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II

Aber ein Optimist rechnet nur mit einem geringen Verlust durch Parasiten; und das war mein Vater, Dr. Georg Letham der ältere. Ein blühender Optimist, so wie er zum düstersten, giftigsten Pessimisten wurde nach seiner Rückkehr aus dem Norden. Aus der Natur in das Amt.

Solch ein Optimist kalkuliert mit einem gewissen Verlust, aber er stellt sich einen legalen Ausgleich zwischen dem Besitz des Menschen und der Zerstörungslust und Freßgier der unerwünschten Tiere vor.

Schwierigkeiten hatte er in Betracht gezogen, er war kein Narr, und ihm war viel anvertraut. Er war kein Feigling und Schwächling und glaubte seiner Aufgabe gewachsen zu sein.

Eine Nacht von vier Monaten Dauer schreckte ihn nicht. Anwesend waren nur Männer; es war bei aller geistigen Kultur eine öde, trockene Gesellschaft, die auch nicht viel amüsanter wurde, als sich ihr in einem Nordlandhafen ein freiwilliger Passagier, ein norwegischer Missionar protestantischen Glaubens zugesellte, für den kein Platz vorgesehen war und der sich bereiterklärte, die Stelle des erkrankten (oder zu seinen »liebenden Herzen« daheim zurückkehrenden) Proviantmeisters einzunehmen. Das ist die Gesellschaft. Dazu die Mannschaft, der Hund meines Vaters, die Papageien des Geographen meines späteren Onkels.

Dieselben Worte wiederholen sich bei denselben Anlässen, mechanisch abgeschnurrte Phrasen, Fragen und Antworten. Die gleichen Erinnerungen werden zusammenhanglos reproduziert, die gleichen Wahrnehmungen gemacht. Die gleichen Hoffnungen und Befürchtungen erfüllen die Herzen aller Expeditionsgenossen. Schauerliche Langeweile. Stundenlanges Kartenspiel ohne irgendwie wertvollen Einsatz. Kein Kontakt mit der Außenwelt außer wissenschaftlichen Beobachtungen und außer der in höheren Breitengraden immer selteneren Jagd. Kein Blau des Himmels während so langer Zeit, künstliche spärliche Beleuchtung bei Tag und Nacht. Keine Blume. Enges Hausen in dumpfen Kajüten, die man der Kälte wegen nie richtig lüftet. Süßes Wasser nur in minimalen Mengen. Denn man spart mit den Heizstoffen, welche den Schnee zu Süßwasser auftauen. Auch das Petroleum der Lampen, von der Kälte zu Klumpen gefroren, muß mühsam aufgetaut werden. Eine seltene Vergünstigung, um die bald Eifersuchtskämpfe beginnen, stellt ein warmes Bad in einem Holzbottich vor; es wird in unbequemster Haltung genommen, zusammengekauert, die Knie bis ans bartumwallte Kinn emporgezogen. Kein frisches Gemüse, kein Obst (eine reife, gelbe, aromatische Butterbirne »Prince of Wales« ist der Lusttraum vieler Nächte), kein Grün als das fahle Grün der Löschblätter in den Herbariumsfolianten, die man höchst unnötigerweise in diese unwirtlichen Gegenden mitgenommen. Denn was für Pflanzen sollen hier getrocknet, gepreßt werden? Was hier oben noch kümmerlich wächst, Algen, Flechten, Moose, ist ohnedies trocken und hart wie Stroh. Daher finden die Blätter des Herbariums »andere Verwendung«, sehr zum Verdrusse des Gelehrten, der schließlich mit den Bänden in seine Koje steigt und auf ihnen schläft.

Außerhalb des Schiffes, schon in wenigen Metern Entfernung von dem Segelschiff, Totenstille oder das knirschende Krachen der Eisplatten, das Mahlen und Knarren der Schollen, das hohle Brausen der eisigen, messerscharfen Winde, das explosionsartige Knallen der berstenden Eisberge und das ziehende, schlurfende Ächzen der Schiffswände, die unter dem Druck des Eises sich winden.

