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II

Ich hatte March damals »Gummi« getauft. Gummi ist ja etwas Herrliches, es gehört zu den Dingen, die die Welt regieren. Für die zur Gummifabrikation notwendigen Kautschukplantagen werden weite Landstriche in den Kolonien urbar gemacht, der paradiesische Müßiggang der farbigen Herren wird ausgerottet. Die farbigen Proleten werden zu Tode gearbeitet, und wenn sie sich empören, wenn sie zu den nationalen Sitten des tropischen Müßiggangs zurückkehren wollen, dann wird der Krieg gegen die Kolonie eröffnet, man scheut vor der Verwendung von Fliegergeschwadern mit Giftgasbomben nicht im mindesten zurück. Mensch vergeht – Gummi besteht.

Was ist der einzelne? Mußte nicht ein Mann wie March froh sein, wenn er als einzelner ernst genommen wurde, wenn er einen neuen Namen bekam, nein, zwei neue Namen? Denn sobald ich sein süßliches, gar nicht enden könnendes Lächeln sah, nannte ich ihn nicht nur Gummi, sondern auch Bonbon, »Gummibonbon«. Sein warmes Herz war eben nichts anderes als ein Gummibonbon, und dabei blieb es. Tritt man einen Gummibonbon mit Füßen, oder schleckt man ihn voll Liebe ab – er bleibt immer, was er ist.

»Mein Liebster, Sie langweilen mich«, sagte ich ihm, wenn er nachts wieder einmal zu einer Erzählung seines Lebensromanes ansetzen wollte. Ich war müde, ich hatte Pflichten aufgehalst bekommen, man hatte mich zwar von der Reinigung der Wasserkübel entbunden, aber wenn ein typhuskranker Verbrecher im Lazarett ein Klistier ersehnte, dann rief mich der Wärter.

Man erinnerte sich also meiner glorreichen Leistungen als Arzt. Hatte ich mir das nicht gewünscht? Man glaubte, ein alter Arzt wie ich wäre diesen herrlichen Aufgaben am besten gewachsen. Die amtlich bestellten, für ihre Leistung viel zu reichlich bezahlten Wärter waren so träge, daß sie beim Zusehen sogar einschliefen. Die Hitze war denn auch mörderisch. Selbst oben unter freiem Himmel nahm einem die Schwüle den Atem. Aber gar erst unten bei uns oder im Schiffslazarett, in dem kleinen Raum, wo Menschen neben Menschen lebten, wie Ratten bei Ratten! Schweigen war das beste!

Als ich in einer Nacht von meinem Werk der tätigen Liebe zurückkehrte, überraschte mich ein frischer Luftzug. Über meinem Kopfe strich so ein feines, salzhaltiges Lüftchen dahin. Welch eine Wendung durch Gottes Güte! Der Gummibonbon, den sein Innenleben nicht richtig schlafen ließ, von der äußeren Hitze ganz abgesehen, sah mich mit schwimmenden Augen an. Plötzlich fühlte ich salzhaltiges Naß über meiner Oberlippe. Wer wird denn weinen? Aber nicht doch! Echtes, schönes, salzhaltiges Meerwasser war es, die Luke über meinem Kopf war in meiner Abwesenheit eingeschlagen worden. Ich hatte die herrliche Wohltat der frischen Brise.

Strenge Untersuchung. Wer hatte das Fenster eingeschlagen, das nicht geöffnet werden durfte? Drohendes Strafgericht.

Was strafen? Wen strafen? Wie wollte man den armseligen Passagier noch besonders strafen? Nichts leichter als das! Es gab nahe der Maschine einige fast hermetisch mit Eisentüren abgeschlossene Kammern, wahre Höllenkammern, aufrecht stehende Dunstrohren, nicht viel breiter als ein mittelstarker Mann; in diese konnte man die disziplinarisch zu Strafenden einschließen und im eigenen Safte belassen. Die Heizer wurden alle drei Stunden abgelöst, und ein Gummibonbon wurde achtundvierzig Stunden lang geröstet.

Wie hatte nun Gummibonbon seine Tat fertiggebracht? Mit der Eisenkurbel seines Grammophonapparates. Oh, dieses Grammophon, welch ein Wunderwerk der Technik! Die schönsten Melodien in seinem Innern. Eine rührende Reliquie aus dem vergangenen Leben. Und auch noch ein Werkzeug, auf daß ich, der Herzensfreund, in frischer Luft schwelgen konnte.

Gut! Gummibonbon wanderte in die Dunstkammer. Das war der Lohn für seine gute Tat!

Aber was tut Liebe nicht alles für Liebe! Er wankte nach achtundvierzig infernalischen Stunden zurück, zwar schmutzbedeckt und fast blind vom langen Aufenthalt im Dunklen, äußerlich kaum mehr einem Menschen ähnlich. Aber in seinem Herzen war er freudiger denn je! Verzweifelt und freudig zugleich, hörig und doch mit außerordentlicher Energie begabt, Mann und Weib, eine Mischung einander widersprechender Seelenkräfte, die einen Experimentator reizen könnte. »Armes kleines Kerlchen«, sagte ich ihm, als ich ihm das anvertraute Gut, den Grammophonapparat und seine übrige Habe treulich zurückerstattete, »liebes, armes Tierchen, du!« Und glückselig lächelte Gummibonbon.

