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XVII

Die Erholung ging bei mir sehr langsam vonstatten. March hatte es viel leichter. Ich gönnte ihm sein Glück. Das, was ich erlebt hatte, wünschte ich meinem ärgsten Feinde nicht, geschweige denn meinem einzigen Freund.

Ich machte die ersten Schritte im Krankenzimmer nur tappend wie ein Achtzigjähriger, der einen Schlaganfall hinter sich hat. Bei jeder Bewegung zwang mich stürmisches Herzklopfen, von Atemnot begleitet, stille zu stehen und zu warten, bis ich mich wieder erholt hatte. March, der doch nach mir (durch Überimpfung meines Y. F.-Blutes durch eine der Stechmücken) erkrankt war, stand bereits wieder fest auf seinen Beinen, wenngleich auch er tiefe Gruben unter seinen Augen hatte und das Haupthaar ihm in ganzen Büscheln ausfiel. Ich hätte ihn im Verdacht, daß seine männliche Eitelkeit dadurch sehr gekränkt wurde. March – und eine Glatze, oder der hübsche blonde Junge mit einer Denkerstirn, die über den mattgewordenen Augen begann und erst im Nacken endete! Und so sonderbar es klingt, gerade zu dem durch die schwere Krankheit mitgenommenen March zog es mich hin, jetzt hatte ich für ihn mehr denn je ein Gefühl der Sympathie. Was sage ich, ein Gefühl der Sympathie? Helle Freude war es gewesen, als ich ihn an der Hand der Schwester, die Nonne aber um mehr als Haupteslänge überragend, bei mir eintreten sah und er sich mir, im buchstäblichen Sinne des Wortes, an den Hals warf! Sein kahler Schädel, der einer Billardkugel glich und sich ebenso glatt und fein anfühlte wie eine solche, bewegte sich an meinem Halse, in dem die Pulse schon bei der leisesten Aufregung stürmisch pochten, auf und nieder und seine Tränen drangen mir zwischen meinen Krankenkittel und die Haut bis an den unteren Teil der Brust. Welch ein Wiedersehen! spottete ich. Wir waren beide vom Tode auferstanden und konnten dem Schicksal danken.

Ich tat es in meiner Weise. Er in der seinen. Er meldete sich bei dem Kaplan zur Beichte und Kommunion, da er die Beichte, die er beim Beginn der Krankheit abgelegt, und die Kommunion, die er damals wie alle frisch Erkrankten im Hospital empfangen hatte, nicht als genügend ansah.

An diesem Tage mußte man ihn halb mit Gewalt aus meinem Zimmer hinausbringen. Meine Kräfte waren kaum nennenswert, sie reichten gerade nur aus, um mein Leben zu fristen. Ich hätte immer schlafen mögen. Die Nahrungsaufnahme war sehr gering, ich fürchtete, das schauerliche Erbrechen könne wiederkehren, und was es bedeutete, kann nur jemand ermessen, der sich beinahe zu Tode gewürgt und erbrochen hat wie ich. Ich konnte kaum sprechen. Alles, was ich tat und was ich dachte, trug dieses Kennzeichen: Kaum.

March, ein Mensch von fast unverwüstlichen Lebenskräften, verstand dies nicht. Es war sechs oder sieben Tage nach meiner Entfieberung, als er »quietschvergnügt« an meinem Bettrande saß und mich in seiner täppischen Art fütterte. Ich wehrte mich gegen seine allzustürmische Fürsorge. Aber ich wollte ihn nicht verletzen. Ich merkte aber, daß es für mich zu viel wurde. Meine Magenwände, deren Wunden eben erst zart übernarbt waren, vertrugen keine größere Menge von Nahrungsmitteln auf einmal und mochten diese noch so lecker zubereitet sein, wie sie die Negerköchin in der Lazarettküche für die Rekonvaleszenten zuzubereiten verstand. Aber wenn der gute March neben mir saß und sich über jeden Bissen freute, zu dem ich mich zwang, wer hätte ein so hartes Herz gehabt, ihm zu sagen: geh und quäle mich mit deiner Liebe nicht mehr! Sie ist mir zum K... !

Ich fügte mich also seinem Drängen. Dann warf ich mich in den Kissen zurück. Schmerzen begannen in meinem Magen zu wühlen und in der Kehle bis in den Rachen hochzusteigen, das Aufstoßen, stets ein bedrohliches Zeichen bei mir, der es in gesunden Tagen nicht kannte, meldete sich, obgleich ich es aus Leibeskräften unterdrückte, um March nicht ängstlich zu machen. Ich zwang mich, ruhig zu liegen und alles, was hochkommen wollte, gewaltsam niederzudrücken.

Der Gute stand inzwischen am Fenster, ließ die Rolläden hinab, zerrte aber dann zwei Brettchen auseinander, um noch einen schwärmerischen Blick auf die Abendlandschaft zu tun. Das Lazarett lag auf einem Hügel, die Aussicht war an klaren Tagen zauberhaft schön, die dunklen felsigen, aber am Strand zum Teil üppig umgrünten Inseln sah man im Licht der untergehenden Sonne in allen Regenbogenfarben erstrahlen, das Meer spiegelte die Kupfer- und Saphirtöne der Wolken und den flammenden Glanz des allmählich versinkenden Gestirns. Die gewaltigen architektonisch aufgetürmten Wolkenmauern standen still. Still standen auch die Felseninseln und das beruhigte Meer. Zwischen beiden bewegte sich allmählich versinkend die zauberhaft in schwebendem Glanz leuchtende Abendsonne. Es war mir ein sonderbares Gefühl, die Bewunderungsrufe meines Freundes angesichts dieser paradiesischen Naturschönheiten zu hören und mich dabei in innerlichen Schmerzen zu verzehren. Und jetzt setzte er sich gar an mein Bett, es wurde schnell dämmerig, er liebkoste mich mit seinen guten, dummen Augen und strich sich mit seinen Fingern von der Stirn aufwärts, seinen Schädel entlang und prüfte mit den Fingerspitzen, ob ihm das Haar nachwüchse und fragte mich halb ernsthaft, halb lachend um meine Meinung darüber.

