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VI

Es dauerte vielleicht eine halbe Minute, bis die Narkose wieder tief genug geworden war, um mit der Operation fortzufahren. Aber diese halbe Minute des Wartens machte mich sehr unruhig. Die Herztöne der Frucht waren schon vor Beginn des Eingriffes nicht die besten gewesen. Denn es handelte sich um ein noch nicht ausgetragenes, gefährdetes Kind von höchstens acht Monaten. Man mußte trachten, so schnell wie nur möglich zu Ende zu kommen. Aber ich mußte warten. Ohne Narkose kein Eingriff. Also stand ich da und wartete. Meine Hände waren müde, von dem Arbeiten im verkrampften Mutterleib war besonders meine rechte Hand ermattet, wie gelähmt.

Ich erinnerte mich (sehr zur Unzeit) des dahingegangenen Vaters dieses Kindes. Ich sah Walter auf seinem Totenbette. Ich sah ihn, wie er von der Frau Abschied nahm. Ich sah ihn, wie er seine Hand als Linkshänder in seinen letzten lichten Augenblicken zu einer Kreuzesgeste bewegt hatte. In diesem Augenblick glaubte ich die Frau wieder so tief narkotisiert, daß ich den plötzlich unterbrochenen Eingriff fortsetzen konnte. Zu einer neuerlichen, sorgfältigen Desinfektion war nicht mehr Zeit. Bekanntlich dauert eine solche zehn bis fünfzehn Minuten. Wenn ich aber so lange Zeit auf die Desinfektion verwandte, war das Kind längst erstickt, die Frau verblutet. Aber ich hatte mir ja die betreffende »innere« Hand rein erhalten.

Diesmal ging ich nicht mit dem gleichen freudigen Mut ans Werk wie zum erstenmal. Sorgfältig bemüht, der Frau keine innere Verletzung zuzufügen, schlüpfte ich mit der linken Hand in ihr Inneres und sorgte dafür, daß die äußere, die rechte, über dem Tuche die Manöver der operierenden linken Hand unterstützte. Irgend etwas hemmte mich. Mir war, als eilte ich von zu Hause fort und hätte das Wichtigste vergessen, müsse unten an der Treppe umkehren wollen, aber nicht können, auf der Straße immer eine noch größere Entfernung in verkehrter Richtung zurücklegen, meine Patientin dadurch noch mehr gefährden. Aber was ich vergessen hatte, fiel mir nicht ein! Es fiel aus.

Das Tuch war plötzlich verrutscht und meine rechte Hand ruhte unmittelbar auf dem feuchten, kühlen Leib der Frau, der eine samtartige Glätte hatte.

Endlich war meine linke Hand, nach Möglichkeit schmal und schlank zusammengefaltet, ins Innere der Gebärmutter eingedrungen. Eine plötzliche Wehe setzte, oben beginnend, nach unten zu sich verstärkend ein, und umklammerte auch diese Hand. Es ist ein nicht zu beschreibendes Gefühl, sich von einem anderen Körper durch blutendes, zitterndes, zufassendes, vibrierendes Fleisch umgeben zu wissen. Es lähmt. Man widerstrebt, man möchte handeln, sich bewegen, den gesuchten Fuß des Kindes endlich fassen! Warten! Ruhe! Geduld!

