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VI

Jetzt beginnt der allgemeine Aufbruch. Höhere Offiziere sind nicht mehr anwesend. Der Pressephotograph und sein Bruder haben sich verkrümelt. Die Unteroffiziere feiern Abschied in den Hafenkneipen ringsum. Auf einem benachbarten Platze in der Nähe einer Kirche hat sich die Militärkapelle wie an jedem Abend eingefunden.

Der Himmel beginnt sich ganz zart zu umziehen. Das Blau wird eindringlicher. Ein leichter, schwebender Wind, warm wie aus einer Bäckerstube, bläht die Segel im Hafen, die sich zur Nachtfahrt rüsten. Auch die Besatzung der Eisenpontons bereitet sich zur Überfahrt auf den Dampfer vor. Man wartet nur das Zurückkommen der Dampfbarkasse mit den Angehörigen der Offiziere ab. Jetzt erheben die »liebenden Herzen« hier noch einmal ihre Stimmen. Es ist ein wichtiger Augenblick, der letzte. Sollen sie die weite teure Reise vergeblich gemacht haben? Sie rufen nach dem Herrn Transportkommandanten, um ihre Bitten vorzubringen. Wäre seine Exzellenz, der Herr General, hier, auch er würde sich vor ihnen nicht retten können.

Die meisten meiner Gefährten waren Genossen, Gleichgestellte im Unglück. Lebenslängliche, Aber wie lang ist schon ein Leben drüben.

Hatte aber einer eine leichtere Strafe, zum Beispiel fünf Jahre, dann hatte er nach dem unmenschlichen Reglement weitere fünf Jahre als Bewährungszeit drüben zu verweilen. Kein großer Unterschied scheint es, und in Wirklichkeit doch ein ungeheurer. Denn was soll der Arme drüben »freigelassen« beginnen? Ohne Arbeit, ohne Angehörige, ohne Geld? Wie furchtbar gering ist die Wahrscheinlichkeit einer Wiederkehr! Kein Wunder, wenn nun auch die Gefangenen in Jammern und Wehklagen ausbrechen. Die Müdigkeit, die Benommenheit, das Sich-in-alles-Fügen ist vorbei. Der stupide Gesichtsausdruck, wie ihn das Leiden mit sich bringt, wenn es über eine bestimmte Zeit und ein gewisses Maß ausgedehnt wird, ist verschwunden. Alles Leiden und alle Leidenschaften offenbaren sich in diesen ausgemergelten, aber krampfhaft verzerrten Physiognomien. Alles – nur nicht Ergebung ins Unabänderliche. Einige Leute pochen den Wachposten sachte in den Rücken, ernten aber dafür bloß ausgiebige Kolbenstöße vor die Brust, unter denen sie zusammensinken, über ihre armseligen Habseligkeiten (Seligkeit über Seligkeit) stolpernd. Andere recken sich auf die Fußspitzen und bitten den Nachbar, sie hoch emporzuheben, einen gleichen Liebesdienst versprechen sie dem Helfer, aber ihn zu geben vergessen sie oder entschuldigen sich dann mit Körperschwäche.

Die meisten verließen sich nur auf die eigene Kraft. Aber es ging ihnen wie den mit Starrkrampf geimpften weißen Mäusen im Laboratorium, die innerhalb hoher Einmachgläser gehalten wurden, durch deren Wände man die Krampfsprünge der Tiere und endlich ihre Todeszuckungen genau beobachten konnte. Sie hüpften hoch, aber nie hoch genug, um zu entkommen.

Vergebens hier das Gewinke mit den Doppelhänden, das Geschrei aus den von der Hitze und dem Staube heiseren Kehlen, es vermehrte nur das herrschende Getöse. Keiner konnte ein Wort verstehen. Man hörte nicht einmal die unweit postierte Militärmusik der hier stationierten Garnison, so laut war das Jammern und Wüten der gefesselten Sträflinge. Kein Kettenklirren. Die Handfesseln waren zu tief in die Haut über dem Handgelenk eingebettet, die Zwischenglieder waren zu straff gespannt, um ein Klirren zu ermöglichen.

Außer den vielerlei Dialekten hörte man die verschiedensten orientalischen Idiome. Hätte ich nur alles verstanden, was jetzt in die holden klaren Abendlüfte mit Orchesterbegleitung hinausposaunt wurde, ich hätte eine ausführliche Naturgeschichte des kranken menschlichen Herzens schreiben können. Alle diese Herzen sprachen die gleiche Sprache, eine klang wie die andere, die gaumigen, nasalen, die schnarrenden und die zischenden Laute, Vokale und Konsonanten verschwammen, es war nicht mehr der artikulierte Ausdruck menschlicher Sehnsucht, menschlichen Leidens, menschlichen Schmerzes, Reue und Empörung, Verzweiflung und Ergebung – sondern es klang das große Kollektiv der Männer hier ganz gleich dem unartikulierten, triebhaften Schreien und Heulen eingepferchter, scheugewordener, panisch erregter Tiere.

Mein Nachbar schwieg. Er hatte sich fast erholt. Seine Lippen waren etwas voller, er hatte eine frischere Farbe, er zeigte sich als ein etwas weichlicher, aber schöner Mensch. Er schnallte sich seinen Mantel aus eigener Kraft wieder auf.

