doch möglichst schnell wieder der alte sein, aufstehen, arbeiten, mich bewegen und leben.

Ich hatte das Leben liebgewonnen.

Ich lebte, zum erstenmal vielleicht in meinem Dasein, ohne das Gefühl einer Schuld.

Ich hatte viel durchgemacht. Mochte ich getan haben was immer, ich hatte meine Schuld bezahlt. Ich konnte der Zukunft klarer ins Auge sehen.

Mich hat, ich sage es erst jetzt, schon von frühester Jugend an (unbewußt?) ein schweres Gefühl der Schuld bedrückt, lange bevor ich wirklich schuldig geworden bin. Mein Vater hatte mir die Unvollkommenheit, die Sinnlosigkeit und Grausamkeit der Welt und des menschlichen Herzens nicht nur einmal mit der Geschichte seiner Expedition und der Ratten enthüllt, sondern tausendmal. Aber, fromm wie er war, ja, schlimmer als das, frömmlerisch, wie ihn das Leben gemacht hatte, hatte er als Gegengift gegen Welterkenntnis mir Religion und Patriotismus beibringen wollen, den Glauben an etwas, das in unerreichbarer Güte, Vollkommenheit und Macht über uns stand. Gott im Himmel, das Vaterland auf Erden. Diesen Gott der positivsten Güte konnte ich nicht verantwortlich machen für das evidente sinnlose Leiden der Welt hier unten. Wenn ich von einer Katastrophe, wie solche tagtäglich in jeder Zeitungsnummer dargestellt sind, erfuhr, wenn ich sie begriff mit meinem zu früh geöffneten Augen, – wen sollte ich anklagen? Wenn nicht mich? Nur mich und meinesgleichen. Gott war gerecht. Schuldig war die menschliche Kreatur. Der Mensch war sündig und stupid von Anbeginn. Er erbte die Sünde samt der Dummheit von seinen Vätern und vererbte sie an seine Kinder. Schuldig blieben alle. Gott, der allmächtige, war es nicht.

Dieses dumpfe Schuldgefühl hatte ich, soweit ich mich zurückerinnern kann. Ich hatte es als junger Mensch, als ich das Elend der vivisezierten Tiere ansah. Ich hatte es an den Krankenbetten meiner Kranken. Ich hatte es, als ich, auf der Suche nach einem Ausweg aus meiner Lage, mich an dem Leben meiner früheren Gattin vergriff. Wie einer aus Todesangst sich eine Kugel vor den Schädel schießt, wurde ich schuldig aus Schuldgefühl. Ob mich die Geschworenen vor Gericht freisprachen oder nicht, sie konnten mir das Gefühl der Schuld nicht abnehmen. Mein Richter war nur ich. Sie konnten mir eine Sühne diktieren. Sie kam ins Protokoll so wie der Bericht meiner Tat. Aber die innere Befreiung durch das äußere Leiden, das zu meiner Heilung zu erwirken, war ihnen nicht gegeben.

Ich hatte mich, lange bevor sie mich als schuldig erkannt hatten, selbst zu sehr mitschuldig an der grotesken Schauerlichkeit der Welt gefühlt. Alles, was ich, anfangs mit den Augen meines Vaters und dann mittels meiner eigenen Beobachtungen wahrnahm, verstärkte nur diesen Druck der Schuld. Jetzt, auf der Insel C., hob es sich, dieses Schuldgefühl der Erbsünde. Nicht auf einmal. Nicht vollständig beim erstenmal. Der Verlust der kleinen Portugiesin war nur der Beginn. Die wahrhaft furchtbaren Leiden, die ich als Y. F.-Kranker durchzumachen hatte und die nur jemand nachempfinden kann, der Ähnliches selbst an sich erlebt hat, waren erst der zweite Schritt. Noch lange nicht der letzte.

Ich sage nicht: die Liebe zu der Portugiesin (eine väterliche, eine ärztliche, eine hoffnungslose, törichte, sinnlose Liebe, aber doch die meine, die einzige, die mir blieb), ich sage nicht, die Liebe zu dem unglücklichen Kind habe mich sittlich geändert. Ich sage nicht, das schauerliche körperliche Leiden, das aus dem Leibe Kotzen und Würgen meines letzten Atems, das bei leibhaftem Leben Verfaulen und aashaft Verstinken, das elendste physische Los, das je an meinen armseligen Körper geknüpft war, habe mich geläutert. Es mußte noch viel zusammenkommen und darunter manches, das man sich vielleicht anders denkt bei einer inneren Wandlung.

Es mußte auch Glück dazukommen, das Gefühl der Genesung und der Freude am Dasein und die Hoffnung, die durch nichts zu zerstören war.


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