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XI

Ich werde mich jetzt in äußerster Kürze fassen, obgleich das Kommende, das ich in diesem Kapitel, dem elften, abtun will, den Inhalt jener Literaturart ausmacht, die man in unserer Zeit für die spannendste hält, nämlich den Inhalt der Detektivromane. Was mich im eigentlichen Grunde beschäftigt, sind Tatsachen, wie z. B. jenes »Torpedo«, die mindestens fünfzehn Jahre zurückliegen und meinen Vater zur Hauptperson haben, und sodann Tatsachen, die erst nach meiner Verurteilung in Erscheinung traten, und die sich später um die Gestalt meines Jugendfreundes (Freund darf ich ihn eigentlich erst nennen, seitdem er nicht mehr ist) Walter gruppieren.

Jetzt aber kommt meine Rückkehr in meine Behausung, (ich ging zu Fuß, machte Umwege und brauchte fast eine Stunde dazu), die Überraschung, im dunklen Treppenflur zwei stämmige Polizisten in Uniform aufgepflanzt zu finden, die sich brutal, aber geschickt meiner bemächtigten, kaum daß ich durch das Portal eingetreten war und das Treppenlicht angedreht hatte. Und während ich zwischen ihnen, halb besinnungslos, aber doch gefaßt, mit wahnsinnigem Herzklopfen, zusammengepreßten Zähnen und daher stumm, ihre Hände auf meinen Schultern, unsere Treppe mit dem sauberen, weichen, dunkelblauen Veloursteppich hinaufstieg, hörte ich von oben durch die offene Tür meiner Wohnung die erstickten Schreie, das heulende Weinen meiner Stieftochter, dazwischen die begütigende, pastoral schleppende, schleimige Stimme meines Schwiegersohnes, die jetzt, als sie in voller Milde, in Güte und tröstender Männlichkeit ihre Phrasen von sich gab, in mir den Wunsch erweckte, mich zu übergeben.

Übergeben hatte ich mich aber schon, und zwar in anderem Sinne: der staatlichen Gerechtigkeit. Denn ich bin von dieser Minute angefangen nie mehr freigekommen.

Hätte mein Vater mich in dieser Nacht vernünftig angehört, statt feige fortzulaufen! In komisch wirkender Unordentlichkeit war der wackre Alte, während die Krawattenenden um seinen mageren Greisenhals herabhingen und er einen Hosenträger unter dem Mantel bis zur Erde nachschleppte und über dieses Hosenband stolperte, mir, seinem Sohne entfleucht, weil dieser ihm ein unliebsames Geständnis gemacht, auf welches der famose alte Menschenkenner nicht gefaßt gewesen. Ja, hätte sich mein Vater auch noch in dieser Stunde, zur Krönung seines ganzen anarchistischen Lebens, dem Dasein gewachsen gezeigt, wie es eben war, ist und bleibt, ja, und nochmals ja, hätte er sich mutig in dem zu erwartenden Kampf aller gegen einen auf die Seite seines besten Schülers, auf die Seite seines einzigen Blutsverwandten, eben zur Partei meiner Wenigkeit geschlagen, hätte er mich wenigstens zu begreifen versucht , wo ich doch ganz andere Versuche unter den Händen gehabt, dann wäre alles anders geworden.

