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II

Der Krankenhausdirektor ist in der Messe. (Wochentag!) Seine Stütze, ein junger Assistenzarzt, ist zur Erholung verreist. Aber der alte Magister v. F. ist hier wie zu Hause. Seit Jahren fleht er, der Sohn und Enkel eines Arztes, dessen Kinder aber das Ärztehandwerk verlassen und sich dem Kommerz zugewandt haben, die Behörden, gelehrten Gesellschaften, Patentämter und Ärzte an, seine Theorie ernst zu nehmen. Aber wer diesen komischen Fanatiker einmal von Angesicht zu Angesicht gesehen hat, kommt aus dem Lachen nicht heraus. Feierlichen Schrittes, nicht eigentlich gebeugt, sondern steif wie ein Stock trotz seiner geknickten, knarrenden Kniegelenke, seine Schachtel mit den Moskitoeiern in der behandschuhten Hand, geht er uns voran, die winkligen Korridore entlang und führt uns zur Leichenkammer. Aber irrt er sich nicht? Halt, du Guter! Was sollen uns deine Erzählungen, daß du die Eier der Stegomyamücke, dich mit schmerzendem Rückgrat mühselig bückend, sorgfältig in Sumpftümpeln aufgelesen hast, achte doch besser auf den Weg und führe uns nicht in die Abfallkammer, wo stinkende Fleischabfälle sich im Zustande blühendster Verwesung befinden müssen. Aber er kehrt uns sein weises Angesicht zu, mit der linken Hand hält er seinen Schleier zusammen, verbeugt sich und läßt uns, von Kopf bis Fuß ein altspanischer Grande, den Vortritt in die Sektionsräume.

Ein Gestank, für den es keinen Namen gibt, den man sich nicht vorstellen kann und wäre man selbst mit einer Danteschen Höllenphantasie begnadet, so ekelerregend und unerträglich schlägt er uns aus dem kleinen, relativ kühlen, unterirdischen, elektrisch beleuchteten Raum entgegen. March klammert sich leise aufschreiend an mich an, selbst der lederne, phlegmatische Carolus zittert an allen Gliedern, bloß Walter und ich verlieren nicht die Haltung.

Es liegt in seiner Duftwolke ein blondhaariger Toter da, quittengelb, giftig gelb, mit weißen Handschuhen angetan, einen Frack am Leibe, ein ehemals weißes, aber sehr häßlich gewordenes Frackhemd über der eingefallenen Brust. In den behandschuhten, feinen, langen Händen den silbernen Kruzifixus.

Hier und heute begegnete ich zum erstenmal in meinem Leben dem Y. F. in Natur und bezeugte ihm in meinem Inneren die gebührende Reverenz.

In der Tat hat sich von diesem Tage an mein Leben von Grund aus gewandelt – zum besseren? Zum anderen auf jeden Fall. Und das ist schon viel bei einem Mann, der bis zu einem solchen Grade mit sich und der Welt zerfallen war, daß er überzeugt war, er, der verkorkste Mann des Geistes und des Zweifels, und sie, die Welt der Sinnlosigkeit, des trügerischen Scheins und der unleugbaren Stupidität, würden nie mehr zusammenkommen und sein Dasein würde daher das überflüssigste Ding auf dieser überflüssigen Welt sein und bleiben ... Doch wozu Gedanken und Erinnerungen, zurück zur Gegenwart, aufregend war sie genug.

Ich müßte lügen, wenn ich sagen sollte, daß meine würdevolle Haltung ganz echt war. Der Geruch, der rein sinnliche, nein widersinnige, empörende, ganz unbeschreiblich abscheuliche Gestank brachte mich – man höre und staune, zum Weinen. Nein, um es ganz exakt zu sagen, zum Tränenvergießen. Ich wollte, ich durfte mich nicht übergeben. So stark mußte ich mich in der Gewalt haben. Ich mußte der Erziehung durch meinen Vater Ehre machen und ich konnte es. Und so sonderbar es klingt, es war mir gerade in diesem kritischen Augenblick die geheimnisvolle Anziehungskraft wissenschaftlicher Forschung bis in die letzten Nervenfasern bewußt geworden. Tausend Gründe, mich zu beherrschen und den Würgreiz mit aller Willenskraft bis zu Tränen zu überwinden.

Es war, als hätte ich geahnt, daß ich in der nächsten Zeit alle meine Willenskräfte bis an die äußerste Grenze anzuspannen hätte, um das Schicksal zu biegen oder um selbst zu zerbrechen. Ich überwand meinen Ekel. Ich drückte dem bebenden, sich vor Grauen schüttelnden March (der vielleicht vor dem Tode seines Herzensfreundes Louis nie eine Leiche gesehen hatte) die Hand. In meinem Herzen erwachte widerwillig, aber doch, ein Gefühl der Sympathie für ihn. Es hat schon sein Gutes, in einer kritischen Minute einen lebendigen Menschen neben sich zu haben.

