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IX

Mein Vater steht am Rande der Scholle. Er faßt sich an die Brust. Er ertastet hier ein Etui, das eine ausgezeichnete Zigarre enthält, die letzte aus einem großen Vorrat. Die anderen hatten die Ratten vertilgt. Mein Vater hatte sich versprochen, diese Havannazigarre im »kritischen Augenblick« zu rauchen. Dieser Augenblick ist da.

Die Eskimos entfalten eine fieberhafte Tätigkeit, schirren die Hunde an, brechen die Zelte ab. Sie sehen zu dem rötlich angeglänzten Himmel auf, in dem nach ihrem Aberglauben die bösen Götter wohnen sollen. Auf das brennende Schiff, auf die immer näher heranrückenden Rattenkolonnen verschwenden sie keinen Blick.

Die Matrosen, die unter den Zelten gesoffen haben, stehen unter freiem Polarhimmel, sind plötzlich ernüchtert und frieren. Ihre gröhlenden Gesänge sind plötzlich verstummt wie abgehackt.

Sie umstehen meinen Vater, aber in gewisser Entfernung zwischen meinem Vater und seinen Gefährten (den Gelehrten und dem Schiffskapitän) und den Matrosen ist ein Raum von etwa dreißig Metern. In diesem Raum von dreißig Metern befindet sich das Lager des Hundes.

Alles, die vom Trunk geröteten Gesichter der Menschen, die zusammengerollten Lederwände und hölzernen Pflöcke der Zelte, die Geschirre der Eskimohunde, die schon in Reih und Glied dastehen, die auf den Schlitten aufgeladenen Boote, alles ist überglänzt von dem Feuerschein.

Vom lichterloh brennenden Schiff kommt Krachen. Man hört das zischelnde Flüstern der Matrosen.

An der Scholle, in einer Art Bucht, befinden sich die beiden Schiffsboote. Das eine ist mit dem letzten Proviant und den Gewehren, der Munition und den Decken beladen. Das andere, eben noch zum Transport der Menschen verwendet, ist jetzt leer. Wer das erste Boot hat, der hat noch Aussicht, sein Leben zu retten – wenn man sich vor den Ratten schützt, wenn es gelingt, die Proviantmengen vor ihrer Gier zu schützen.

Das andere Boot ist wertlos.

In einer Sekunde hat sich die Scheidung der Lager gebildet. Die Mannschaft hat sich zu einem Knäuel zusammengerottet. Für alle zusammen ist nicht Platz und Nahrung genug da. Nur für eine Minderheit unter guter Führung, nur für den stärksten Kollektivegoisten gibt es Lebensraum.

Die ersten Ratten versuchen zu landen. Mit den bekrallten Pfötchen bemühen sie sich, sich an dem Rand der Scholle festzuhalten, nach oben zu kommen. Zuerst vergeblich.

Mein Vater will die Zigarre anzünden. Noch bevor er sich Feuer gibt, merkt er, wie jemand hinter seinem Rücken sich nähert. In seine linke Hand, die mit der Zigarre zwischen Zeigefinger und Mittelfinger hinabhängt, wird ein viereckiger, kleiner, warmer Gegenstand, an dem etwas Klirrendes befestigt ist, sachte hineingelegt. Überrascht hebt er die Hand zu den Augen. Es ist das so lange vermißte Evangelium. Der Mann, der es gestohlen hat, hat in dem kritischen Augenblick Gewissensbisse bekommen. Er hat sich von dem Diebstahlsgut trennen wollen. Er hat es unter dem Hemd hervorgeholt. Wer es war, ob der Geograph oder der Kapitän, habe ich nie erfahren. Zwischen den Seiten des Büchleins steckt ein Rosenkranz.

Mein Vater muß sich fassen. Besinnen. Entschluß ist alles. Er schlägt, mit seinen Gedanken ganz anderswo, das Buch dort auf, wo der Rosenkranz gelegen hat. Es ist die Bergpredigt. Seine Augen lesen den Beginn des fünften Kapitels des Evangeliums Matthäi: die Bergpredigt Jesu. Die ersten Ratten huschen über seine Füße. Ihre Landung ist gelungen.