Die Narkose ging ihren normalen Gang. Die Atemzüge, die March fortlaufend weiterzählte, mir eine Uhr ersetzend, hatten das dritte Hundert lange schon überschritten und gingen gegen das vierte, der Eingriff dauerte also weit über zehn Minuten. Aber meine linke Hand blieb wie gelähmt, auch dann, als sich die Umklammerung der zusammenpressenden Gebärmutter gelockert hatte und ich endlich in höchster Eile mein Werk hätte durchführen sollen. Ich kannte mich in dem heißen Hohlraum nicht aus. Alles war mir hier fremd. Ich erkannte nichts. Nur das eine, daß mir das Blut aus dem Kopf wich. Unsicher tastete ich in dem fremden Innenraum umher, wie ein Mensch in einem dunklen Zimmer, das er noch nie betreten hat, stolperte, fällt, sich an den Ecken stößt. Aber der Raum war mir doch nicht fremd – er durfte mir nicht fremd sein! Ich hatte doch vor höchstens fünf Minuten das Terrain sondiert und es normal gefunden; den Rücken des Kindes an seinem erwarteten Platz, Kopf und Steiß am richtigen Ort. In dieser kurzen Zeit konnte sich doch nichts derart verschoben haben, daß mir alles fremd und unbegreiflich vorkam? Wo war der Rücken? Dort, wo ich früher mit den Spitzen des Zeige- und Mittelfingers die zarte, aber deutlich erkennbare, rautenartige Erhebung des kindlichen Rückgrats gespürt hatte, befand sich jetzt eine weiche, durch keinen längsverlaufenden Knochen gekennzeichnete Körperfläche. Winzige Knöchelchen verliefen quer, offenbar der Brustkorb, oder es war eine weiche, widerstandslose Masse, der Bauch des Kindes? Dort, wo ich früher das Füßchen getastet hatte, kamen mir die feinen beweglichen Knochen und Fleischformationen eines Händchens entgegen. Wo war ich? Hatte sich die Welt um ihre Achse gedreht? Ich ließ ab. Eine neue Wehe setzte ein. Ich mußte unterbrechen. Wühlen im Dunkeln war sinnlos und lebensgefährdend. Ich schwieg und stand da. Mein Herz klopfte bis in den Hals, in die Augenhöhlen.

Ich starrte March an, der mit seinem bösartigen Blick alle meine Bewegungen und mein Gesicht beobachtet hatte und der plötzlich mit den rätselhaften Worten hervorschoß: »Welche Hand?« Woher wußte er, daß ich nur das Händchen des Kindes gefaßt hatte, nicht aber den Fuß, den ich brauchte? Ich verstand ihn nicht. Er lächelte trotzig und höhnisch. Ich sah ihn entgeistert an, und als die Frau plötzlich in der Narkose aufstöhnte, stöhnte ich mit. Ich habe schon früher gesagt, daß ich die Regungen anderer Menschen bisweilen in Zeiten innerer Verzweiflung nachahmen mußte. Und ich hatte Grund genug zur Verzweiflung. Mein Stöhnen kam mir jetzt wirklich und wahrhaftig vom Herzen.

Ich hatte die Frage Marchs jetzt erst verstanden. Alles war verloren! Ich war zum zweitenmale nicht, wie es richtig gewesen wäre, mit der rechten Hand eingegangen, die das Werk mühelos beendet hätte und die vorsichtigerweise keimfrei geblieben war, da ich sie sorgfältigst vor Berührung mit der Narkosemaske etc. geschont hatte, sondern mit der linken Hand, der beschmutzten, ungeeigneten, falschen war ich ins Innere der mir anvertrauten Frau eingegangen, mit jener Hand, die das Werk nicht oder nur mit höchster Anstrengung durchführen konnte und außerdem von zahllosen Keimen verunreinigt war.

So standen die Dinge. Dem war so. Ich will und kann nicht beschreiben, was mich bewegte. Ich kann auch nicht den logischen Weg nachzeichnen, der mich endlich zu einem Entschluß brachte. Die Entscheidung mußte getroffen werden: abbrechen? weiterführen? Und wenn »weiterführen«, sollte ich mit der falschen Hand wieder heraus und dafür die richtige, die rechte einführen? Die rechte war aber jetzt oben an der Bauchhaut der Frau gewesen und schon lange nicht mehr keimfrei. Zur Desinfektion war noch weniger Zeit als vorher. Man mußte nicht nach Minuten, sondern nach Sekunden zählen. Zweifel über Zweifel. Nachdenken statt handeln!

Ich war kein Arzt mehr! Mein Diplom als Arzt hatte man mir konfisziert, vor bald einem Jahre! Ich war Sträfling auf der Insel C. Geduldet. Von unverdientem Vertrauen getragen, ein Betrüger, weiter nichts. Weiter nichts. Gattenmörder. Nein, weiter mehr, noch etwas sehr schweres mehr und das bedeutete der grollende und zugleich höhnische Blick meines Freundes March! Ich hatte schon einmal diese arme, wahrhaft vom Schicksal geschlagene Gattin meines Freundes Walter zu einem Experiment ohne ihr Wissen, gegen ihren Willen mißbraucht, und jetzt tat ich es zum zweitenmal! Nie hat sich das Gewissen eines Menschen mehr zur Unzeit gemeldet als jetzt. Warum? Warum? Und eine infizierte, ungeschickte, halb gelähmte Hand in einem offenen Unterleib!