Das Schiff schlingerte wild. Die zerbrochene Scheibe des Bullauges war während der Fahrt nicht zu ersetzen. Die Kühle und die reine Luft taten gut und würden mir während der ganzen Fahrt eine Wohltat sein, aber vor dem Meerwasser hatte ich seit dem so unrühmlich bestandenen Kampf mit dem roten Hund allen Respekt. Aber wozu hatte man einen Gummibonbon? Er stopfte bei stürmischem Seegang seinen kostbaren Sack in die Öffnung, mochte das bittere, scharfe Meerwasser dringen, wohin es wollte. Hauptsache, ich war geschützt und ruhte sanft in seinen Armen. Ja, in seinen Armen, das wünschte er wohl, aber er sollte es nie erleben. Vor dieser Liebe, schwor ich mir, würde ich mich zu schützen wissen.

Ich ahnte, daß diese Liebe ihn hierhergebracht hatte. Ich wollte ihm nicht mehr den Mund verschließen, ich wollte ihn nun erzählen lassen. Und wenn er seinen Roman heruntergeleiert hatte, wozu ihn sein übervolles Herzchen drängte, dann wollte ich ihn voller Liebe ansehen, ich wollte die Lippen zum Kusse spitzen und würde mit der zärtlichsten Stimme, deren ein ausgekochter Anarchist und Liebesfeind fähig ist, zu ihm sagen: Nein! Das muten Sie mir zu?

Oder war es besser, ihn gar nicht so weit kommen zu lassen? Vergewaltigen würde er mich nicht. Das er habe ich unterstrichen, nicht das mich! Andere Männer sind von anderen Männern hier in diesem Raum III der »Mimosa« vergewaltigt worden, ich habe es ja gesehen, und die anderen haben es gesehen, und die Wachen haben es gesehen, und es hat Schreien und Jammern und Lispeln und all die albernen keuchenden und schluchzenden Ausbrüche einer seit Monaten zurückgestauten Sinnlichkeit unter diesen vertierten Herzen gegeben, und der gute Gummibonbon hat mir die Hand vor die Augen halten wollen, damit ich diese Scheußlichkeiten nicht sehe. Hat er vier Hände, damit er mir auch die Ohren zustopfen konnte? Was Augen und Ohren?! Die Seele! Was war mir das!!

Der Generalarzt hatte mich am nächsten Vormittag mit einem Blick gestreift. Er hatte zwar nicht auf meinen de- und wehmütigen Gruß geantwortet, aber er hatte, als ich ihn daraufhin fixierte, den Kopf abgewendet. Oh, an mir ist es, beschämt zu sein, Herr Generalarzt!

Er war der König des Schiffes, aber wie alle Könige schon wegen seines überhohen Ranges einsam. Selbst der Schiffskommandant stand um viele Dienstgrade unter ihm, der Kommandant unserer Gesellschaft war gar auf den untersten Stufen der Dienstleiter, während Carolus sich hoch oben langweilte.

Ich drängte mich ihm nicht auf. Ich wartete ab. Ein Wort von ihm war Goldes wert. Aber solange ich das nicht hatte, hielt ich mich an das, was ich besaß, an das »liebende Herz«, hier dieses da, March, der mich umschmeichelte. Ich verstand zwar nicht, wieso ich, nicht mehr jung, nicht mehr schön, diesen armen Teufel »verzaubert« hatte, wie er es nannte, aber es war so gut, verwöhnt zu werden, die besten Bissen zugesteckt zu bekommen, gepflegt zu werden wie ein Kind! Es rührte mich, wenn er mir anbot, für mich das Grammophon, das bis jetzt noch keinen Ton von sich gegeben hatte, in Gang zu setzen. Einer der Sträflinge, Soliman, der Zweieinhalbzentnermann, der kupfergesichtige Koloß mit einem Mund, der unter einer kühnen Raubvogelnase breitwulstig und blaßrot vorschwellend fast den ganzen unteren Teil der brutalen Physiognomie ausmachte, eine Riesennummer, die trotz Gemeinheit (Lustmord, Kinderschändung), einer gewissen orientalischen Majestät und zynischen Überlegenheit nicht entbehrte, hatte ihm ein schönes Stück Geld für den Apparat angeboten. Vergeblich. Dann mehr. Die Menschen sind Kinder. Nicht ernst zu nehmen. Gummibonbon war nicht anders als »Sultan Solimann«, der Koloß, der reiche Mann. Alles Trieb und sonst nichts. Warum sollte ich mich gegen Gummibonbons Liebe sträuben? Her damit! Decke auf! Erzähle, beginne! Zirpe deinen Song!!


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