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IX

Zwei alte geistliche Schwestern geleiteten den Wirt in die Kanzlei des Hauses, die Förmlichkeiten der Entlassung bedurften einiger Zeit. Inzwischen hatte man seine Angehörigen benachrichtigt und er sollte abgeholt werden. Aber wie? Den mit einem Esel und einem Maultier bespannten Krankenwagen des Hospitals nochmals zu betreten, weigerte er sich, immer noch von der panischen Angst vor dem Y. F. ergriffen, und so blieb nichts anderes übrig, als vom Hafen her zwei stämmige Kerle, entlassene Verbrecher, heraufzuholen, die den dummen Teufel auf ihren Armen (wortwörtlich) in seine Behausung brachten. Er soll nach drei reichlichen Chinindosen schon am nächsten Tage sich wieder erhoben und hinter der Zinkplatte seiner verräucherten Schenke seines Amtes weitergewaltet haben.

Ich hatte noch jenen Mann zu erledigen, – zu betreuen, will ich sagen, den ich als verloren betrachtete und den auch Walter nach einer summarischen Untersuchung als aufgegeben ansah. Es war ein Mann von nur vierunddreißig Jahren, aber bereits greisenhaft im Wesen und Aussehen, weißhaarig, abgemergelt, Haut und Knochen, wohnungslos, arbeitslos, der kärgliche Rest eines Menschen, der bei den Kanalarbeiten am Panamakanal eine Zeitlang beschäftigt gewesen war. Er war safrangelb vom Haaransatz bis zu den verkrüppelten Zehen und befand sich jetzt im Zustand des Deliriums.

Wenn man ihn fragte, wo der Hauptsitz seiner Schmerzen liege (denn lindern wollte und mußte man, wenn auch jede wahre heilende Tätigkeit aussichtslos erschien) dann wies er mit seiner Hand bald auf den Kopf mit der niedrigen Stirn, bald auf die Lendengegend; seine dürren, stark behaarten Beine zuckten, als peinigten ihn Wadenkrämpfe. Die Augenbindehäute waren gelb, von rot strotzenden Äderchen durchschossen. Auch von ihm strömte der widerliche, aashafte Gestank aus, der der Krankheit eigentümlich ist. Jedes Lallen bereitete dem armen Sünder Pein, jede Nahrungs- oder Flüssigkeitsannahme war mit wütenden Schmerzen verbunden. Kein Wunder. Denn wenn man ihm den Mund unter dem wirren, grau-strähnigen, verfilzten Bart öffnete und feststellte, daß Zunge und Mundschleimhaut von scheußlicher Nacktheit waren, wie mit dem Reibeisen bis aufs nackte Fleisch abgerissen, der oberen Schichten beraubt, da begriff man das Maß seines Leidens.

Und hätte er wenigstens in Ruhe leiden und enden können! Aber ohne Aufhören wogte es in seinem Leibe, die Bauchmuskulatur wurde im Spiel von Krämpfen über Krämpfen eingezogen, an das Rückgrat herangepreßt und der Magen, von unaufhörlichem Erbrechen gemartert, behielt nichts, nicht einmal die Eisstückchen, welche die alte Lazarettgehilfin ihm bot. Anfangs war das Erbrochene wässerig, nachher mit dünnen Blutlinien tingiert, endlich bräunlich wie Kaffee-Ersatz, dunkel und körnig.

Kein Augenblick der Ruhe war ihm gegönnt. Der Geistliche, der eben eintrat, versuchte vergebens, ihn an die Bedeutung seiner religiösen Mission zu mahnen, um ihn mit den Sterbesakramenten zu versehen.

Der Kanalarbeiter hörte nicht zu, seine matten, von der Krankheit bis zum Unerkennbaren entstellten Gesichtszüge zeigten, wenn überhaupt etwas, nur vollkommenen Kräfteverfall.