Verloren ist verloren. Ich fühlte mich so vernichtet wie nie zuvor in meinem Leben. Unfähig zu jeder Handlung, zu jedem Entschluß. Ich schloß die Augen.

Dann aber raffte ich mich auf. Ich mußte dem Schicksal begegnen. Gehandelt mußte werden. Da kein anderer Mensch für mich handelte, handelte ich, so gut ich konnte.

Der Leib des Kindes regte sich unter meinen Händen. Ein Zittern durchlief das Körperchen unter meiner Hand. War es der erste Atemzug, den das winzige Wesen tun wollte? Dazu durfte es innen niemals kommen. Denn mit diesem vorzeitigen Atemzug hätte das Kind das es umgebende Fruchtwasser eingezogen und daran wäre es unweigerlich erstickt.

Die ersten Atemzüge, die ein Kind tut, sind nicht nur auf den Brustkorb und die Kehle etc. beschränkt. Das ganze kleine Körperchen krampfte sich zu dieser Lebens- und Willensregung mit aller Energie zusammen. Nein, so nicht; nein, so nicht! So nicht!

Ich wechselte die Hände. Besser ein Wesen retten, wenn beide, Mutter und Kind, gefährdet waren. Ich wollte das Kind retten, für das es gleichgültig war, mit welchen Keimen meine Hand bedeckt war. Alles war besser, als tatenlos verzweifelnd beide, Mutter und Kind, wissend zu verlieren. Ich hatte meine Mutter nie recht gekannt. Kinder hatte ich nie zu verlieren gehabt. Diese Mutter und dieses Kind hier waren mir durch die Fügung des Schicksals anvertraut. In diesem wahrhaft schauerlichen Augenblick dachte ich nicht an mich. Ich zwang mich, meine fürchterlich schwere Gewissensbürde nicht zu spüren.

Bloß meine Fingerspitzen sollten denken, bloß mein feinstes Tastgefühl sollte mich leiten. Keine Vergangenheit. Kein Hadern mit dem Schicksal, das mir so niederträchtig begegnete. Keine Schuld auf meinen Vater wälzen, der in diesem Augenblick in meinem Hirn auftauchte als der mir überlegene Mensch, der stets aller Schwierigkeiten Herr geworden war, solange ich ihn kannte. So ging ich vor. Mit der rechten Hand hinein! Noch einmal, noch zarter und behutsamer als das erstemal.

Jetzt hatte ich sofort wieder den Rücken des Kindes mit der Wirbelsäule vor mir. Gut! Jetzt glitt ich weiter abwärts, jetzt nach der Seite, jetzt winklig nach oben und hatte schon ein Stück des Oberschenkels gefaßt, knapp unter dem kleinen Hinterteil des Kindes.

Jetzt durfte meine rechte Hand, von der linken, der äußeren, wirksam unterstützt, an dem schwach fleischigen Schenkelchen hinabgleiten. Bis zum Sprunggelenk.

Erst dieses faßte ich zartest mit der Hand, um möglichst wenig Raum einzunehmen. Und zwar legte ich den Zeigefinger auf den Fußrücken, den Mittelfinger auf das Sprungbein, zwischen beide Finger klemmte ich auf diese Weise das Füßchen ein.

Die Spitze des Daumens berührte gerade noch die Fußsohle. Und nun zurück! Und nun heraus! Langsam und schnell zugleich, behutsam und energisch zugleich, verzweifelt und erfolgsgewiß zugleich! Natürlich nahm die Hand mit dem Füßchen zwischen den gestreckten zwei Fingern viel mehr Raum ein als die gleiche Hand beim Eingehen. Ich mußte daher besonders schlau, listig und vorsichtig, mit angehaltenem Atem, möchte ich sagen, lavieren, denselben Weg zurückkehren und das Füßchen hinab bis an die Außenwelt ziehen.

Während durch den steten Zug meiner Hand das Füßchen hinabbewegt wurde, drückte die andere Hand den Kopf des Kindes durch die Bauchwände hindurch nach oben. Er folgte willig meinen Bemühungen.

Jetzt zeigte sich meine Hand voll Blut und grünlichem Schleim am Ausgang der Geburtswege und zwischen meinen Fingern befand sich der winzige, unter seiner Schmutzkruste wie aus gelbem Elfenbein geformte Fuß.