Viel schwächere, moralisch mittelmäßigere, banalere Geister haben den Dingen viel sachgemäßer ihren Tribut entrichtet, mein Bruder zum Beispiel – über den er sich mir gegenüber immer lustig gemacht hatte, – aber davon ist jetzt noch nicht die Rede – jetzt, wo ich zwischen den beiden Polizeibeamten die Treppe hinaufmarschiere, um dem Schwiegersohn und der Schwiegertochter gegenübergestellt zu werden – und meinem Opfer. Arme, alte Dame, die mir vielleicht den Liebesdienst erwiesen hätte, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, wenn damit ein besonderer Genuß für sie und ein besonderer Vorteil für mich verbunden gewesen wäre! Sie liebte mich ja. Sie war eben so geschaffen. Die gute Matrone hatte bald fünfzig Jahre alt werden und verschiedene Experimente, so ihre liebesleere erste Ehe, über sich ergehen lassen müssen, um sich selbst richtig zu verstehen. Ein Tod im Augenblick des größten Schmerz- und Lustempfindens war sicherlich in ihrem Sinne darin hatten wir uns immer verstanden. Gar nicht verstanden haben aber ihre Angehörigen den »Vorgang«, und ebensowenig verstand ihn dann nachher die triviale, nicht einmal auf dem Niveau eines Dienstmädchens stehende staatliche Justiz, und am wenigsten die öffentliche Sittlichkeit, vertreten durch die Presse. Diese sahen in allem bloß einen gemeinen Mord, eine Art Versicherungsmord durch Gift, ich war ein Landru mit dem Toxin Y, und sie ließen nur die rohen Tatsachen in ihrer nacktesten Roheit für sich (und gegen mich) sprechen.

Wie aber konnte es möglich sein, daß diese Katastrophe so unmittelbar wie eine prompte Reaktion im Laboratorium über mich hereinbrach?

Nichts einfacher als das. Meine Frau, die einzige, die mich wenigstens einigermaßen kannte, die einzige, die mich von einer gewissen Seite wenigstens nahm, wie ich wirklich war, und die mich auch nur so brauchen konnte, hatte ihre trüben Wahrnehmungen, ihre Befürchtungen und psychologischen Erkenntnisse ihren Angehörigen seit langem nicht verhehlt. Sie selbst war es, die auf den Gedanken gekommen war, man solle sie vor meiner Gegenwart schützen, solle sie internieren, eventuell entmündigen. Sie wollte, klug oder töricht, vor sich selbst geschützt sein. Sie selbst hatte Auftrag gegeben, meine Briefschaften auf wesentliche Tatsachen hin zu lesen, sie ihr aber nicht vorzulegen. Die hundeartige Hörigkeit zu mir und die Angst um ihr liebes Leben, dies hatte in ihr miteinander gekämpft, sie hatte nicht weniger experimentiert als ich. Neben diesen Experimenten waren die üblichen Unterhaltungen, Amüsements, wie sie ihrem Alter, ihrer Vermögenslage und ihrer gesellschaftlichen Stellung entsprachen, und die man mit dem Begriffe Bridge zusammenfaßt, natürlich keine hinreichende Befriedigung gewesen. Sie hatte eines Tages ihrem Drange nach Zerstörung (Selbstzerstörung) nachgegeben, war zu mir gekommen. Das war am Nachmittag gewesen. Abends hatte sie, als ich schon die Wohnung betreten und mir unten im Herrenzimmer mein Lager zurechtgemacht hatte, ihre Tochter und ihren Schwiegersohn angerufen und in der Vorahnung ihres Verhängnisses beide zu sich beschworen. Auf diese Angehörigen ging der sonderbare stumme, dreifache (oder war es nur zweimal?) Telephonanruf zurück, der aber auf jeden Fall zu spät gekommen war.

Und ich, in meiner nachtwandlerischen Sicherheit, hatte mich idiotischer als alle Idioten benommen! Man denke! Ich verlasse den Tatort, ohne das wichtigste Beweisstück exakt vernichtet zu haben. Ich verschweige die Tatsache des Todes meiner Frau dem Dienstpersonal, den Nachbarn, denen ich nachts begegnet war. Nicht genug daran! Ich mache meinem Vater, einer in diesem Zusammenhang völlig nutzlosen Person, die überflüssigste Mitteilung, die sich denken läßt, und bringe bei ihm eine ebenso idiotische Reaktion zustande, nämlich die Flucht mit dem nächsten Zug der Nordbahn nach dem Ort X. Am nächsten Tage erscheint er (zum ersten und letzten Male in seinem Leben!) nicht in seinem Amt. Die Schlingen des Strickes um meinen Hals werden noch enger zusammengezogen – durch meine und seine Schuld. Hätte er mir wenigstens das Geld gegeben, wenn nicht hunderttausend, so doch soviel, um ein Auto zu nehmen, um zurückzufahren. Ich wäre eine Stunde früher am Tatort gewesen, hätte das Fläschchen rechtzeitig vernichtet. Nur die ersten vier Stunden waren kritisch. Nachher war mir nichts nachzuweisen. Diese vier Stunden hätte ich bei meiner Frau ausharren müssen.