Die Menschen (ich spreche von der Zeit des Wartens, des Eingeschlossenseins am vorbestimmten Breitengrad), die Menschen an Bord ächzen, nicht wie Menschen seufzen, sie ächzen wie eine Holzplatte, die beim Tischler im Stock eingespannt und unter Druck gesetzt wird. Sie verlernen überraschend schnell das Zuhören, sie verlernen das sinnvolle Sprechen. Trägheit, Lebensschwäche, Apathie. Müde, müde. Sie brummen und knurren unartikuliert, beim Erwachen schon gereizt, stumm, verbissen, ironisch, mißmutig bis in die Tiefe des rebellierenden Magens. Nur der Norweger und mein Vater haben noch Laune, der erste mit Hilfe des Alkohols. Immer ist einer der anderen Gefährten auf der Kippe, dem man eine Waffe mit Gewalt fortnehmen muß. Drei Tage später nimmt er sie dann einem anderen fort, und so macht der gleiche Revolver die Runde durch einen großen Teil der Besatzung. Ernst ist es keinem, sie machen nur »Theater«, sie spielen mit dem Gedanken, und es besteht sogar der Verdacht, daß sie durch dieses »Theater« Kostverbesserungen anstreben, die nur für die Kranken und Entkräfteten bestimmt waren. Schließlich kann mein Vater alles in Ordnung bringen. Im Grunde glauben sie alle noch an das Gelingen. Nur haben sie es sich nicht so schwer gedacht. Die Kälte lähmt. Schauerlicher, ans Herz greifender Frost. Endlich friert das Schiff über Nacht auf dem achtzigsten Breitengrad ganz fest ein. Es schaukelt nicht mehr, wiegt sich nicht, es steht wie ein Haus, es ist wie festes Land. Gut.

Dieses sind die voraussehbaren Schwierigkeiten. Man hätte sie überwunden. Aber die Ratten! Sie begannen sich etwas stark zu vermehren. Anfangs hatte man sie nicht weiter beachtet. Einer der Gelehrten hatte sich sogar zwei ganz junge Ratten zu zähmen versucht und dieselben in einem strohgeflochtenen Körbchen großgezogen, oft kindisch vergnügt lachend, wenn sie an seinen Fingern bissen und wenn sie mit ihren länglichen Vorderzähnen raspelten, sooft er ihnen die Hand hinhielt. Aber Ratten waren keine Spielzeuge, sie waren unangenehme Überraschungen.

Wenn man es am wenigsten vermutete, steckten sie, mit den klugen, scharfen, bösen Augen blinzelnd, ihre spitzen, dünnbehaarten Schnauzen, ihre schmutzfarbenen Köpfe mit den langen Schnurrbärten und den nackten, fledermausartig kahlen Ohren hervor. Sie meldeten sich. Sie verständigten sich untereinander. Sie hatten die gegenseitige Verständigung noch nicht verlernt. Sie schossen hierher und dorthin, zielbewußt. Sie waren nicht apathisch. Ihnen fehlte kein Blau und kein Grün, sie schwitzten nicht und froren nicht. Sie lebten und waren frech. Aber dem Führer der Expedition schienen sie zu dieser Zeit nur sehr lästig, aber ungefährlich.

Das waren die ersten Monate im Packeis, ein Aufenthalt, der sich nach den Umständen auf lange Zeit erstrecken konnte.

