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XII

Als diese komische und doch für mich scheußliche kleine Prozedur vorüber war, die ich bis jetzt nur an anderen vorgenommen, nie aber an mir selbst erlitten hatte, sollte ich auf der üblichen Krankenbahre in eines der Krankenzimmer transportiert werden. Ich wollte nicht. Ich bäumte mich dagegen auf. Schon beim Eintritt in dieses unselige Haus hatte mir vor dem Anblick der mit braunen Flecken getigerten altmodischen Bahre gegraut. Ich, tapfer wie ein spanischer Ritter, wollte mich nur hoch zu Fuß in das Krankenzimmer begeben. Ich hatte meine Kraft überschätzt. Auch die Hilfe des treuen March genügte nicht. Man mußte für mich wie bei allen anderen Kranken zwei Schwestern mit der Bahre kommen lassen. Ich wurde von dem Laboratoriumstische auf die Bahre hinabbefördert, und es ging über die bekannten Treppen und Korridore auf das Zimmer. Ich wurde dort von Schwestern ins Bett getragen und schnell, aber behutsam entkleidet, was sehr einfach war, denn ich hatte fast nichts am Leibe unter meinem Ärztekittel. Übrigens hatte ich der Tragbahre Unrecht getan. Die Leinwand, auf der die Kranken ruhten, wurde jedesmal ausgewechselt und in siedender Sodalösung ausgekocht. Sie war immer etwas feucht. Die Flecken gingen nicht heraus, sie brannten sich bei jedem neuen Waschen nur schärfer ein. Es wäre ein unbilliges Verlangen gewesen, für jede neue Nummer des Krankenjournals, (ich hatte Dreihundertachtundzwanzig, denn so viele Kranke hatten in diesem Jahre schon vor mir auf der braven Bahre gelegen), ein funkelnagelneues Leintuch für den Transport bereitgestellt zu verlangen.

Aber was lag jetzt daran? Ich sollte lernen, daß über ein gewisses, leider nur zu schnell erreichtes Maß von körperlichen Leiden hinaus die Seele die Luft verliert, nur noch jappt und sich dann in eine dumpfe, eben völlig bodenlose Verzweiflung ergibt, von der sich ein körperlich Gesunder keine Vorstellung macht.

So kam es, daß ich auch den Versuchen des geistlichen Herrn, mir wie jedem anderen Kranken die Sterbesakramente »auf Teufel komm raus« zu erteilen, keinen Widerstand entgegensetzte. Ich konnte nicht. Ich war mit dem Abdienen meines Leidenspensums vollauf beschäftigt. Ich ließ seine Reden und Sprüche und die Zeremonie passiv über mich ergehen. Was war denn in diesem Augenblick bei brennender Hitze des an tausend Stellen unsäglich gequälten Körpers noch an Glauben oder Nichtglauben in mir? Was bedeutete mir das Jenseits? Ich faßte diese Gedanken gar nicht richtig auf, ich klammerte mich in wütender Verzweiflung an diese Welt. Ich hielt den Kaplan krampfhaft an der Hand, und als er mir diese entzog, um die rituellen Handauflegungen zu machen, klammerte ich mich an seine brüchige Soutane, an die sich schon mehr als eine Hand eines »unsäglich« Leidenden in seiner Höllenglut angeklammert haben mochte. Dabei verstand der Kaplan etwas von dem, was in mir vorging, oder besser gesagt, an mir. Er war der beste Psychologe weit und breit, er hatte Gefühl für den Menschen. Und eine unbesiegliche Neigung zu dieser elenden Schöpfung eines liederlich experimentierenden Schicksals. Das hatte er mir schon beim Hinscheiden der geliebten kleinen M. bewiesen.