Ein kühler Wind hatte sich erhoben. Die Wellen im Hafenbecken zeigten weißliche Kämme. Mit straff gespannten Segeln verließen die letzten Fischerboote das Hafengelände, während die ersten mit ihren steilen Segeln schon weit draußen am Horizont standen, sich wie Schmetterlinge über den Wasserflächen spiegelnd, wenn sie mit nebeneinanderstehenden Flügeln, ganz zart vibrierend, über dem Wasser eines stillen Teiches das Gleichgewicht bewahren.

Die frische Brise schien bei vielen das Gefühl des Hungers wach gemacht zu haben, und wenn sich manche Gefangene so aufgeregt gebärdeten, so war es vielleicht deshalb, weil sie neben der Sehnsucht des Herzens auch die Gier des leeren Wanstes quälte.

Ja, du Guter, es muß ein gallbitteres Gefühl sein, seine Mutter mit leckeren Lebensmittelvorräten winken zu sehen – und die Eingeweide von Hunger zerfressen zu haben – und nichts steht zwischen Mutter und Sohn – als nur die Wirklichkeit.

Also dann auf gut Glück! Pakete werden jetzt durch die Luftpost expediert. Durch die Luft segeln sie, aber in die richtigen Hände gelangen sie meistens nicht. Die Schuhe kommen, die Flanellweste segelt ausgebreitet heran. Wüste Kämpfe entspinnen sich. Rasendes und doch hilfloses Toben. Zwei Spießgesellen sind auf die Medizinalkisten gestiegen. Von dort schreien sie und winken sie los, trampeln auf den Brettern in voller Wut umher, signalisieren den Ihrigen mit den langen Diebesarmen wie mit optischen Telegraphen. Der eine mit dem rechten Arm, der andere mit dem linken. Es nützt ihnen nichts, der eine will rechts etwas abfangen, was einem Schinken ähnlich sieht, der andere links einen Gegenstand, der sehr wohl eine Schnapsflasche sein könnte, aber alle Liebesgaben schnurren an ihren Nasen vorbei. Endlich erwischen sie eine, öffnen sie und finden – eine Familienbibel. Eine besonders flotte Foxtrottmelodie ertönt, von der Militärkapelle mit Schmiß gespielt, und die zwei dummen Teufel, müde ihrer vergeblichen Wut, fassen einander unter und beginnen zu tanzen wie Irre.

Der erste Transport geht ab, etwa sechzig Mann. Das Bombardement mit Liebesgaben geht weiter.

Mein Gefährte erhebt seinen schön geschnittenen Kopf, wendet seine graublauen Augen nach allen Seiten. An der Jagd auf Freßpakete beteiligt er sich ebensowenig wie ich. Was sucht er also? Erwartet er einen Menschen (etwa den »Kadetten«), dem er und der ihm ein letztes Lebewohl sagen könnte? Oder liegt ihm die Angst vor der radikalen Veränderung seines Lebens schon jetzt so schwer auf der Brust? Abschied von der Heimat! Die geliebte Scholle, der schattige Winkel in einem Hofe eines Großstadthauses oder der kärgliche Herbstblumengarten in einem einsamen Gehöfte in den Bergen oder sonst ein Raum, ein Herd, eine Landschaft, eine Erinnerung? Der Tag des Auszuges in den Krieg, an Verwirrung vergleichbar mit dem jetzigen Augenblick und doch ganz anders! Heimat, Familie, Sicherheit der Zukunft, Hoffnung steter glückseliger Verbesserung, womit der Reichste wie der Ärmste sich nur zu gern betäubt.

Jetzt merkt man bei allen den Wunsch nach Zerstreuung und Rausch. Wetten werden abgeschlossen, Geschäfte gemacht, Geldsorten eingewechselt, dies letztere heimlich still und leise, da Geldbesitz verboten ist. Der Klügere betrügt, gibt schlechte und wenig Ware für Gold und stopft dem Betrogenen den Mund mit der Faust, und dieser kann sich nicht beklagen, da ja der Besitz des ihm abgeschwindelten Geldes gegen die Reglements verstößt. Ehrlicher geht es bei der primitiven Form des Handelsverkehrs, beim Tauschgeschäft zu, Eheringe gegen geräucherte Wurst, Andenken gegen Schnaps, schöne Gegenstände gegen eßbare. Man weiß, was man hat und ist zufrieden. Freilich gibt es auch hier Bitterkeit. Einer hat sich unrechtmäßig ein Freßpaket angeeignet und hält es dank seiner Körperstärke und Brutalität fest. Der rechtmäßige Besitzer möchte es dem Gewaltmenschen abkaufen – da er aber kein Geld hat, bietet er ihm den schweren Ehering mit dem eingravierten Datum der Trauung. Einverstanden. Aber nur die Lebensmittel will er herausgeben. Sollte Geld oder Geldeswert mit in dem Paket sein, behält er sich das Eigentumsrecht vor, und jetzt muß der arme Teufel von rechtsmäßigem Besitzer sehen, wie der Räuber sein Paket durchstöbert, dies und jenes herausnimmt und großmütig den Rest dem Besitzer abgibt. Sind denn nicht Wachen hier, Schützer der angeblich auf Recht und Gesetz aufgebauten Staatsordnung? Verwaltungsorgane. Mehr sind sie nicht.


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