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XVI

Als ich am nächsten Morgen an der Grube vorbeikam, erblickte ich in ihr eine Ratte. Aber es war nicht mehr dieselbe, welche die zwei Liter Fett vertilgt hatte. Denn sie war viel größer, hatte einen langgestreckten, hageren Körper. Sie war unruhig, rannte unaufhörlich umher. Die Grube war verunreinigt. Anstelle des Fettes waren Blutreste zu sehen, aber nicht solche von dunkler Farbe, eher verwässerte, hellrote. Auch Hautfetzen, Krallen und schlecht abgenagte Reste einer Wirbelsäule lagen hier umher. Die Ratte trieb sich zwischen diesen unappetitlichen Dingen herum, beroch das Blut, schüttelte ihre Barthaare, legte den Kopf auf die Seite, fletschte das starke Gebiß, warf sich dann gegen die schwere Kruke und rollte sie in den Winkel, schnupperte lange daran und stellte sich dann davor, als wolle sie die Kruke bewachen.

Ich ging in die Schule. Es waren die letzten Tage vor den Ferien, der Unterricht wurde nicht mehr so ernst genommen. Mittags kehrte ich heim, sah aber absichtlich nicht in die Grube hinein. Am Nachmittag begab ich mich wieder in die Schule, wo wir Turnen und Stenographiestunde hatten, nicht obligate Fächer. Nachher ging ich auf den Tennisplatz. Als ich abends heimkehrte, war mir, als ob mir die gefangene Ratte unten in der Grube nachliefe. Vom Hofe aus war übrigens die Höhle nicht so gut zu überblicken wie von oben. Oder ich bildete mir dies ein, es zog mich mit magischer Gewalt in das Zimmer meines Vaters, wo ich mich, was eigentlich verboten war, in den Lehnstuhl vor dem Schreibtisch niederließ. Als mein Vater kam, war ich wieder aufgestanden und bei meinen Lektionen. Der Abend kam. Ich schlief schwer und spät ein. Mit meinem Vater unterhielt ich mich nicht. Ich glaube, es war die Zeit, wo La Forest seinen Abschiedsbesuch machte, ich kann mich aber auch täuschen. Von der Ratte hörte ich nichts, als ich in meinem Bett lag. Aber die Kronen der Bäume rauschten. Plötzlich trat Windstille ein, und ich hörte den Springbrunnen in das kleine Becken plätschern. Weit entfernt klang es. Mein Vater hatte vergessen, den Hahn abzudrehen, was er im Hochsommer immer zur Nacht tat. Die Wassermenge, die auf diese Weise abgespart wurde, konnte man morgens zum Sprengen der Rasenflächen verwenden. Wasser kostete Geld, was ich lange nicht glauben wollte. Aber mein Vater, der sonst vor einer Lüge nicht zurückschreckte (nur gelernt will es sein, sagte er) belog mich nie. Keinem sagte er das, was er sich dachte, nur mir.

Die Vögel regten sich unruhig in den Zweigen der Platane, die vor den Fenstern stand. Die Luft war feucht, aber es sah nicht nach Regen aus. Sie duftete würzig, von dem Speckgeruch lag nichts mehr in der Luft.

Schon wenige Minuten später erwachte ich aus einer sehr tiefen Schlafbetäubung (ich glaube, es war schon gegen Morgen und es dämmerte,) durch einen Todesschrei.

Wenn ein Tier stirbt, schreit es ganz anders als im Leben. Genauso der Mensch. Von den größten Schmerzen können sowohl Tier wie Mensch gemartert sein – solange aber ihr Schreien nicht das allerletzte ist, klingt es ganz anders. In dem Todesgeschrei liegt ein ganz eigenartiger Tonfall. Ein Anschwellen, ich möchte sagen, eine Art grauenvollen Jauchzens. Käme es doch nur endlich aus meinem Ohr, das Todesjammern meiner armen Frau!

Heute weiß ich es, als reifer, überreifer Mann. Damals ahnte ich es nur, als unreifer, überreifer Knabe. Aber ich erkannte es, obgleich ich damals noch kurze Beinkleider trug und auf der Schulbank unter Knaben saß.