Wie sehr abgestumpft ich gegen alles war, bewies der Umstand, daß ich jetzt möglicherweise in dem gleichen Bette lag, auf dem vor wenigen Tagen der zarte Leib der jungen Portugiesin geruht oder nicht geruht hatte. Oder lag ich in dem Nachbarraum, der dem zwar arbeitslosen, aber lebenskräftigen Hafenarbeiter zum Ruheasyl gedient hatte? Ich wußte es nicht. Es interessierte mich nicht. Alles ganz egal. Bett ist Bett. Portugiesin – mein Vater – March – Walter? Es war mir meilenfern, alles. Der Geistliche hatte in meinem Gepäck, das der gute March mir in aller Eile nachgeschleppt hatte, die zwei Büchlein entdeckt, die ich aus dem Zusammenbruch meines alten Lebens gerettet hatte: das Evangelium und den Hamlet. Er nahm an, ich würde auch jetzt, an der Schwelle des Todes, für das Evangelium Interesse haben. Ich wollte nur schlafen. Ich wollte nur die Schmerzen los sein. Ich wollte mich erheben. Fortgehen können. Ich sehnte mich nach der Heimat, weil ich dort immer gesund gewesen war!

Sprechen konnte ich nicht. Liegen konnte ich nicht. Stehen konnte ich nicht. Trinken konnte ich nicht. Nicht einmal wimmern konnte ich. Nur leiden. Und dabei war es erst der Beginn, es war die leichteste Periode der Krankheit. Es war nur der erste Tag.

Der gute Mann machte sein schönes, schwungvolles Kreuzeszeichen über mich und ging. March blickte auf Minuten zu mir hinein. Er konnte nicht bei mir bleiben. Die Herren brauchten ihn. Neue Experimente wurden vorbereitet. Und nach wessen Plan? Nach welcher Arbeitsmethode? Doch nur nach der meinen, die ich selbst für den Fall aufgestellt hatte, daß ich bettlägerig würde und daß andere das begonnene Werk weiterführen sollten. Man brauchte ihn also vorerst zur Unterstützung bei den Laboratoriumsarbeiten und nachher als Objekt einer zweiten Serie von Versuchen, zu denen er plangemäß herangezogen werden sollte. Als Nr. Ib. Wir hatten die ersten Opfer mit den arabischen Zahlen bezeichnet, mich also als Fünf. Jetzt wurden den Zahlen lateinische Buchstaben hinzugefügt, um die Serien zu kennzeichnen und unter ihnen Ordnung zu halten. So war alles geregelt.

Ich verlor jetzt allmählich das gewohnte Empfinden für Zeit. Wenn ein Gesunder nachts erwacht, so hat er annähernd ein Gefühl dafür, wieviel von der Nacht verstrichen ist, wenigstens hatte ich es früher, auch wenn es dunkel war und ich die Uhr auf dem Nachttischchen nicht sehen konnte. Aber wenn einer Fieber von neununddreißigeinhalb hat, so verliert er das Schätzungsvermögen für Zeit. So auch ich. Es waren andere Stunden und Sekunden, die ich jetzt Stück für Stück, ohne eine einzige auslassen zu dürfen, zu durchleben hatte.

