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V

Hätte ich getan, was ich sollte, und hätte ich unterlassen, was ich getan, so hätte ich mir viele bittere Stunden erspart. Ich bin nicht weichherzig. Auch gegen mich nicht. Aber ich hatte meine Aufnahmefähigkeit für Leiden nach allem Vorhergegangenen für erschöpft gehalten und jetzt sollte ich – doch wozu vorgreifen, die Tatsachen müssen wie bisher einzig und allein meine seelischen Leiden und Freuden verständlichmachen.

Ich hatte bisher nur mit dem toten Material zu tun gehabt und mit den Tieren. Als sich nun (dank meines Versagens) die Aussichtslosigkeit unserer bisherigen Bemühungen ziemlich deutlich herausstellte, hätte ich damit rechnen müssen, wieder in einen Camp zu den anderen Schwerverbrechern transportiert zu werden und von jetzt angefangen entweder grobe körperliche Arbeit, etwa beim Straßenbau, zu verrichten, oder bestenfalls in eines der Büros der Stadt als Schreiber oder Buchhalter geschickt zu werden. In der Umgebung der Stadt und auf den umliegenden Inseln gab es nicht unbedeutende Gummiplantagen, es bestand in der Nähe ein ansehnliches, aber wegen der klimatischen Verhältnisse nicht genügend ausgebeutetes Goldvorkommen aus Quarz, die wertvollen Hölzer in den ungeheuren, zum Teil jungfräulichen Wäldern der Halbinsel waren ein internationales Handelsobjekt einer Holzverwertungs-Gesellschaft, aber auch innerhalb der zahlreichen Strafgefangenenkolonien, zu denen auch eine Leproserie gehörte und einige mehr oder minder primitiv eingerichtete Krankenhäuser (auch ein modern eingerichtetes war darunter), wäre für einen akademisch vorgebildeten, arbeitswilligen Menschen Beschäftigung zur Genüge gewesen. Und doch war es mir bestimmt, in dem alten Klosterlazarett, der Sammelstation für Y. F. sein und bleiben zu müssen – und warum? Nicht ein Wort hatte ich gesagt, nie eine Bitte ausgesprochen, aber mein hochgestellter Vater hatte seinerzeit durchgesetzt, daß man mich bei der Deportation »nach Tunlichkeit in meinem Berufe beschäftige«. Mein Beruf war in erster Linie experimentelle Bakteriologie. Hier in C. wurden Experimente gemacht. Hier handelte es sich um einen Bazillus X, genügte das nicht? Natürlich genügte es. Und als im Laboratorium nicht mehr genügend Arbeit für mich war und der Müßiggang für einen Menschen meiner Art die allerschwerst zu ertragende Strafe bedeutet, beauftragte man mich, nicht anders als seinerzeit auf der »Mimosa«, hier oben mit der sachgemäßen und gewissenhaften Pflege einiger schwer erkrankter Menschen.

Ich hatte immer das unselige Glück besessen, Vertrauen zu erwecken. Der alte, nicht übertrieben kluge, aber in seinem Fache tüchtige und erfahrene Krankenhausdirektor ließ mich also jetzt zu sich kommen, betrachtete mich lange Zeit ohne ein Wort zu reden und gab mir dann den Auftrag, die ärztliche Pflege in einem der zahlreichen, jetzt übrigens meist leerstehenden Trakte des Hospitals zu übernehmen. Wir verständigten uns, es sollte eine Probe sein. Und das wurde sie auch, aber in ganz anderem Sinne, als er und ich es erwartet hatten. Er traute mir. Ich sah es.

Ich sollte vor allem, um der Krankheit von der klinischen Seite, das heißt von der Beobachtung am Krankenbette aus, näher zu kommen, die letzten frischen Fälle studieren. Ich verbeugte mich mit höflichem Lächeln tief vor dem alten, braungebrannten, seine gute Zigarre rauchenden Herrn mit dem schlohweißen Haar und Bart. Dabei senkte sich mein Kinn auf den Halsteil meines Laborantenkittels, und ich spürte in der Brusttasche einen viereckigen Gegenstand. Erst in dem Krankenzimmer, in das ich geführt wurde, besann ich mich dessen, es war die Streichholzschachtel des Magisters F. mit den Moskitoeiern, die aber inzwischen ausgeschlüpft waren und sich zum Teil in kleine Moskitokinder verwandelt hatten. Ich beschreibe diese sonderbaren Insekten später mit aller Gründlichkeit, welche diese sonderbaren Kinder der wahllosen Mutter Natur verdienen. Jetzt nur das eine, daß eines von ihnen vorwitzig aus einem winzigen Spalt der Schachtel sich herauszwängte und schwirrend, mit dem eigentümlichen, hohen, durch Mark und Bein gehenden, piependen, saitenartig sirrenden Laut das Weite suchte. Aber nicht fand. Der Raum, das Krankenzimmer meine ich, war in Halbdunkel gehüllt. Man hatte nicht nur die grünen Holzrolläden herabgelassen, sondern außerdem die Fenster mit roten, wollenen oder seidenen Tüchern zugehangen. Ich mußte wenigstens die Tücher entfernen, um die erste Untersuchung des kranken Kindes vornehmen zu können. Denn um ein Kind handelte es sich, so hatte mir der Direktor des Krankenhauses angedeutet. Es befand sich noch eine zweite Person in dem kleinen Raum, der, wie aus seiner Bauart, den hohen gotischen Gewölbebildungen etc. hervorging, ehemals eine von den Einzelwohnzellen der Klosterinsassen gewesen sein mußte.