Darüber! Warum sprach er nicht von dem, was ihn wirklich bewegte? Es war tausendmal wichtiger, wie sich seine und meine Zukunft gestalteten. Walters humaner Plan, jeden Gefangenen von Amts wegen zur Begnadigung zu empfehlen, wenn er sich den lebensgefährdenden Experimenten freiwillig unterworfen hatte, war ihm ja früher bekannt gewesen als mir, der damals die ersten Fieberattacken mitgemacht hatte. Nun war es mir eine große Sorge (und keine unbegründete), wie diese Freiheit aufzufassen war. War es nur die Freiheit, sich auf C. frei zu bewegen und hier aller Wahrscheinlichkeit nach an dem Elend der Erwerbslosigkeit und der Not und dem Klima zugrunde zu gehen, besonders wenn man, wie wir beide, auf die Unterstützung durch mildreiche Angehörige nicht zu rechnen hatte, – oder war es die wahre Freiheit, mit seinem Leben beginnen zu dürfen, was man wollte?

Ich war, das sagte ich schon, infolge der Krankheit in außergewöhnlichem Maße hellhörig geworden. Obwohl ich jetzt schon wieder unter dem Einfluß einer neuen Fieberwelle stand, hörten meine Ohren das leiseste Geräusch. Ich muß auch bemerken, daß ich jetzt den Dingen um mich eine viel höhere Aufmerksamkeit schenkte als je zuvor. Mir fiel vieles an Menschen und Dingen auf, das ich früher nie zu bemerken für nötig gehalten hatte. So wurden mir von jetzt an unzählige Charaktereigentümlichkeiten an den Menschen offenbar, lächerliche sowohl als auch rührende, abstoßende sowie ergreifende. Ich verstand die Menschen besser, fand sie natürlich und nicht immer in sich widersprechend.

Ich wäre früher eines Zusammenlebens wie jetzt mit March und mit Walter nicht fähig gewesen. So hörte ich, feinhörig, Marchs regelmäßigen Atemzügen doch das Bedrückte, das Beschwerte an. Vielleicht ist es nur ein winziges Schleimpartikelchen, das ein in seinen Gedanken bedrückter Mensch in seiner Luftröhre bei jedem Atemzuge mitrasseln läßt, während es ein froher, sorgenloser Kerl richtig ausspuckt. Wie er sich räuspert, wie er spuckt ... March räusperte sich nicht, er rasselte. Seine Augen hingen mit sehr besorgtem Ausdruck an den meinen, sicherlich beschäftigte ihn dasselbe Problem wie mich. Er wollte mich schonen, er wollte mir keine Erregung verursachen, er hatte Takt, und seine Seele war stets von Natur etwas feinhörig gewesen, mehr als die meine, fürchte ich. Was half es aber, wenn er mir doch jetzt nicht helfen konnte? Er ahnte also vielleicht meinen Zustand, ich aber fühlte das Übel unabänderlich mit schauerlicher Angst kommen und wünschte nur, ihm den Anblick seines wieder erkrankenden Freundes zu ersparen. Ich schwieg und nahm eine verdrossene Miene an, ich wollte ihn nicht mehr bei mir haben. Nicht aus Abneigung, nein, gerade aus Neigung. Wollte er das nicht verstehen? Konnte er es nicht?

Warum begriff es die eben eintretende Schwester? In weniger als drei Sekunden war er zur Tür hinausgedrängt, ich wurde horizontal gelagert, die Kopfkissen flogen auf die Erde, die Eisblase kam schnell auf den Magen, wo sich die abscheulichen Schmerzen in aller Fürchterlichkeit zeigten, der Guttaperchalatz klatschte um meinen Hals. Das Licht wurde verlöscht, vielleicht damit ich das von mir Erbrochene, die gefürchteten kaffeesatzartigen Massen nicht sähe. Und das Kommando: ruhig atmen, tief atmen, ruhig liegen, waagerecht liegen! Keine Bewegung. Nichts. Kein »v« (vorlesen), kein »g« (genug)! Atmen; Schweigen.

Vielleicht war es mein letzter Tag. Es war auf jeden Fall ein Rückfall und um so ernster, als ich keine Kraftreserve mehr hatte. Die Schwester fuhr mir mit ihrer Hand über die Stirne. Sonst konnte sie nichts tun im Augenblick. Dann setzte sie sich in eine Ecke, und ich hörte sie ihren Rosenkranz leise klirrend bewegen. Taktförmig wandelte sie ihre Perlen ab und taktförmig stieg die würgende Welle in meinem ausgemergelten, aber doch trommelartig aufgetriebenen Leibe hoch. Ich dachte an mein vergangenes und künftiges Leben. Ich wandte meinen Geist von den Schmerzen und dem Würgen ab. Ich bemitleidete mich nicht. Statt dessen überdachte ich unter wütenden, herzzerreißenden Schmerzen einen weit angelegten Arbeitsplan, wie ich dieses mein Leben in Zukunft gestalten würde, wenn mich das Schicksal auch jetzt noch rettete. Hatte ich noch Hoffnung? Nur Hoffnung auf Hoffnung! Die Rückfälle waren zu gefährlich. Ich sollte aber noch nicht sterben. Das Würgen ließ endlich nach.

March hielt man von mir fern, bis ich ganz außer Gefahr war. Walter und Carolus kamen oft.


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