Die alte Oberin beehrte mich mit einem Besuche. Wie bei dem Besuche bei der armen Kleinen, interessierte sie sich besonders für die Sauberkeit, sie blickte in die Ecken, befühlte die Stangen des Bettes, um zu sehen, ob sie gut abgestaubt seien, sie hob die Bettdecke auf, um zu sehen, ob ich an den Füßen sauber wäre. Zum Glück war ich es. Ich hatte auch in schwersten Zeiten meine Reinlichkeit immer hochgehalten. So auch bis in die letzten Tage hier oben, als ich mich schon so elend gefühlt hatte, daß Baden, Waschen und Rasieren mir schwergefallen waren. Dann, wie zur Belohnung, pflanzte sich diese alte Soldatin des Y. F. an meinem Bette auf und sagte mit komisch klingendem Akzent, ich würde, wenn es nach dem guten Herrn Walter ginge, nicht in die Camps kommen, die Strafkolonie würde mir erspart werden. Bedeutete dies, daß sie mit meinem baldigen Hinscheiden rechnete? Ich lachte ihr krampfhaft zu und verstand es nicht. Außer dem bekannten »G«, den einzigen Laut, den ich ohne große Schmerzen in Zunge, Hals und Rachen eben noch herauswürgen konnte, konnte ich nicht mit ihr sprechen. Und welche Unterhaltung sollten wir auch führen? Sie nahm an, ich hätte sie verstanden, sie lachte tapfer zurück, wobei sie eine Reihe schöner Zähne und ein prachtvoll rotes, blühendes Zahnfleisch zeigte. Ihr Lachen war, wie bei vielen Personen des geistlichen Standes, etwas unnatürlich. Aber ein Lachen war es und tat ihr gut. Mir tat das meine weh und ich wiederholte es vorläufig nicht. Mein Zahnfleisch war so geschwollen, daß es wie ein Hahnenkamm über den Zähnen hervorstand. Meine Haut von der Stirn bis etwa zur Leibesmitte war wie verbrannt, prall gespannt. Wenn ich mich in meiner qualvollen Unruhe selbst betastete, war es mir, als berührte ich einen wildfremden, kochenden oder schmorenden Körper. Aber das war nur eine der Schauerlichkeiten dieses ersten Tages. Ich bekam schnell einen zweiten Schüttelfrost. Und fort in Nacht und Finsternis und Winterfrost! Ich muß mich in Anwesenheit der Schwester aus dem Bette herausgestürzt haben, denn March, der mit einem weißen Bogen in der Hand eintrat, fand mich auf der Erde vor. Mein klares Bewußtsein mußte in diesem Augenblicke schon geschwunden sein. Ich riß ihm das Papier aus der Hand und fing an, hineinzubeißen. Plötzlich muß ich aber »begriffen« haben, vielleicht in dem Augenblick, als er mich wieder in das Bett, die natürliche Heimat, die Wiege und den Sarg des Menschen zurückgebracht hatte, daß es ein Brief sei. Endlich ein Brief! Eine Nachricht von meinen Lieben daheim! Ich reckte das Kinn in die Höhe, ich spitzte die Lippen, ich sah ihn flehend aus meinen verschwollenen Äuglein an, ich formte ein »v«, ich ließ ein fauchendes Geräusch hören, es bedeutete, March solle mir vorlesen, denn ich selbst war dazu angesichts meiner in den Augen brennenden Bindehautentzündung nicht imstande. Aber wie sollte mir der liebe Freund etwas vorlesen, wenn ich den kostbaren Brief nicht aus den Händen ließ! Wunderbare Zeichensprache, die auch verstanden wird, – und dennoch nichts! Darin zeigte sich der Rest meiner blödsinnigen Energie, daß ich etwas, das ich gefaßt hatte, nicht mehr loslassen wollte. Loslassen! rief er mir zu. Vorlesen! hauchte und fauchte ich. Wir kamen nicht zueinander. Ich behielt das Papier in der Hand, mit zuckenden Bewegungen riß ich es auseinander, ich wußte nicht, was ich tat. Warum hatte er es mir in die Hand gegeben? Die Einlage des Briefes, das Geld, hatte er vorsichtig beiseite geschafft. Warum nicht auch den Brief? Er wußte eben nicht, wie mir war. Er überschätzte mich. Er wurde jetzt von Walter energisch abgerufen. Ich muß wohl noch lange mein »g« herausgeklagt und mein »v« herausgebetet haben, denn als er spät am Nachmittag wieder erschien, hörte er immer noch die gleichen Laute von mir.

Was sollte er tun? Er sah ein Büchlein auf der Platte des Nachtkästchens mitten zwischen den Tellerchen mit Früchten, Eisstücken und den anderen Hilfsmitteln einer hilflosen Heilwissenschaft. Er tat, was auch ich an seiner Stelle getan hätte. Er schlug, mit dem Rücken zu mir, das Büchlein auf, riß leise ein vielgelesenes Blatt heraus, es war Seite dreiundvierzig der Kleinoktavausgabe der britischen Bibelgesellschaft: Die Bergpredigt. Ich zitiere die welthistorischen Worte der Schrift nicht. Wer will, kann sie an der genannten Stelle nachlesen. Er wollte mich glauben machen, er lese mir den Brief vor. Er überflog die Stelle mit den Augen. Er las sie vor.


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