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III

Ich ahnte sofort, daß die Frau mich jetzt bei sich haben wolle. Vergebens schützte ich gegenüber der Oberin, die mich holen kam, vor, ich sei kein Fachmann auf dem Gebiete der Geburtshilfe, habe seit Jahr und Tag keine Geburt mehr geleitet. Vergebens riet ich an, einen der Ärzte der Stadt C. hierher zu bitten. Kaum war dieser Vorschlag ausgesprochen, als sich mir selbst zuerst die Widersinnigkeit desselben offenbarte. Wir waren ja in Quarantäne. Kein Arzt aus der Stadt durfte offiziell hierher kommen, wollte er sich nicht der Gefahr aussetzen, die Keime der Krankheit Y. F. unter seinen Patienten weiter zu verbreiten. (In Wirklichkeit war das Verbot oft umgangen worden, v. F. z. B. war wiederholt gekommen. Aber angesichts des Todesfalls von Walter mußte man sich jetzt formell an das Verbot halten.) Die Oberin sah dies fast ebenso schnell ein wie ich und sagte mir, ich solle nur an das Bett der Witwe Walters treten, um sie »seelisch zu beruhigen«. Die Frau sei durch die Aufregungen der letzten Zeit in ihrem Gemütszustande erschüttert, ich, zu dem sie eben Vertrauen habe, hätte es in der Hand, ihr Mut zuzureden. Ihrer, der Oberin, Ansicht nach, der sich auch der alte Krankenhausdirektor anschloß, hätte der Geburtsvorgang zwar etwas vor der Zeit, aber in normaler Weise eingesetzt; die Schmerzensäußerungen, die sich jetzt wieder in einem nervenmarternden Kreischen kundgaben, seien sicherlich sehr übertrieben. Carolus trat hinzu, er legte mir, was er sonst nie tat, seine (niemals ganz saubere) Hand auf die Schulter, und auch er redete mir gut zu. Ich versuchte eine Gnadenfrist zu erlangen und versprach zu kommen, wenn die Schmerzen binnen einer Stunde nicht nachlassen sollten. Bis dahin sollten bei der Frau die Blase und der Darm entleert werden, und man solle sie in ein Vollbad von sechsunddreißig bis achtunddreißig Grad setzen, – ein schmerzstillendes Mittel, das ich in der Klinik oft erprobt hatte.

Ich drückte mich in eine Ecke des Laboratoriums und hing meinen Gedanken nach. March umkreiste mich mit böse blickenden Augen, aber er sprach nicht, und auch ich sprach ihn nicht an. Die Stunde verstrich schnell. Ich dachte, es sei höchstens eine Viertelstunde vorbei, als wie auf Kommando aus dem Krankenzimmer, das über dem Laboratorium lag, wieder das gellende Kreischen der bemitleidenswerten Frau ertönte. War der Klang anders – ich weiß es nicht, ich wußte nur, es war Zeit. Es war ernst. Ich begriff, daß ich kommen müsse. Ich mußte mich dem Schicksal stellen. Es blieb mir keine Wahl.

In aller Eile, an dem verblüfften March vorbei, dann zurück, ihn an der Hand packend und mit mir reißend, lief ich hinunter in unseren Wohnraum. Ich mußte eine saubere Garnitur Wäsche für mich zurechtlegen, desgleichen einen Kittel, der noch nicht gebraucht war und den ich am Tage der Besichtigung unseres Laboratoriums durch den Gouverneur hätte anziehen sollen. March sollte ihn mit ausgekochtem Wasser besprengen und dann mit einem sehr heißen Plätteisen frisch bügeln. Dies genügt, um ein Stück Leinwand praktisch keimfrei zu machen. Ich wußte nicht, ob genügend viel desinfizierte Operationswäsche im Hause vorhanden war. Im Falle der Not konnte unsere kleine Desinfektionstrommel Mäntel, Tücher und einiges Verbandsmaterial sterilisieren. Improvisation hat mich stets interessiert, und March war findig genug, meine hastig hingeworfenen Weisungen zu begreifen und exakt zu befolgen. Während er den Desinfektionsapparat anheizte, begab ich mich ins Bad.