Man wird sagen, so empfindet ein Kind nicht, so sieht ein halbwüchsiger Junge nicht die Welt. Vielleicht würde selbst ich das sagen, wenn mir ein anderer mein Leben erzählte. Und doch ist es so gewesen. Welchen Zweck sollte es haben, daß ich mich über mich selbst belüge?

Ich hatte ja ein normales Kind neben mir, meinen Bruder. Ich hatte noch an dem gleichen Tage gesehen, wie er abends, ohne sich um die »eklige« Rattenvertilgung zu kümmern und ohne mehr als nur einen neugierigen Blick in die Porzellangrube zu werfen, daran absichtlich stampfenden Schrittes, schellenklingelnd vorbeigelaufen war, als ihn meine kleine Schwester aus dem Garten rief. Sie hatten eben ihr altes, einfältiges Spiel gespielt, das darin bestand, daß mein Bruder, ein großer, vierschrötiger, sehr phlegmatischer Junge, eine Art Ledergeschirr, das mit Schellen aus Messing besetzt war, sich umspannen und dergestalt »ein Roßpferd« spielen sollte. Meine kleine Schwester hatte einmal etwas von Rassepferden gehört und dichtete das Wort so um. Das Geschirr war eigentlich für sie bestimmt gewesen und hätte denn auch ihr, einer pausbackigen, hellblonden, blauäugigen, etwas schielenden (und deshalb immer mit einer Weitsichtigenbrille bewaffneten) kleinen Kröte auf den Leib gepaßt, aber sie, trotz ihrer Jugend eine ganze Eva, sie hatte den um so viel größeren und stärkeren Bruder dazu veranlaßt, sich das Geschirr umzubinden, in das knapp seine beiden, parallel gehaltenen Arme, aber keineswegs sein Brustkorb hineinpaßte. So waren sie dabei, »Roßpferd« und »Kutscherin« zu spielen.

Vor mir hatten meine Geschwister Angst. Dabei waren sie es, die eifersüchtig ihren Schatz an Spielsachen hüteten, die ich nie berühren durfte, während ich die meinen ihnen nur zu gern zur Verfügung stellte. Aber sie nahmen sie nur in meiner Abwesenheit. Stehlen machte ihnen mehr Spaß als Beschenktwerden. Grotesk, aber wahr; mehr als wahr, normal. Ich war also von normalen, gesunden, quietschvergnügten Wesen umgeben. Aus meinen Geschwistern sind denn auch normale, gesunde Menschen geworden. War also dann meine Sünde keine Erbsünde? Wir hatten doch alle das gleiche Blut geerbt.

Meine Geschwister schliefen auch jetzt ruhig in den zwei Nebenzimmern rechts und links von meinem, ich aber war schon am Fenster und sah hinab. Es mußte eben zu regnen begonnen haben. Durch den Regenschleier sah man zwei Tiere übereinander. Die Tropfen machten die Felle der Tiere blank, dunkel. Eine Ratte lag oben und schien auf der anderen zu reiten. Mit den Krallen der Vorderpfoten hatte sie der untenliegenden die Kehle zusammengedrückt. Ich schrie leise auf. Das Tier hob seinen Kopf, wandte den Hals nach oben, äugte umher. Ich schwieg. Während durch das Rieseln des Regens ein leises, wie Miauen klingendes Klagen aus der Kehle der Besiegten drang, hackte die Siegerin der anderen ruhig und überlegt auf den Schädel und biß ihr die leise krachende Hirnschale durch, schmatzte das Gehirn heraus, warf dann den Kadaver auf die Seite und machte sich an die Baucheingeweide. Sie arbeitete darin leidenschaftlich umher. Der Regen hörte bald ganz auf. Der Wind scheuchte Blätter von der schönen, regennassen Platane in die Grube hinab. Eine tiefduftende Welle von feuchtwarmer, fast tropisch schwüler Sommerluft strömte vom Garten heran.