Bevor ich die halb versteckte, furchtsame Kranke zu Gesicht bekam, zeigte sich mir ihre Begleitperson, die Aya oder Amme. Es war eine Frau von Mitte sechzig, in bordeauxrotem Sonntagsstaat, Unterröcke aus frisch gestärktem, weißem Kattun, weiße, breite Stulpen um die abgearbeiteten, knorrigen, kaffeebraunen Hände. Die eng anliegende Taille war bis zum Hals zugeknöpft, ein kleines, dreieckiges Fransentuch lag um die infolge Alters nach vorne zusammengesunkenen Schultern. Aus den Ohrläppchen, die tief hinabgezogen waren, baumelten lange Ohrgehänge aus grünem Glasfluß, in Goldfiligran gefaßt. Der breite, wulstige Mund war vor Erregung zusammengekrampft. In großer Unruhe bewegten sich die knochigen Finger, zwischen denen ein absonderlicher Rosenkranz aus großen silbernen Kugeln klirrte. Ihre Augenbrauen waren struppig wie bei einem alten Manne, grau wie Streusand und ebenso rauh. Die schwarzen, lebhaft funkelnden Augen gingen abwechselnd von dem Direktor und mir zu ihrem Schützling, von dem man erst den Nacken sah, da das Kind das Köpfchen aus Angst vor mir, oder vielleicht nur das lebhafte Licht scheuend, in seine himmelblaue, seidene Bettdecke vergraben hatte. Wenn man näher zu dem Bette trat, an dessem Rande die Alte stand, dann bemerkte man vor allem den etwas scharfen, etwas an Tierausdünstung mahnenden Geruch der schwarzen Rasse der Mulattin, dann aber spürte man, und zwar mit jedem Augenblicke stärker, einen anderen Geruch, und zwar jenen, nur nicht in ganz so penetranter Art, wie ihn der alte Schwede und die anderen Leichen gehabt hatten, die auf unseren Tisch unten im Souterrain gekommen waren. Y. F. Es konnte nach allem kein Zweifel sein.

Der Direktor sagte mir nur kurz, um wen es sich handle. Es war ein Mädchen von vierzehneinhalb Jahren, Monika-Zerlina-Aglae etc., der Familienname, ein spanisch klingender, aus zahlreichen Einzelnamen bestehender Name tut nichts zur Sache. Er gab mir zu verstehen, das junge Ding sei das einzige Kind sehr vermögender, portugiesischer Eltern. Der Vater war seit drei Jahren hier als Direktor der großen Holzverwertungsgesellschaft in der Altstadt tätig. Das Kind war in Europa im Kloster erzogen. Aber auf flehentliches Bitten der unvernünftigen, ihr Kleines äffisch liebenden Mutter hatte man es durch die alte Amme hierherkommen lassen. Hierher? Gewiß! Lag es nicht da vor uns und sah uns mit seinen schönen, samtbraunen, von der Krankheit bereits entzündeten Augen flehentlich lächelnd an?

Die Mutter hatte von der Y. F.-Gefahr gewußt, ja, sie selbst zitterte Jahr und Tag ununterbrochen in dieser Angst. Weshalb dann hier bleiben? Ja und warum in Satans Namen gar ein unschuldiges Kind in dieses teuflische Klima, diese weltbekannte Hölle der Verbrecher kommen lassen? Der Gatte war Wachs in ihren Händen. Er mußte bleiben und konnte ohne die Frau nicht leben. Und sie nicht ohne ihre Monika. Ist das nicht logisch? Er mußte viel Geld verdienen. Die Frau hatte in den letzten Jahren in Paris einen außerordentlichen Luxus getrieben, wahnsinnig viel Schmuck etc. gekauft, der Mann konnte hoffen, gerade hier, auf einem so exponierten Posten in kurzer Zeit ein großes Vermögen wieder heranzuschaffen.

Das Kind war drüben offenbar in guter Obhut gewesen. Alles in Frieden und Freuden, hätte nicht die alberne Dame jeden Augenblick gefürchtet, selbst an Y. F. angesteckt zu werden. Und sterben müssen, ohne ihr Einziges, ihr Kind nochmals gesehen zu haben! Und der Mann, wie Männer oft geliebten Frauen gegenüber, selbst zu deren Unheil schwach geworden, gab nach. Er ließ die Wahnideen in dem Puppenhirn der einfältigen, stupiden Affenmutter gelten und gab Auftrag, das Kind solle kommen. Auch die Aya, die ihr Küken nicht länger missen wollte, und konnte, hatte darauf gedrängt.

Als das Schiff schon auf See war, war die Seuche besonders heftig nach einer Pause losgebrochen. Was tun? Kabeln? Vergeblich. Man konnte nichts rückgängig machen (oder wollte man es doch nicht? Drahtlose Telegraphie erreicht doch jedes Schiff!) bloß Gelübde tun. Die Mutter in ihrer Angst (um sich? um das Kind?) versprach dem Himmel alles, ein zehnmaliges Jahresgehalt des Mannes, ihren ganzen prachtvollen Schmuck (ich sollte Teile davon kennenlernen) aber der Himmel hatte kein Einsehen. Warum auch gerade er?


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