Endlich war es so weit. Mehr als einmal hatten Carolus und der junge Assistenzarzt an der Tür des Baderaumes geklopft. Ich hatte nicht geöffnet. Ich hätte es nicht verantworten dürfen, ungesäubert am Bette einer Gebärenden zu erscheinen. Vielleicht waren mir nicht immer alle Gesetze der Moral heilig. Aber die Gesetze der Keimfreiheit waren es.

Ich ließ die Trommel mit den desinfizierten Wäschestücken öffnen, die Mäntel und Tücher waren noch heiß und dampften. Ich zog den frischen Kittel über (nicht den geplätteten) und beauftragte March, einen zweiten Kittel und weiteres Verbandsmaterial sofort anschließend zu desinfizieren.

Wer mich so disponieren sah, mußte glauben, ich sei sicher und selbstbewußt bis zur Unerschütterlichkeit, und ich wisse genau, was ich tue und was ich plante. Leider war es nicht so. Ich ordnete auch Unwichtiges an, ließ Wichtiges unberücksichtigt. Ich war von Zweifeln zerrissen, aus mir sprach nur die anmaßende Routine, des studierten Chirurgen, die alte Schule, durch die ich gegangen war. Wie gerne ich mich der Aufgabe entzogen hätte, beweist der Umstand, daß ich noch jetzt, in letzter Stunde, vor der Tür des Zimmers von Frau Walter dem jungen Assistenzarzt den Vorschlag machte, er solle die Geburt leiten, er solle die Verantwortung übernehmen. Er sah mich groß an, aber er sagte zu. Als ich ihn daraufhin fragte, oder er jemals eine Entbindung selbständig geleitet hätte, zuckte er die Achseln und lächelte matt. Es blieb nichts anderes übrig: ich mußte gehen, ich mußte eingreifen, ich mußte experimentieren, wenngleich mir ein zweites Experiment an der unaufhörlich zum Herzerweichen jammernden Frau weltenfern lag. Es war eine Ironie des Schicksals, daß die Frau nach mir verlangte, daß sie den Himmel anflehte, ich solle kommen und daß sie ein Wunder von mir erwartete. Sie wußte doch, wer ich war. Mörder, Sträfling. Meine Vergangenheit war ihr ebensowenig unbekannt wie mein Gesicht. Aber sie glaubte, und ihr Glaube sehnte sich nach mir!

Ich faßte mich, so gut ich konnte. Vor allem sah ich mich nach Helfern um. March wäre ein guter, was sage ich, ein guter, er wäre mir der beste Assistent gewesen. Durfte ich ihm aber jetzt noch trauen? War er nicht schon mein halber und deshalb doppelt gefährlicher Feind geworden? Dann kam nur die Oberin in Betracht. Eine alte, sehr bigotte, aber tüchtige, praktische, immer resolute Frauensperson, die zwar niemals in diesem Haus des gelben Fiebers eine Geburt gesehen, geschweige denn bei einer solchen assistiert hatte, die aber keine Nerven hatte und die, gestützt auf ihren felsenfesten katholischen Glauben, jeder Lage tapfer und gottergeben ins Gesicht sehen konnte.

Ich wollte sie zur rechten Seite haben, mich auf sie, nicht auf March verlassen, am wenigsten auf Carolus, an dessen gutem Willen zwar nicht zu zweifeln war, der aber seit dem Hingang unseres großen Freundes alle seine unsauberen Manieren wieder angenommen hatte. Es bedurfte bloß eines Blickes auf seine ungepflegten Hände, um zu sehen, daß er nicht der richtige Helfer war. Man konnte seine Mitwirkung nicht verantworten. Er drängte sich denn auch nicht vor, und er, der Generalarzt, ließ mir, dem rechtskräftig verurteilten Verbrecher auf der Deportierteninsel C., freie Hand, auch wenn es sich um die Witwe seines Mitarbeiters und Freundes Walter handelte.

Ich hegte im innersten Herzen noch die Hoffnung, der Befund an der Frau würde der normale sein und mich zu keinem Eingriff zwingen. Es war ja ihre sechste Entbindung und die früheren waren alle, (ich erinnerte mich noch der Worte Walters vor seinem Tode), normal verlaufen.