Mit äußerster Anstrengung erhob er sich von seinem Lager, zog sich hoch, daß die Gelenke knarrten, als könne er im Sitzen es leichter haben, sogar aufzustehen versuchte er, sich an sein Nachtkästchen mit beiden Händen anklammernd, ein gelbes Skelett mit blutrünstigem Munde unter dem bluttriefenden Barte, aus roten Augen glotzend, von dem Adel des menschlichen Geistes nur noch die Leidensfähigkeit behaltend. Ein grauenvolles, nicht mehr menschenähnliches Etwas.

Brennender Durst peinigte ihn, und es war ergreifend zu sehen, wie er zwischen dem Wunsche zu trinken schwankte und der Angst, alles unter den jammervollsten Krämpfen wieder von sich geben zu müssen.

Der Geistliche, von himmlischer Geduld erfüllt, ein guter Kenner der Krankheit (übrigens auch er ein Mann von seltsamer Vergangenheit) hielt ihm das silberne Kruzifix zum Kusse hin, und der arme Teufel legte seine nackten Lippen an das kühle, silberne Metall und kühlte seine von den obersten Schichten entblößte wunde Zunge an dem Symbol des großen menschlichen Leidens.

Ich konnte diesen Anblick nicht länger ertragen. Ehrlich gesagt: Wollte ich es denn? Meine Anwesenheit hier bei ihm war vorläufig leider überflüssig. Ich begab mich in meine Schlafstube, gewärtig, man würde mich im Laufe der Nacht zu den letzten Augenblicken des Armen rufen.

In dem Zimmer der kleinen Portugiesin herrschte Ruhe, bloß durch das zarte Klirren des Rosenkranzes unterbrochen. Ich trat nicht ein.

Carolus und Walter, in immer noch ungebrochenem Wissensdrange mit ihren bis jetzt ganz vergeblichen Untersuchungen beschäftigt, kamen an diesem Tage ebenfalls erst spät zur Ruhe.

Sie bewohnten gemeinsam das Zimmer des beurlaubten Assistenzarztes, während ich und March in einem Kellerraum untergebracht waren, der auch zur Aufbewahrung von Holz, Kohle, Essig, Öl und dergleichen diente.

March war von rührender Zärtlichkeit gegen mich. Wozu soll ich von seinen vielen, mir gerade damals ganz unersetzlichen Diensten sprechen, den stummen Handreichungen seiner Hand und seines Herzens! Ich müßte das ganze Um und Auf unseres täglichen Lebens in allen Einzelheiten schildern, um klar zu machen, wie er für mich sorgte. Ich hatte Ähnliches nie gekannt. Und ich sage offen: ich hätte Ähnliches nie gekonnt!!

Und dennoch liebte ich ihn nicht. Ich war ihm gut, ich achtete ihn, ich brauchte ihn. Ich nahm seine Hand in meine und streichelte sie – aber mein Blick und meine Gedanken waren anderswo, sie gingen an ihm vorbei, und kurz vor dem Einschlafen erhob ich mich, um noch einmal nach meiner Kranken zu sehen.

Sie schlief nicht. Die Negerin nickte in ihrer Ecke, sitzend eingeschlummert; aus den vielen kapriziösen Spitzenkissen und Deckchen schimmerte ihr kupferfarbenes, schweißbedecktes Gesicht hervor. Ich weckte sie und herrschte sie ungeduldig an. Wenn sie die Pflege ihres Lieblings auf sich nehmen wollte, durfte sie nicht schlafen. Sie murrte etwas in ihrem Kauderwelsch und setzte mit ihren harten Fingern vor allem ihren silbernen Rosenkranz klirrend in Bewegung. Ich nahm ihr ihn fort. Begriff sie denn nichts? Vom Zimmer nebenan hörte ich dumpf das Toben und Rumoren des Arbeiters und die Handreichungen der Schwester und das Zureden des alten Geistlichen, der noch nicht zur Ruhe gegangen war.