Nein, wenn der Alte schuld hatte, so lag sie tiefer, lag weiter zurück. Jetzt waren es nur Nebensachen. Wozu ihn anklagen ich hätte doch auch ohne Geld ein Auto nehmen und dieses bei mir zu Hause ablohnen können. Soviel Geld besaß ich stets. Ich war eben mit Blindheit und Torheit geschlagen. Denn wie anders kann man es nennen, wenn ein denkender Mensch, der sich so hoch einschätzt, daß er sich die Entdeckung des unsichtbaren Virus der Scarlatina zutraut, daß ein solcher Mensch die sichtbaren Beweise, die greifbaren Indizien seines kriminellen Tuns, die er doch verbergen will und muß, in voller Öffentlichkeit ausbreitet? Denn zu dem Husarenritt zu meinem alten Herrn, der durch meine Konfession seine alten Sünden abbüßen sollte, kam ja der erwähnte Versuchsfehler der gröblichsten Art. Was war mit dem Fläschchen mit dem Toxin Y geschehen? Statt es sicher zu zerstören (unter der Wasserleitung auswaschen, das Etikett abkratzen, das leere Fläschchen auf der Straße fortwerfen, und ebenso die Spritze), statt dessen werfe ich das Glasgefäß, verstöpselt, mit noch recht ansehnlichen Resten von Toxin Y darin, in das Becken der kleinen, mandelgrünen Privattoilette meiner Frau. Und ziehe ich wenigstens die Kette, um das Ding in den Hauptkanal hinabspülen zu lassen? Keineswegs. Und die Spritze? Nein, auch diese vernichte ich nicht. Sie bleibt im Schlafraum liegen auf einer Glasplatte. Ich hatte mich an das gute, präzis gearbeitete, feine, kleine Instrument zu sehr gewöhnt!

So gebe ich meinen Feinden die Waffen höflichst in die Hände. Der plötzliche Tod meiner Frau, mein Zögern, den Arzt aus der Nachbarschaft sofort trotz seines üblichen Zögerns zur Nachtzeit herbeizuholen, meine Weigerung, die angeratene Kampfer- oder Koffein-Injektion zu versuchen (Kampfer und Koffein hatten wir im Hause, schon deshalb, weil meine Frau nach der ersten Krankheit hypochondrisch war und von der Wirkung des Kampfers und Koffeins wußte), die auf der Nachttischplatte am Lampenfuß angelegte Spritze mit leicht blutiger Nadel, vor allem das kleine Fläschchen, das sich jetzt, säuberlich hervorgeholt, vor den Augen der Behörde mit bereits halb getrocknetem Etikett auf der Spiegelglasplatte befand! – Und die immer schneller, durchs Trocknen etc. deutlich werdende Schrift war von keiner anderen Hand als der meinen. – Der Rest des weißlichen, kristallinischen Pulvers konnte an meinen Versuchstieren als höchst giftig, als Gerinnungsgift erster Güte erkannt werden – das Blut meiner Frau konnte und mußte analysiert werden – alles stimmte und so konnte jeder Dilettant den strikten Beweis dieser Tat führen. Nämlich beweisen, was geschehen war. Aber beweisen, warum es geschehen war? Das war Aufgabe des Gerichts. Richten aber konnte nur der Mensch, der dies alles verstanden hatte. Richten konnte diesen Mord letzten Endes nur ich.


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