Ich schlief wieder ein, fast möchte ich sagen, ich schlief gegen meinen Willen ein.

Am nächsten Tag aber erlebte ich es, daß, was bis jetzt nie der Fall gewesen war, zwei Ratten friedlich in der Grube hausten, ein stärkeres Weibchen, das Tier aus der letzten Nacht, und ein schwächeres, ein Männchen, das sich eben hatte verlocken lassen, hinabzuspringen, wie so viele vor und nach ihm. Das Männchen war scheuer, das Weibchen lauter und frecher. Ohne Furcht vor mir und meinem Vater hob es seinen Kopf und entsandte seiner Kehle hohe, unangenehme, vibrierende Töne, etwa wie ein Pfeil durch die Luft pfeift, so klang es. Das Weibchen rannte mit kleinen Schritten um das Männchen im Kreise, oder besser gesagt im Halbkreise, denn das umworbene Wesen hockte in der Ecke und hatte Angst. Julius und Romea, spöttelte mein Vater. Das Weibchen ließ nicht nach, es hob sich bisweilen wie ein dressiertes Eichhörnchen auf den Hinterbeinen und umtanzte das Männchen, das hervorkam. Ich konnte den weiteren Verlauf des Spieles (es war ein schauerlicher und zugleich beglückender Anblick, diese schrecklichen Tiere spielen zu sehen!) nicht abwarten. Es war der Tag der Zeugnisverteilung in der Schule.

Der Plan meines klugen Vaters war darauf aufgebaut, daß sich die Tiere zuerst in die Grube hinablocken lassen und dann in der Grube gegenseitig zu Tode beißen, vernichten würden. Kampf aller gegen alle um das Dasein. Jetzt lebten aber zwei Todfeinde – wie es schien, friedlich und lustig nebeneinander. Daß sein Lebensgesetz doch nicht in allen Fällen stimmte, war mir trotz aller meiner Liebe zu ihm, man glaubt es mir vielleicht nicht, ein Trost, ein befreiender Gedanke. Die Welt war vielleicht nicht so schlecht, nicht gar so schauerlich, wie er sie machte. Machte er sie schlecht oder war sie es? Ich hätte so gern ihn belehrt, eines besseren belehrt. Was aber konnte ich bis jetzt einem Zyniker antworten, der mir sagte, die segensreiche Dummheit könne nicht erlernt werden und auch die Niedertracht müsse angeboren sein? Er kannte weiter nichts, hielt es für das größte Glück, dumm zu sein, was er nicht war, und für einen natürlichen Vorteil, noch niederträchtiger handeln zu können als die anderen.

Mein Vater merkte, daß ich ihm, vielleicht zum erstenmal bewußt, widerstand. Er war überhöflich wie immer, wenn er seine ganze Kraft zur Erreichung eines Zieles zusammenfaßte. Er gab mir in allem Recht. Er widersprach mir nicht. Und doch log er nicht. Ich kannte ihn ja, wie er mich kannte. Er glaubte, daß die Welt besser unerschaffen geblieben wäre. Ich glaubte es nicht, wenn ich es nicht glauben mußte. Ich lebte ja so gerne. Ich war ein Kind. Ich wollte es endlich sein.

Aber er wollte es anders. Abends wurde es ernst, oder besser, gesagt, nachts. Mein Vater härtete mich ab. Er wollte mich zu einem tapferen Menschen erziehen.

Ich will nur die nackten Tatsachen berichten. Er nahm mich mit hinunter zu der Rattengrube und ließ mich da im Scheine seiner starken Taschenlaterne, als ob das Licht der Laterne im Hofe nicht ausgereicht hätte, in bengalischer Beleuchtung den wiederholt vollzogenen, schamlosen Geschlechtsverkehr der scheußlichen Tiere beobachten. Ich kann es nicht beschreiben. Unbeschreibbar ist mein Abscheu gewesen und ebenso unbeschreibbar mein wollustvoller Schauder. Nur noch einmal erlebte ich beides zugleich wieder. Der Leser weiß, wann und wo.


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