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VIII

Ich bin in meinem ganzen Leben niemals ganz frei von Regungen des Mitleids gewesen. »Gewissen macht Sklaven aus uns allen.« Hamlet, Urbild des letzten Europäers. Gewissen hatte ich zwar nie in dem Maße, daß es mein Leben zwingend beeinflußt hätte. Mitleid hatte ich immer am falschen Ort, und zwar um so mehr, als ich mich dagegen wehrte. Mein Vater hatte in meiner Jugend dieses Übel (ein Übel ist und bleibt es) mit der Wurzel ausroden wollen. Wer aber faßt die Charakteranlage eines Menschen an der Wurzel? Ich wußte, was ich tat, wenn ich ein Tier, ein lebendes, schmerzempfindliches, an der Seelenhaftigkeit bis zu einem gewissen Grade teilhabendes Wesen auf die Folterbank legte. Andere wußten es nicht. Andere bedurften nach ihren schauerlichen blutigen Versuchen nicht des Rausches, der inneren Betäubung, der gewaltsamen Beruhigung ihres Zustandes, andere litten nicht an dauernd ungestilltem Reizhunger. Doch wozu von Tieren reden, wenn es sich um einen Menschen handelt, der mir nahe genug gestanden ist, um ...

Nur die Tatsachen. Als sich das Unerträgliche meiner gesamten Lebensumstände mit jedem Tage deutlicher herausgestellt hatte, (wenn es nicht so ins Breite ginge, wollte ich gern einen Tag aus dieser Zeit in seiner ganzen höllentaften Endlosigkeit seiner vierundzwanzig Stunden darstellen) – als ich das Unerträgliche der Lebensumstände klar genug erkannt hatte, machte ich den letzten Versuch, mich in friedlicher Weise von meiner Gattin zu lösen. Wir waren in der Kirche getraut wie alle Menschen aus meinem Kreise und aus ihrem Kreise. Das Band, das man im allgemeinen voraussetzt, daß es die Ehe zusammenhalten solle, die eheliche Liebe, bestand aber nur von ihrer Seite. Ich liebte sie nicht. Weiß ich doch bis zum heutigen Tage nicht, ob ich dieses vielgenannten Gefühls überhaupt fähig geblieben bin, ja ob ich fähig gewesen bin, zu lieben. Wer weiß es?

Der Grundstein der Ehe soll die Gemeinschaft der beiden Geschlechter sein, wie sie vom natürlichen Drang ersehnt und durch die Hoffnung auf gegenseitige Hilfe eingegangen wird. So spricht die Kirche und nennt die Kindererzeugung als den ersten Zweck der Ehe. Ich hätte mir ein Kind sehr gewünscht. Aber gleichzeitig fürchtete ich mich davor. Ich hatte Angst vor der Verantwortung, noch ein Wesen in diese schrecklichste aller Welten zu setzen, und dies war mit ein Grund für mich gewesen, die Ehe mit meiner Gattin einzugehen, denn es war schon angesichts des Alters meiner Frau im höchsten Grade unwahrscheinlich, daß ihr noch ein Kind in ihren Jahren gegeben würde. Sie konnte es auch nicht glauben. Aber trotzdem ging sie nicht von ihrer Überzeugung ab, daß jede Ehe zwischen Katholiken ein unzerstörbares, objektiv bestehendes Band sei, das selbst durch das Umschlagen der Liebe in Haß und Abscheu nicht zerrissen würde.

Sie stand sicher auf ihrem Glauben (sie konnte ja glauben, nur ich mußte immer zweifeln), meine Zuneigung zu ihr werde eines Tages wiederkehren, weil sie ja doch schon einmal dagewesen sei, nämlich damals, als ich mich um sie beworben hätte. Ein Irrtum, aufgebaut auf einen anderen Irrtum. Wie sollte ich ihr die wahren Beweggründe der Eheschließung klarlegen? Ich hatte doch nur diesen Verzweiflungsschritt unternommen, weil ich dem dauernden Zusammensein mit mir selbst nicht gewachsen war. Aus demselben Grunde, weshalb so viele und gerade oft nicht die wertlosesten Naturen zum Alkohol, Morphium oder zum Kokain greifen oder unnütze Reisen unternehmen, blödsinnige Sammlungen zusammenstellen. Also nur, um mir selbst zu entfliehen, hatte ich um sie geworben.

Ich hatte von ihr ihren Teil an der »gegenseitigen Hilfe« erwartet. Das konnte ich ihr erklären. Aber sie wollte mich nicht durch »unedle Motive« an sich ketten. Ihr, wie so vielen reichen Menschen, war es nicht klar, was Geld einem bedeutet, der es nicht hat. Sie sprach mir zu, wie einem guten, aber unvernünftigen Kind. Sie ging sogar weiter, über das erwähnte Testament hinaus. Sie ließ sich mit einem Versicherungsagenten aus eigenem Antrieb in langwierige Verhandlungen ein und zeigte mir eines Abends das Ergebnis. Sie hatte eben die erste Prämie eines gegenseitigen Versicherungsvertrages eingezahlt, das heißt, der überlebende Teil sollte beim Ableben des anderen einen hohen Betrag erhalten. Ich, wenn sie vor mir starb, und umgekehrt. Was wollte sie damit? Erkannte sie mich wirklich? Sie war doch aus eigenem reich genug, was sollte ihr noch mehr Geld nach meinem Tod? Aber ich brauchte Geld, das wußte sie. Ich bekam es nur nach ihrem Tod, dann aber ganz sicher. Wollte sie mich auf die Probe stellen? Hatte sie den krankhaften Wunsch nach Experimenten wie eine Ansteckung von mir übernommen?