Mein Vater liest, aber er liest nicht weiter. Er ergibt sich nicht. Er betet nicht. Er speit die Zigarre aus, tritt nach den Ratten, faßt nach dem Revolver, sammelt mit einem kurzen Kommando seine engeren Kameraden um sich. Die soziale Frage ist aufgeworfen, der Kampf der Klassen ist eingeleitet. Hier die Offiziere, Gelehrten und der Kapitän. Die Köpfe. Dort die Matrosen. Die Masse. Vor ihnen das Kampfobjekt, die Boote. Unerreichbar und nutzlos das brennende Schiff. Zu den Füßen die Ratten. Über ihnen der Polarhimmel und sonst nichts.

Die Eskimos sind in wilder Flucht, peitschen mit langen, scharfgespitzten Stäben die Hunde, schlagen ihnen die Flanken wund, grätschend stehen sie auf den niedrigen Schlitten. Mit scharrendem Geräusch gehen die Schlitten auf den Kufen ab. Und unter immer wiederholten, aber leiseren, verhallenden Peitschenschlägen jagen die Kinder der Natur fort vom Schauplatz des letzten Kampfes zwischen den Mitgliedern der unseligen Expedition. Auf der Scholle sind sie gekommen, auf der Scholle sind sie gegangen.

Mein Vater schleudert das kleine Buch zur Erde. Ratten werden es fressen, wie sie die letzte Zigarre gefressen haben. Tabakblätter, Papierblätter, ihnen ist alles gleich im Kampf ums Dasein. Dem Kohlenoxyd sind sie entgangen, ebenso dem Feuertod. Auch ertrunken sind sie nicht.

Für Sentimentalität ist keine Sekunde Zeit.

Etwas Sonderbares begibt sich. Der Hund hat sich von seinem Lager aufgemacht, ist mit langem Hals, gesenkten Ohren, eingekniffenem Schwanz zu meinem Vater hingehinkt, hat sich, zum erstenmal seit jener Wiederkehr aus der Rattenunterwelt, an ihn geschmiegt. Was in der Seele des Tieres (auch das Tier hat eine Seele, wenn auch eine ganz andere als der Mensch) vorgegangen ist, läßt sich auch nicht im entferntesten erraten.

Was in der Seele meines Vaters vorgegangen ist (auch mein Vater hatte eine Seele, wenn auch eine ganz andere als die der meisten Menschen), läßt sich nicht erraten.

Wie ich sie bis jetzt wiedergegeben habe, so ist mir seine Erzählung in Erinnerung geblieben. Seine Worte waren präzis und er hat sich nie widersprochen, so oft ich diese Erzählung gehört habe. Auch meine Mutter, die durch ihren Bruder davon wußte, hat mir die Tatsachen bestätigt.

Von dem Endkampfe gegen die Menschen und Tiere schwiegen alle, Zeit ihres Lebens. Es muß grauenvoller gewesen sein als alle Jagden gegen gefährliche Tiere im Innern eines wilden Landes, bei denen man rühmlich untergeht. Ein wahrhaft unbeschreibliches Gegeneinander muß sich bei dem Kampf zwischen vierfüßigen und zweifüßigen Bestien um die letzte Lebensmöglichkeit abgespielt haben. Mein Vater hat ihn bestanden.

Er hat den Menschen kennengelernt, wie er ist. Wie ich bin.

Er ist nicht nur vor der Anwendung brutalster Gewalt nicht zurückgeschreckt, er hat gewiß auch psychologisch alle Methoden erschöpft, um mit den Menschen, deren Hilfe er unbedingt brauchte, um sich zu retten, fertig zu werden. Es spricht für die wilde, hemmungslose Energie meines Vaters, ebenso wie für sein geniales Spielen auf der Seelenklaviatur, das mit präzisester Vorausberechnung jeder menschlichen Handlungsweise arbeitete wie der Operateur mit dem Messer oder der experimentelle Bakteriologe mit dem auf ein millionstel Milligramm abgewogenen Giftversuch, daß er ... daß er als Kollektivegoist...


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