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VIII

Wolkenlos leuchtet die Sonne hoch im Scheitelpunkt des Himmels. Die Klinke der Tür des Schiffslazarettes ist so stark erhitzt, daß ich sie nur mit einem Taschentuch öffnen kann, wenn ich von einem kurzen Gang über das Oberdeck zurückkomme. An den Sohlen der Schuhe klebt der Teer aus den Bretterfugen des Verdecks. An Ruhe bei Tag ist nicht zu denken, wenn auch das Befinden der Kranken sich nicht mehr so hoffnungslos anläßt wie zuerst, als ich in das Schiffslazarett hinüberkam. Nachts kann niemand schlafen.

Delphine in großen Scharen folgen dem Kiel des Schiffes, tummeln sich im Mondschein, spritzen silbern leuchtendes Wasser um sich. Kein Land. Aber es muß nicht allzuweit sein, denn wir sind schon über zwei Wochen an Bord. In einer Zwischenstation hat die »Mimosa« eine Viehherde, Hammel, Schweine, Ochsen, an Bord genommen. Täglich wurde ein kleineres Stück geschlachtet, alle paar Tage ein größeres. Jetzt ist die Herde auf wenige Stücke zusammengeschrumpft. Die Hammel sind jämmerlich abgemagert. Sie mahlen mißmutig das trockene Heu mit den langen Zähnen, ziehen die trockenen Zungen den leeren Wasserbottich entlang und blöken zitternd und kläglich. Die zwei Rinder liegen mit aufgetriebenen Bäuchen schwer atmend da, und wenn man sie nicht bald schlachtet, werden sie an Entkräftung eingehen. Sie sind mit Stricken und Ketten fest angeschnallt, damit sie nicht bei stärkerem Schlingern des Schiffes von Deck abgleiten. Niemand kümmert sich um sie außer dem Schiffskoch, der sie längs des hageren Rückgrats verachtungsvoll befühlt, und dem Sträfling March, der sie füttert und tränkt, so gut er kann. Man muß mit dem Futter und dem Süßwasser sparen. Aber selbst bei reichlichem frischen Futter und reichlichem frischen kühlen Wasser wäre die lange Fahrt auf dem schwankenden Schiff in der sengenden Hitze für die Tiere eine unnatürliche Qual. Qual oder nicht, sie erfüllen ihren Zweck. Ihr mageres, saftloses Fleisch ist besser als nichts.

Eine große Meerschildkröte treibt im freien Meere in der hellen, heißen Nacht vorbei. Auf ihrem holzbraunen Rücken trägt sie einen silberfarbenen Vogel, einen Reiher. Die Schildkröte ist an zwei Meter lang. Flink und doch seelenruhig paddelt das Tier mit den langen Schwimmfüßen dahin, den winzigen Kopf vorgestreckt, ihn unter die weichen, tiefblauen Wellen tauchend und wieder hervorhebend. Der Schiffskoch signalisiert das Tier den Offizieren, die noch spät nachts im Lichte des (reparierten) Azetylenscheinwerfers eine Jagd versuchen. Aber sie mögen so eifrig knallen als sie wollen, diese Beute entgeht ihnen.

In großer Ruhe erhebt sich der Reiher von seinem schwankenden Sitze. Schon schwebt er in der monddurchleuchteten Luft, den langen Hals vorgestreckt, den spitzen Schnabel vorgestoßen, die riesig klafternden Flügel kaum bewegend. Er wendet sich, zieht immer höhere Kreise.

Nach langer Zeit, weit hinter unserem Schiff zurückgeblieben, klein wie ein Schmetterling, läßt er sich mit unbewegten Fittichen wieder auf seinem Schiff nieder, der treibenden Meerschildkröte der Gattung Chelisdoria aus Galapagos oder aus dem Golf von Panama. Ihr winziger Kopf ist lange schon völlig in dem hellen, mondglitzernden Kielwasser der »Mimosa« verschwunden, und die Offiziere, gähnend, müde und schlaflos, kehren in die beleuchtete Messe zurück und lassen die Gläser klirren.

Andere Zeichen des sich nähernden Landes mehren sich, Strünke von Urwaldbäumen, ebenso lang wie das Schiff, treiben nachts vorbei. Knorrige Kronen ohne Blätter. Zähe Schlingpflanzen mit lilafarbenen Blüten hängen aber noch wie Nester in den glatten Zweigen, olivfarben oder dunkelgrün. Viele Vögel sitzen auf den Baumstämmen, die aus den großen südamerikanischen Flüssen dem Meere zugeschwommen sind. Rosenfarbene Flamingos, auf einem Beine stehend, die Köpfe unter die Flügelgelenke der Achsel geduckt, schlafend, reifen mit dem ästereichen Floß auf treibendem Meer, im bläulichweißen Lichte des beinahe taghell leuchtenden Mondes.

Könnte man ruhen! Könnte man schlafen! Seit der ersten Nacht hier auf der »Mimosa« habe ich nie wieder die tödlich auflösende, himmlisch beruhigende Wirkung des tiefsten Schlafes an mir erfahren.