Ich konnte nur die Achseln zucken. Sie aber faßte das auf als einen Beweis, daß mir ihre Liebe und ihr Leben wertvoller seien als aller irdischer Besitz. Und dabei hätte mich schon ein Teil jener Versicherungssumme in den Stand gesetzt, die Stadt zu verlassen, nach Amerika zu gehen, mit allem zu brechen, was ich bis jetzt getan hatte und statt dessen etwas Neues zu beginnen, das mit dem früheren keinen Zusammenhang mehr haben sollte. Was war denn jetzt mein Leben? Nur der Versuch, ob die Versuche positiv oder negativ ausfielen. Und das Ende des Experimentes? Wenn das Experiment beendet wurde, mit einem Plus oder Minus, dann kam ein neues Problem an die Reihe, bestimmt, durch neue Experimente erhärtet zu werden und ein Ergebnis zu liefern, das immer nur wieder die Voraussetzung zu künftigen Arbeiten war. So idiotisch es klingt, und so sehr derartige Arbeit dem monotonen Spielen unmündiger Kinder ähnelt, ja noch dümmer ist als solches, dennoch ist es so. So beschäftigen sich zahllose Menschen Zeit ihres Lebens. Die einzige Glücksmöglichkeit ist ein Nervenzittern, eine Sensation, eine künstlich hervorgerufene und ebenso künstlich befriedigte Erregung, der »Reizhunger« wird aber nicht gestillt, nur getäuscht und alles geht weiter bis zum Tode. Wer es nicht glaubt, lese z. B. die Berichte der gelehrten Akademien, er überfliege die zahlreichen, wissenschaftlichen Zeitschriften und wäge den ungeheuren, wirklich kolossalen Umfang dieser Arbeit ab gegen den kärglichen Inhalt derselben; er halte die Arbeit und die aufgewandte Energie gegen den Nutzeffekt derselben, sei es in bezug auf die Fortschritte in der wahren Erkenntnis der Wirklichkeit oder in bezug auf die Hilfsmittel, um welche diese Beschäftigung die arme Menschheit bereichert hat.

Meine Frau konnte mir darin nicht folgen, so wenig, daß sie mich mit mitleidigen Augen wie einen unheilbar Geisteskranken ansah und meine Worte oft nicht einmal ernst nahm. Bloß den sinnlichen Teil unseres Zusammenlebens nahm sie ernst und das erbitterte mich in hohem Maße. Dabei war ich ihr, darf ich das Wort wagen, hörig, trotz meiner Abneigung, ich war ihr verfallen, trotz meiner Fremdheit, angewiesen auf sie, die mich zwang, ihrem sinnlichen Drang nach Leiden nachzugeben, der auch mir eine Art Befriedigung gewährte. Und dabei, ich kann gar nicht ausdrücken, wie stark, wie mit jedem Tage unbezwinglicher der Wunsch nach Freisein, nach vollkommener Loslösung von ihr. (Von mir.) Das war die letzte Sensation, die ich erstrebte.

Auch meine Frau fand in ihrem Scheinglück keine vollkommene Ruhe. Wie wäre das auch möglich gewesen?

Sie verfiel sichtlich. Sie begab sich bei ihrem Schwiegersohn in ärztliche Behandlung, und er verabreichte ihr eine Arsenkur, um ihre Lebensgeister, die meiner Ansicht nach schon viel zu überhitzt waren, noch mehr auf Touren zu bringen. Sie dünstete jetzt oft einen knoblauchartigen Geruch aus infolge der Arsenabscheidung durch die Haut, ihre Augen blitzten noch heller und feuriger als früher, jähe Röte wechselte mit jäher Blässe hinter ihrer emaillierten Maske, eines Tages brach sie unter schlaganfallartigen Erscheinungen zusammen. Ich eilte zu ihrem Bett, vergoß Tränen, pflegte sie mit aller Aufopferung und dachte, in innerster Seele erlöst, es sei das Ende. Ich gab ihr aus einer kleinen Pravaczspritze eine Morphiuminjektion. Dies tat ihr wohl. Ich wollte es ihr so leicht machen als nur möglich. Leider täuschten wir uns alle, mein Vater, ihre Tochter, mein Schwiegersohn und ich. Wir hatten nicht ihre übermenschlich zähe Natur erkannt. Sie war einer von den Menschen, die mit achtzig Jahren noch weite Gänge machen und mit neunzig Jahren über die Fünfzigjährigen triumphieren. Sie wurde gesund. Sie wurde gesünder als früher. Sie verreiste mit ihrer Tochter nach einem Badeort, und ich gab mich der unsinnigen Hoffnung hin, ein unvorhergesehener Zufall würde mich vor dem Wiedersehen bewahren.

Und dabei haßte ich sie nicht.


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