Und noch etwas Sonderbares passierte in dieser einen Sekunde. Ich sah nicht nur diese goldgelbe Leiche in ihrem häßlichen, verfärbten Frackhemd und nicht nur das schwere, silberne Kruzifix zwischen ihren bloß übergezogenen, aber nicht zugeknöpften Glacéhandschuhen vor mir, sondern durch eine sonderbare Ideenverbindung eine Szene aus meiner Kindheit, in der mein Vater und (in der gleichen Größe und Deutlichkeit wie er) drei oder vier Ratten vorkamen, ferner eine Szene aus den guten Tagen mit meiner Frau, von der ich bis jetzt noch nicht berichten konnte, und zuletzt erschien in meinen zu sehr zerstreuten (oder zu sehr konzentrierten) Gedanken das flammende herrliche nächtliche Himmelsrund, wie ich es vor dem Tage der Landung an Bord der »Mimosa« gesehen hatte und angesichts dessen mir die Gedanken von der trügerischen, allzuschön geschminkten Larve der Natur gekommen waren.

In diesem Augenblick läßt der alte Magister, der seine transportable Moskitogaze bis zur Brusthöhe niedergelassen hatte, sein Schächtelchen mit den Moskitoeiern fallen, ich, als höflicher Mann, bücke mich gleichzeitig mit ihm, wir stoßen mit den Köpfen zusammen, ich finde die kleine Schachtel zuerst, und während der alte Grande sich in tausend verschnörkelten, altmodischen Entschuldigungen ergeht, bringe ich das Schächtelchen in der Brusttasche meiner Sträflingslivree unter.

Doch jetzt genug mit diesen Nebensächlichkeiten. Die Arbeit begann.

Walter war nicht umsonst durch die methodisch exakt arbeitende Schule des Instituts gegangen. Er hatte bereits für die bakteriologische Untersuchung alle nur erdenklichen Vorbereitungen getroffen, ein gutes Mikroskop, Brutschränke waren vorhanden. Als aber Carolus bemerkte, er wäre im Besitz eines besonders starken und mit allen Neuerungen (Dunkelfeldbeleuchtung!) versehenen Instrumentes, das sogar zwei Okulare hätte, während das dem Epidemielazarett gehörende nicht zu den letzten Modellen rechnete, einigte man sich, daß er es holen solle, während wir inzwischen die ersten Züchtungsversuche machen wollten. Wir sage ich zum zweiten Male. Zum ersten Male gebrauchte ich dieses Wunderwort in bezug auf meine Gemeinschaft mit den Deportierten, die durch gemeinsames Leiden, gemeinsames Ausgestoßensein aus der bürgerlichen Gesellschaft eine Art Wir aufgestellt hatten. Aber ein Wir voll Stumpfsinn, voll Schadenfreude, Bosheit, Zynismus, Freßgier und Lust an brutalem Boxen, voll unnatürlicher Liebe und unnatürlichen Hasses, vergeblichen Aufmurrens gegen die Behörde, die es freilich nicht besser um sie verdiente. Hier, an diesem ersten Vormittag auf C., in dem pestilenzialischen Gestank der Y. F.-Leiche, bei den ersten Vorbereitungen zur systematisch exakten bakteriologischen Untersuchung gab es auch ein Wir, aber ein anderes. Ich habe weder an diesem Tage noch an den folgenden zwischen uns ein Wort des Streites gehört. Keines des Kommandierens. Alles ging von selbst, in fabelhaftem Tempo. Freilich waren wir nicht immer eines Sinnes, vielleicht sogar niemals. Aber wir arbeiteten dennoch zusammen, um das möglichste zu erreichen.

Ich persönlich glaubte nicht und konnte nicht? glauben, daß man den Erreger des Y. F. noch mit den üblichen Methoden ergattern könne. Zu vielen und zu guten Untersuchern war es mißglückt, Pasteur eingeschlossen. Dennoch arbeitete ich, nachdem ich mich der lästigsten Kleidungsstücke ebenso wie der gute March entledigt hatte, von der ersten Minute an mit Feuereifer an der bakteriologischen Untersuchung mit. Zum erstenmal seit Jahr und Tag war ich wieder mitgerissen, kannte keine Müdigkeit, ich hatte ein wahrhaft durchdringendes Gefühl der positiven Notwendigkeit meiner Existenz und – der Notwendigkeit der Existenz auch der anderen. Wollte das Schicksal, daß es so bliebe! Nur das! War es zuviel verlangt?

Zur Sache also. Zwei primitive Brutschränke waren in dem anschließenden Laboratorium vorhanden. In Kürze waren über hundert Kulturen angelegt.

Es handelte sich bei dem Dahingeschiedenen um den gewesenen Direktor des kleinen Elektrizitätswerkes der Stadt C., der im ersten Stadium der Krankheit, das ist am vierten Tag nach den allerersten Erscheinungen, dahingegangen war. Er war drei Wochen vorher auf dem Paketdampfer mit einem Schub von verschiedenen Verwaltungsbeamten etc. eingetroffen, hatte seine Antrittsbesuche beim Gouverneur etc. gemacht und hatte gerade begonnen, in das etwas verwahrloste Werk etwas Ordnung zu bringen, als er an Y. F. erkrankte und starb. Er mußte, nach dem blonden Haar und der Hautfarbe zu schließen, ein Nordländer, vielleicht ein Schwede, gewesen sein, darauf deutete auch sein Name: Olaf Ericson.


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