Ich wartete einen Augenblick, um zu sehen, ob sich die Geburt des Kopfes von selbst anschließen würde oder ob weitere Nachhilfe nötig sei. Das letztere war der Fall. Durch sanftes Ziehen und Ruckern entband ich das Bein des Kindes vorerst bis ans Knie. Die Kniekehle des Kindes stand nach außen, zu mir gewendet also, ebenso auch der Rücken, es war Gott sei Dank die normale Lage. Ich schloß also die sofortige Beendigung der Geburt durch Extraktion an. Einfach war es bis zu den Ärmchen. Das Kind war nicht ausgetragen, alle Teile waren kleiner und dünner als normal. Jetzt schaukelte ich gleichsam, immer mit allen Finten den geringsten Widerstand ausnutzend, die linke Schulter heraus, indem ich das Kind bei den Beinchen faßte und sein verhutzeltes, mageres Körperchen von oben hin und her bewegte. Das Kind hatte zum Glück noch nicht zu atmen begonnen, stand aber unmittelbar davor. Ein krampfhaftes Zittern durchlief zum zweitenmale die feinen Gliederchen. Dann wieder still. Also noch nicht.

Keine Sekunde warten, nur los! nur vorwärts! Aber keine Gewalt, kein rohes Zerren, nein, etwas warten, jetzt etwas rechts, etwas links, die Hand unterstützend unterlegen, die »Bindung« mit Fingerspitzendruck lösen, keine übermäßige Energie. »Keine Narkose mehr«, rief ich March zu, der froh war, die Flasche mit Chloroform fortlegen zu können. Der Glückliche! Er konnte sich recken, den Schweiß von der Stirn wischen, aufatmen! Er trug keine Verantwortung!

Jetzt kam der andere Arm heran, wobei sich bereits die pulsierende, bläulich-rote, geknäuelte Nabelschnur mit vordrängte. Jetzt kam die Hauptsache, der Kopf. Ich hatte schnell mit dem Körper des Kindes, den ich zwischen meine beiden Handflächen fest eingefaßt hatte, eine Wendung und Drehung im Sinne des Uhrzeigers gemacht, mit einem Finger fuhr ich zwischen Kind und Mutterkörper, die Schwierigkeiten durch einen möglichst schonenden Hebeldruck beseitigend, so daß der Kopf sich nur in den Hinterhauptpartien schwer, dann aber leicht, eben kinderleicht aus dem Innern der Mutter entwickeln konnte. Es ging, es ging. Vorwärts! Gut! Endlich war der ganze Kopf draußen. Ich drehte das Kind herum, so daß es mich ansah. Es war ein Knabe.

»Sie haben einen gesunden Knaben, Frau Walter«, rief ich der Frau zu. Vielleicht hörte sie mich? Ich atmete auf, blickte das Kind an, das ich auf meinen vor Anstrengung zitternden, blutigen Armen trug. Das Näschen des Jungen war flach, das Antlitz wie eingedrückt, verzerrt, verschrumpelt. Keine Ähnlichkeit mit Walter. Aber noch hatte er nicht geatmet, obwohl es jede Sekunde schien, er würde sich dazu entschließen. Ein gutes Zeichen!

Höhnisch rief mir March, der pflichtwidrig seinen Posten als Narkotiseur und Pulskontrollör zu Häupten der Mutter verlassen hatte und mir zusah, entgegen:

»Mutter tot – Kind tot – Arzt gerettet!!«

Ich ließ ihn reden, ich wußte es besser. Während ich die Nabelschnur in höchster Eile komprimierte und sie dann mit einem sterilen Faden abband und durch einen Scherenschnitt vom Mutterleibe trennte, zog sich das bläulichrote Körperchen des kleinen Knaben in einer ungeheuren Anstrengung zusammen.

Aber der erste Atem hielt leicht wie Windessäuseln im Frühling seinen Einzug in die winzige, magere Brust, deren Rippen man zählen konnte. Die Schwestern nahmen mir erstaunt lächelnd das Kind aus den Armen. Sie reinigten es von Blutspuren und von den grünlichen Kotresten, wogen es in den Händen, starrten es unablässig an, schmatzten mit den Lippen und betrachteten den Kopf des Kindes, als hätten sie nie ein Neugeborenes gesehen. Aber vielleicht hatten sie, hier in diesem Y. F.-Haus die Tage ihres Lebens verbringend, niemals gesehen, wie ein Mensch geboren wird.


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