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Sechstes Kapitel

I

Ich brauche nicht zu sagen, daß ich in dieser Zeit nachts sehr wenig schlief. Mir gingen unsere Pläne nie aus dem Kopf. Wenn ich auf einige Augenblicke eingeschlummert war, weckte mich der Gedanke an die beste Versuchsanordnung. Ich wußte genau, daß wir mit dem höchsten Einsatz zu arbeiten hatten. Vieles konnte mißlingen. Alles vielleicht. Aber es stand felsenfest, daß uns aus Nachlässigkeit und Gedankenlosigkeit nicht das Geringste mißlingen durfte. Aber wie schwer es ist, sich vor Fehlern zu schützen, wie fast aussichtslos der Versuch ist, alles Voraussehbare eben auch wirklich rechtzeitig vorauszusehen, das weiß nur der, der ein solches oder ähnliches Unternehmen von Anfang an durchgeführt hat.

Wie vieles ist beim ersten Denken bestechend! Hier ist die Lösung. So und so wird es. gemacht. So und nicht anders stelle ich die Disposition fest. Ein Wort unter uns wird genügen, den Kameraden und Mitarbeitern meinen Plan plausibel zu machen. Aber nur ein paar Minuten später, da hat sich bei mir selbst der Zweifel gemeldet. Man hat Bedenken, man überlegt. Zögert. Widerspricht sich selbst. Jeder denkende Mensch ist ein Stück Hamlet, wenn es an die Tat geht.

Man ist unsicher – und alles ist einem Mann, der eine Aufgabe unbedingt durchzuführen hat, erlaubt, nur nicht Unsicherheit. Und sich beraten? Auch einem anderen ein Wort im Rat gönnen? Gewiß ja! Die Verantwortung teilen? Wie gerne! Aber es wäre nur Walter in Betracht gekommen. Von dem Mann der Statistik war nichts anderes zu erwarten als seine passive Hingabe. Hundert Prozent Gewissenhaftigkeit. Nicht ein Prozent Initiative.

Aber hatte ich Walter nicht schon bis jetzt viel zu sehr überschätzt? Nicht, daß ich an seinem Opfermut, seinem Heroismus, wie man es nennen will, gezweifelt hätte. Darin waren wir einig. Keiner zweifelte am andern. Keiner verdächtigte den andern, er wolle den leichteren Teil in Gestalt eines gefahrlosen Experiments (auch solche würde es geben und es gab sie!) auf sich nehmen. Was war denn schließlich auch der leichtere Teil? Hatten es die Menschen schwerer, die die ersten waren, oder die Letzten, die das Leiden und eventuelle Sterben der früheren Experimentalobjekte hatten mitansehen müssen? Wer konnte das Risiko, das der Einzelne mit seiner Körperposition, seiner Widerstandskraft gegen den Virus des Y. F. einging, vorausberechnen!

Es gab viel wichtigere Einzelheiten zu regeln. Je länger und gewissenhafter ich mir die Sache in diesen schlaflosen Nächten überlegte und nach dieser und dann nach jener Richtung auseinanderfaltete, desto komplizierter wurde das Gebäude unserer Theorie. Hier war und blieb ich allein. Es war keine einfache Sache, und ich atmete auf, als ich zum Schluß einen Arbeitsplan hatte, der sich auch als praktisch durchführbar erwies. Jedenfalls hatte der Plan das eine Gute (oder Schlechte, wie man es nimmt), daß er vom einfachsten bis zum komplizierten aufstieg und daß die Fülle der noch ungelösten Probleme mit jedem Zuwachs an positivem Wissen wuchs. Die Tatsache: »Stegomyiamücken stehen mit der Verbreitung des Y. F. von Mensch zu Mensch in direktem Zusammenhang«, diese Theorie, die ich als Axiom I bezeichne, war der Anfang, die Grundbasis, die erste Stufe.

Aber welches Werk unter uns unvollkommenen Menschen ist so weit zu fördern, – selbst dann, wenn man sich bis zum letzten Lebensrest dafür einsetzt, – daß man sagen kann: so ist es? So bleibt es. Alle Fragen sind gelöst. Alle Rätsel entschleiert.

Dabei hatten wir noch keinen Finger gerührt.