Kein Wind bewegt die heiße Nachtluft. Die Ketten des Steuerruders knarren, der kleine Steuermotor pafft, die große Schiffsmaschine arbeitet regelmäßig, die Schraube dreht sich unter dem Schiffslazarett, am Stern des alten Dampfers. Aus der Schiffsmesse kommt das laute Lachen und Sprechen der Offiziere, die in der Tropennacht keinen Schlaf zu finden vermögen, so wenig wie ich. Auch unten in den Verliesen der Sträflinge ist keine Ruhe. Das Grammophon Marchs wird ohne Aufhören gespielt, das Gequäke der abgeleierten Platten nimmt kein Ende. Aus meiner Luke, die der treue March seinerzeit eingeschlagen hat, der einzigen, die offen ist, weht ein weißes Tuch hervor. Vielleicht Wäsche, die ausgewrungen worden ist und die draußen trocknen soll.

Eine Ratte huscht an meinen Füßen vorbei zu den unruhigen, hart angeschirrten Schlachttieren und verschwindet dort unter den zerstreuten Heubündeln. Ein leises Quieken, ein müdes Mä-ä-hä aller Hammel, ein Klirren der Kette der Rinder –.

Von der Kommandobrücke hört man leise und gedämpft die Kommandos des Offiziers durch den Schiffstelegraphen an den Steuergänger, und darauf antworten prompt die rasselnden Züge der langen Kettenzüge, die das mechanische Steuer bedienen, und mit einem Male weicht in weitem Bogen der Kurs des Schiffes, der meilenweit eine schnurgerade Linie in dem Kielwasser gebildet hat, nach Backbord ab.

Die treibenden Baumstämme sind verschwunden. Am Horizont zeigen sich die Konturen von etwas Festem im schwebenden Glanz, entweder hügeliges Gelände auf einer der vielen Inseln oder bloße Wolkengebilde.

Nur eine Stunde Ruhe! Sich auf den Boden des Decks hinlegen, die Augen gegen den unbeschreiblich klar ausgestirnten Himmel erheben, Sternbild neben Sternbild, die Milchstraße wie ein breites, beiderseits ausgebuchtetes Flußbett von mildester, alles erlösender, tödlich ruhevoller Leuchtmasse. Beim Schwanken des Schiffes begegnet der Blick oben immer neuen Partien des an Licht, Kraft und Herrlichkeit unerschöpflichen Himmelsgewölbes.

Ein Kranker in seiner Koje stöhnt. Ich mache mich von dem Anblick des Himmels los und gehe zu ihm.

Aber er scheint der einzige zu sein, der in dieser fast greifbar schwülen, Stern- und monderhellten Nacht schläft. Er wenigstens mag den lange entbehrten Schlummer nachholen, er soll nicht gestört werden. Stirb, wenn du kannst, lebe, wenn du mußt. Du entgehst dir nicht, gemeines Herz und dennoch mitleidswert!

Himmel, Sterne und Firmament, Schildkröten und Reiher und Baumstämme, mit lebender Besatzung im Wasser friedlich reifend, ein großes Rudel von Delphinen, in weiter Entfernung unermüdlich tanzend und spielend und Wasser zu Fontänen versprühend – wer diesem Zauber glauben könnte! Aber es ist nur die geschminkte Larve der Natur! Alles ist schön, und nichts ist wahr. Die überirdische Schönheit der Natur ist ebenso quälend wie Marchs Liebe. Was ist das mir? Was kann es sein? Der Traum eines verlorenen Menschen vor seiner Hinrichtung. Morphium ohne Einspritzung. Könnte man glauben! Wissen muß man! Glauben kann man nicht. Ich kann es nicht.

Besser ist es für mich, zu dem übelriechenden, scheußlich anzusehenden Typhuskranken zurückzukehren, seinen Schlafraum gründlich zu desinfizieren, mich in der atemraubenden Schwüle und Hitze der nicht endenwollenden Nacht der schwersten körperlichen Arbeit zu unterziehen – nur um mit mir selbst nicht lange allein zu sein.

Dann in einem Winkel des Vorraumes, in den die Türen zu den Kojen der Kranken, zu der Schiffsapotheke und dem Klosett der Kranken münden, sich ein Lager aus Decken und einem ausgedienten Strohsack zurechtmachen, sich niederwerfen und hier den Schlaf des Gerechten suchen, bis er, der herrlichste von allem, dann gegen den purpurglühenden Morgen kommt, zu der einzigen erträglichen Stunde des Tages. Denn um diese Zeit, fünf Uhr morgens, weht ein stärkerer, herberer, schattenkühler, erfrischender Wind, ein tröstender.

Um sieben Uhr erwache ich wieder und erhebe mich schnell, um in allen Räumen des Lazaretts Ordnung zu machen. Die Tür des Klosetts ist nicht verschlossen, ich öffne, und da sitzt – der gute Generalarzt hinter unverschlossener Tür auf seinem Thron, raucht eine Zigarre, die nicht brennt, und ist tief in Gedanken versunken. Er rührt sich nicht. Könnte sein tiefes, hingegebenes Nachdenken die Wissenschaft und das zeugende Genie ersetzen, dann wäre seiner Reise der große Erfolg beschieden. Gott mit ihm! Leise schließe ich die Türe, wasche und füttere meinen typhuskranken Straßenräuber und denke über nichts nach.


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