Meine Kranke bot glücklicherweise ein etwas besseres Aussehen als am Spätnachmittage. Es war jetzt gegen elf Uhr abends. Das Fieber war gesunken, der Puls voll und regelmäßig, die Schmerzen erträglich. Sie lächelte mich an, als sei sie geheilt erwacht. Auf ihrer schönen Stirn – nein, ich will von ihrer Schönheit nicht sprechen. Es ist ebenso unmöglich, das Wesen der Musik in Worte zu fassen, wie das Wesen der Schönheit wiederzugeben. Und mehr noch, selbst wenn ich diese rührende Schönheit hier deutlich zu machen vermöchte, was in mir vorging, würde ich doch nicht in Worte zu fassen vermögen.

Die tiefste Verzweiflung, meine trostlose Lage, die eines auf Lebenszeit Verschickten, meine ganz furchtbare Vergangenheit, die Aussichtslosigkeit, daß mein Gefühl von diesem Kinde in seiner Unberührtheit je begriffen werden könne, geschweige denn erwidert, ich ein abgetaner Mann von über vierzig, sie ein verwöhntes, liebreizendes Muttertöchterchen von wenig mehr als vierzehn. Schweigen. Schluß.

Alles aber wäre noch himmlisch gut gewesen, hätte nicht ihr schwerer Krankheitszustand bestanden. Oder war er denn nicht schwer? Lag sie denn nicht wie eine kleine Nonne im Sarge, den Gummibeutel aus weißem Gummistoff ausgebreitet über ihrer schönen, sammetartigen, cremefarbenen Stirne? War es Schlaf, war es Ohnmacht, war es die wunderbare Ruhe der beginnenden Rekonvaleszenz – ich empfand das Zusammenströmen meines und ihres ganzen Lebens gegen alle berechnende Vernunft in einem Gefühl von Glück.

Ich war glücklich in diesem einen Augenblick, als zum zweitenmal an diesem Abend die elektrische Beleuchtung versagte. Ich hatte mich eben über das Kind gelehnt, um den Gummibeutel zu wechseln, noch stand ich da, meinen Kopf über den ihren gebeugt, da fühlte ich, wie sie in der Dunkelheit ihre beiden Arme ausstreckte, sie faßte mich um meinen bloßen Hals – ich hatte mich abends nicht mehr ganz angekleidet und hatte über meinem Hemd nur den Ärztekittel wegen der Hitze –, die Ärmel ihres Chiffonpyjamas schlüpften raschelnd bis zu den Ellenbogen zurück, und ihr Gesicht mit den etwas aufgeworfenen, halb geöffneten Lippen näherte sich von unten her langsam, aber deutlich meinem Gesicht. Aber lange bevor ihre Lippen meine Stirn oder meinen Hals berührt hatten, sank ihr Köpfchen, während die vollen, seidigen, ausgebreiteten Haare sich entfalteten, in den Kissen wieder zurück, in dem gleichen Augenblick zuckte das Licht wieder auf, um nach einigen Stromschwankungen wieder seine alten, gleichmäßigen, messingartigen Strahlen auszusenden.

Wir hatten kein Wort miteinander gesprochen, ich weiß bis zum heutigen Tage nicht, ob sie mich deshalb nicht geküßt hat, weil sie fürchtete, mich mit ihrem schweren Leiden anzustecken, oder ob deshalb, weil ihre Kraft nicht mehr dazu ausreichte. Denn ich sollte zu meinem Schrecken nur zu bald sehen, daß ich die Schwere ihres Zustandes unterschätzt hatte.

Ihre Besserung war nur Schein. War meine echt? Ich wußte es noch nicht.

Ich tat jetzt alles, was in meiner Macht stand. Viel war es natürlich nicht. Dann kehrte ich mit dem bedrückten Herzen, das übergroße Freude ebenso wie übergroßes, unfaßbares Leiden mit sich bringt, wieder zu March zurück.

Ich weinte nicht. Ich erzählte nichts. Ich nahm nur Marchs Hand von den groben Kissen fort, die er eben zu glätten versuchte und sagte zu ihm: »Bleibe mir gut, March, wie ich dir«.

In der gleichen Nacht ward ich geweckt, aber nicht zu dem Erdarbeiter führte man mich über die totenstillen Korridore und Stiegen, sondern zu ihr, die eben um Hilfe gerufen und nach mir verlangt hatte.


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