Wir hatten alle nach den langen negativen Versuchen eine Erholung notwendig. Wenn wir (March und ich) bisweilen mit Deportierten in Berührung kamen und unseren Gesundheitszustand mit dem ihren verglichen, mußten wir sagen, daß wir uns gegenseitig nichts vorzuwerfen hatten. Ob einer die schauerliche, zermürbende Holzfällerarbeit oder die geistarme Bürotätigkeit in der Gefangenenverwaltung ausübte – oder ob er, wie wir, hier in den schwülen Laboratoriumsräumen und in dem erstickend riechenden unterirdischen Sektionslokal seine Zeit verbrachte, das Ergebnis war bei allen sehr ähnlich: eingefallene Wangen, starke Gewichtsabnahme, Verfall, höchste Reizbarkeit bei den lächerlichsten Anlässen, zu deren Schlichtung es aber glücklicherweise aus Walters Mund nur eines Wortes bedurfte. Jetzt freilich fehlte es uns sehr.

Während fast der ganzen Zeit quälte uns der Durst; nie hatte man rechten Hunger; Müdigkeit beim Erwachen; ein zerbrochener, elender Körper Abend für Abend, und oft so große Verzweiflung, daß sie einen nicht zum Schlafen kommen ließ.

Was die anderen Deportierten mit ihrem Dasein begannen, begriff ich nicht. Was konnte ich tun? Ich mußte selig sein, daß ich nicht mit ihnen leben und sterben mußte.

Dabei war es noch nicht sicher, ob mir nicht doch schließlich der Tod in ihrer Mitte bevorstand. Aber die Entscheidung lag nicht bei uns. Es mußte mir gleichgültig sein.

Wichtig allein war es, daß Walter wiederkam, daß ich und meine Stütze, mein Assistent March, bei Kräften blieben und daß auch der in seiner Pedanterie beharrliche und (eben wie ein die Mühle treibender Ochse) geduldige Carolus sich soweit wieder erholte, daß er den moralischen und physischen Anstrengungen der kommenden Zeit gewachsen blieb.

Carolus ordnete in Abwesenheit Walters, der mit seiner Frau auf der »Mimosa« abgereist war, um sie bis auf eine nahe, fieberfreie Insel zu begleiten, an, daß die Räume des Laboratoriums nur täglich auf eine Stunde geöffnet blieben. Wir wollten und mußten die Entwicklung der Stegomyiamücke biologisch und anatomisch verfolgen; zu dieser Kontrolle reichte eine Stunde täglich aus.

Wir nahmen die Exemplare in den verschiedenen Stadien der Larven-Entwicklung aus den Gläsern, töteten sie durch Alkohol, Kälte, Hitze, Dampf, Schwefelrauch, Petroleum oder Chloroform, (auch darüber machten wir systematisch Versuche, um Richtlinien für die künftige Entmückung zu haben), sezierten sie, stellten Präparate über Präparate her. Aber länger als eine geschlagene Stunde täglich sollte diese vorbereitende Tätigkeit nicht dauern.

Aber schon diese Regel, die wir uns selbst gesetzt hatten, vermochten wir nicht an einem einzigen Tage einzuhalten.

Den Rest der Zeit brauchten wir zur Erholung. Wir erhielten die Erlaubnis, den kleinen, abgesperrten und wie ein Schmuckkästchen sauberen Garten der Klosterschwestern zu besuchen und dort im Schatten der Bäume spazierenzugehen, was in den späten Abendstunden und sehr früh morgens eine wahre Erholung bedeutete. Die Stunde war genau festgelegt, denn wir durften nicht mit den geistlichen Schwestern in deren Freizeit zusammentreffen.

Von der exotischen Pflanzenpracht dieses Fleckchens Erde mitten in diesem mit trügerischem Glanz gesegneten Landstrich macht man sich nur eine Vorstellung, wenn man sie gesehen hat. Aber unser aller Sinn stand nicht danach. Meiner sicherlich nicht, obwohl ich früher das reinste Glück in dem Genuß der Schönheit und Allgewalt der Natur gefunden hatte. Ebensowenig könnte man von einem leidenschaftlichen Spieler, solange die Kugel im Roulette rollt, verlangen, daß er den Schönheiten des Hamlet oder den Weisheiten des Evangeliums oder auch nur, um etwas Näherliegendes zu nennen, dem Duft der Blumengärten der Riviera gerecht werden. Ich hatte keine Augen dafür, und wenn March schwärmerisch wie ein Poet auf mich einsprach und mir diese Blume, jenen Stern, diesen Nachtfalter oder jene Wolke zeigte, ließ ich ihn reden und hörte ihm zu mit der gleichen Aufmerksamkeit, wie ich einem Zeisig bei seinem Gezwitscher gelauscht hätte. In meinen Gedanken stellte ich mir die wichtigsten Merkmale der Mücke Stegomyia in naturwissenschaftlicher Beschreibung zusammen. Ich kam etwa zu folgendem Bilde:

Wie auch Carolus an Hand seiner Bücher feststellte, gehörte das Insekt, das den wissenschaftlichen Namen Stegomyia calopus oder Stegomyia fasciata trägt, zu einer Mückenart, und zwar zur Familie (auch hier gibt es Familien und Sippen, wie in unserem trauten Familienheim!) der Culiziden. Es ist ein zierliches, lebhaftes Insekt von brauner bis schwarzbrauner Färbung, die durch auffallende weiße Partien unterbrochen wird. Besonders charakteristisch sind die lyraähnlichen, hellen Zeichnungen auf dem Brustkorb und die bandartigen Streifen an den langen, vielgegliederten, spinnenartig dünnen Beinen. Und zwar sind die am Körper anliegenden ersten zwei Glieder noch einfarbig schwarz, die nächsten Glieder aber weißgestreift. Am deutlichsten ist diese sehr wichtige Einzelheit, an der man das Insekt stets erkennen kann und muß, am letzten der drei Beinpaare. Und dieses merkwürdige letzte Beinpaar wird von der Mücke beim Sitzen stets in der Luft schwingend erhalten. Die Stegomyia sitzt also nur auf vier von sechs Beinen. Die Ringe um den Bauchteil der Mücke sind mit silberglänzenden Strichen und Flecken versehen. Die Flügel liegen beim Sitzen der Mücke übereinander. Sie sind etwas kürzer als der Leib. Sie irisieren in allen Regenbogenfarben. Das Männchen ist vom Weibchen durch eine Art Schnurrbart unterschieden. Es soll (nach v. F.) bloß das weibliche Tier stechen, das männliche nicht. Es mag etwas über zwei Millimeter lang sein, wenn man aber die langen Beine mitrechnet, etwa fünf Millimeter. Sobald die Insekten aus dem Puppenzustand in den der fertigen Insekten übergehen, werden sie sofort befruchtet.

Das geographische Gebiet, in dem es diese Mückenart gibt, umfaßt vor allem den Raum zwischen den Wendekreisen, aber es reicht noch weiter. Man findet die Mücke in Japan und Ostafrika.

Die Arbeiten, die der gute Carolus auf der »Mimosa« mit seinen Fähnchen und Nadeln unternommen hatte, um die räumliche Verbreitung der Seuche festzustellen, erwiesen sich nicht als so gänzlich sinnlos, wie ich zuerst angenommen hatte.

Aber die Rechnung stimmte insoweit nicht, als nicht überall dort, wo es Mücken gab, auch die Krankheit Y. F. auftrat.

Wohl aber umgekehrt: Wo die Krankheit auftrat, gab es unbedingt Mücken. Diese Tatsachen unterstützten natürlich die Theorie des Magisters F., unser Axiom I, sie hätten aber als solche allein nie auch nur zur Erreichung einer wissenschaftlichen Wahrscheinlichkeit genügt.

Man mußte der Sache durch Experimente auf den Grund gehen. Die ersten Schwierigkeiten waren folgende: Wenn die Insekten ausgeschlüpft waren, mußte auch ein frischer Fall von Y. F. da sein. Das war das erste. Und Walter mußte zurückgekehrt sein, denn ohne ihn waren unsere Pläne nicht durchzuführen.

Er hatte nach vier bis acht Tagen zurück sein wollen. Er war es nicht. Die Dampfer verkehrten nach Bedarf, wir hatten bereits die ungünstigste Verbindung kalkuliert. Und bald konnte ich mir in den Nächten überlegen, was ohne ihn aus unseren Plänen und Hoffnungen werden sollte.

Raten und helfen konnte mir dabei niemand. Ich war sehr ungnädig gegen March, der mich mit seinen stummen Zärtlichkeiten und unzeitgemäßen Beschwichtigungsversuchen wahnsinnig reizte. Carolus gegenüber benahm ich mich nicht anders als auf dem Schiff, worüber er sehr erstaunt war. Der Geistliche leistete mir Gesellschaft, die ich trotz der Langweile, die der gute Pater um sich verbreitete, besser ertrug, als ich gedacht hatte. Der Verkehr mit ihm erinnerte an den Genuß kalt gewordener Suppe. Seine beste Zeit lag hinter ihm. Aber gerade dieser Umstand machte ihn erträglicher als einen March, der wie über offenem Feuer kochte und dampfte.


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