Ich trat also zu ihrem Krankenbette und empfing als erstes einen durch alle Tränen freudestrahlenden Blick aus ihren verweinten Augen.

Freude bei einem Menschen, der in den letzten achtundvierzig Stunden wirklich Fürchterliches erlebt haben mußte!

Eine einzige sachgemäße Untersuchung (von außen her) überzeugte mich, daß ihre Klagen und Ängste nur zu sehr berechtigt waren.

Ihr Vorgefühl, »das Kind liege schlecht«, das sie am Bette ihres Gatten geäußert hatte, hatte einen triftigen Grund. Bei ihr war es leider nicht das hysterische Jammern und Gekreische einer wehleidigen Frauensperson. Es war der Ausdruck der von Schmerzen aus der Sphäre des Menschlichen ins Tierische verjagten Kreatur.

Ich will versuchen, die medizinischen Tatsachen sprechen zu lassen, obwohl ich nicht weiß, wieweit sie einem Nichtfachmann verständlich sein werden. Das Kind lag falsch. Die normale Lage ist die Kopflage, das heißt, das Kind liegt normalerweise so im Mutterleibe, daß der Kopf, als der größte Anteil des Kindes und als dessen schwerste Partie, die tiefste Stelle in der Gebärmutter einnimmt. Von dieser normalen Kopflage war das Kind weit entfernt. Es lag falsch, lag quer.

Ein Beispiel, um es zu verdeutlichen. Ein Pflaumenkern, der in der Längsrichtung glatt durch einen engen Flaschenhals und wieder aus demselben zu gleiten vermag, wird aber sehr schwer wieder aus der Flasche herauskommen können, wenn er sich quer stellt. Und ebensowenig war zu erhoffen, daß der quer liegende Körper des Kindes, die Beine wieder an den Kopf gelegt, das alles zu einem unförmigen, riesigen Gebilde zusammengeballt, gefahrlos die natürlichen Geburtswege passieren könne. Nie. Eher zerriß er der armen Mutter die Eingeweide, und schon jetzt waren die gellenden Schreie, die fast ununterbrochenen Krampfwehen, denen keine Erholungspause folgte, nur zu sehr begreiflich. Denn der Kopf des Kindes am falschen Platze, allzuweit seitlich, zerrte und rieb sich an den empfindlichen inneren Teilen. Er verursachte Quetschungen, innere Verletzungen, Blutungen. Jede, auch die schauerlichste Schmerzensäußerung der Frau konnte man verstehen, wenn man wußte, was in ihrem Innern vorging. Mit warmen Bädern, die bei nervösen, überempfindlichen Damen, deren Kinder normal liegen, Wunder wirken, war hier ebensowenig zu helfen wie mit der Morphiumspritze. Es sei denn, man hätte beiden, Mutter wie Kind, nur ein schmerzloses Ende bereiten wollen. Das durfte ich nicht. Das durfte kein Arzt.

Ich, der experimentelle Bakteriologe, versuchte das, was die konservative Schule der Geburtshilfe, auf unserer Universitäts-Fakultät seit einem Jahrhundert mit besonderer Liebe gepflegt, immer als erstes empfiehlt: nämlich mit größter Schonung den querliegenden Körper des Kindes in die richtige, nämlich die Längslage zu bringen, und zwar so, daß der Kopf von der Seite fort und nach unten kam und dies möglichst ohne einen operativen Eingriff in das Innere der Frau. Bloß außen, an den Bauchdecken, an denen ich quergestellte, striemenartige Hautstriemen als Beweise früherer Geburten sah, sollte ich arbeiten; es sollte, wenn nur irgendwie möglich, nicht einmal eine Berührung der offenen inneren Teile durch meine Hand stattfinden! Gelang dies, dann konnte die Entbindung normalerweise, mit dem Kopf voran, ihren geregelten Gang nehmen.

Eine Infektion der Mutter durch meine Bakteriologenhände war dann ausgeschlossen; aber auch nur dann.


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