Auch diese Gegend ist nicht ganz von Menschen verlassen. Es erschienen ältere und jüngere Eskimos, von dem Licht in den Kajüten weither angezogen, mutige Felljäger, die mit ihren Kajaks oder mit Hundegespannen in die Nähe des Schiffes gekommen waren, je nach den Wetterverhältnissen. Der Missionar war wie elektrisiert. Auch die Eskimos zeigten viel Lebhaftigkeit. Sie wußten bereits oder lernten sehr schnell, was Tabak und Schnaps ist und wußten auch den Weg zu diesen Herrlichkeiten: die Bekehrung. Sie küßten die Bibel, tranken den Schnaps und kauten oder fraßen den Tabak. Und lachten breit. Es waren in kostbare Felle gekleidete, nach faulendem Tran stinkende Menschen mit herrlichen Gebissen im schmutzdunklen Gesicht; unkultiviert, stumpf gegen Gefahr und Tod, vom Aberglauben besessen. Man predigte ihnen das Christentum, und sie erzählten großartige Märchen und Mythen. Die gleichen Männer gaben klare, wissenschaftlich präzise Berichte von den Wetterverhältnissen, den Strömungen, der Richtung, welche die Eisberge einschlugen, von der Regelmäßigkeit der polaren Lichterscheinungen. Sie konnten berichten von ihren Jagdabenteuern, sie wußten viel über die Lebensgewohnheiten der Polartiere, mit denen sie und ihre Vorfahren auf den Jagdfahrten vertraut geworden waren. Nur von den Jagden auf Schiffsratten wußten sie nichts, sie kannten nicht einmal den Gebrauch von Mäusefallen und daß man die Ratten mit Speck lockte, schien ihnen frevelhafte Verschwendung.

Man konnte sich auf Umwegen mit ihnen verständigen. Der Sprachforscher und der Norweger erlernten zuerst ihr Idiom, und ihre lebhafte Zeichensprache tat das übrige. Ihre Geschichten hörte jedermann mit Vergnügen, und man zog sie zu sich durch allerlei Leckerbissen, durch Mundharmonikaspiel und vor allem durch Alkohol, den sie in jeder Form und Menge schätzten, eßlöffelweise und literweise, – und faßweise. Eines Abends waren sie besonders heiter, und zwei von ihnen führten den berühmten Trommeltanz auf. Der eine ahmte einen spielenden Seehund nach, der zweite einen wütenden Eisbären. Ihre Belohnung bestand wieder in Alkohol. Nach einer Zeit verschwanden sie, ohne Abschied zu nehmen, ohne Spuren zu hinterlassen.

Nach längerer Zeit erschien ein zweiter Trupp (meist älterer Männer) der ein etwas anderes Idiom sprach, nicht so mitteilsam und kindlich war wie der erste, mit dem man sich aber auch bald freundschaftlich verständigte. Ein alter Mann aus dieser Gruppe ließ geheimnisvolle Andeutungen hören von einem weißen Mann, der nach dem nördlichsten Norden wollte. Ein Europäer? Aber doch nicht ein Europäer, ein Mann wie diese Gelehrten da – die plötzlich blaß geworden, sich im Kreise um den Sprecher scharten? Doch. Alle verstummten bestürzt. Keiner ließ aber etwas merken. Es war kein Pelzjäger. Kein Robbenfänger, kein Walfischtöter, kein Kapitän, kein Missionar. Ein zweiter Nordpolfahrer mußte es sein.

Meinen Vater befiel furchtbare Ungeduld. Er wollte sich mit den Kameraden beraten. Er hatte zu kommandieren, auch der Schiffskapitän hatte ihm zu gehorchen, aber bei diesem Schiffsrate hatten alle gleiches Stimmrecht, Mannschaft und Offiziere, Gelehrte und Ungelehrte.

Man konnte ihm aber keinen Rat geben, und er konnte keine Befehle geben. Man mußte warten.

Der Vater änderte sich, er wurde reizbar, versteifte sich oft auf seine Autorität, spielte mit Erfolg die Männer gegeneinander aus, wurde überhöflich und launenhaft.

Alle begannen mit jeder Stunde mehr unter der unnatürlichen Art des Zusammenlebens zu leiden. Die Streitigkeiten häuften sich, mein Vater hatte zu entscheiden und urteilte vielleicht oft parteiisch, bisweilen wollte er sich dem Urteilen entziehen, seine Ruhe haben, nicht belästigt werden, – geschah aber dann etwas ohne sein Wissen, wurde er empfindlich und zog sich zurück, persönlich gekränkt. Der offene kameradschaftliche Ton hatte aufgehört.


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