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VII

Wer könnte es wagen, einem so reinen Herzen gegenüber mit den Lehren der alten Moral zu kommen? Wer sollte so hartherzig sein, nach einem solchen Bekenntnis dem guten March ironisch lächelnd in das zerfurchte Gesicht zu sehen und ihm zu sagen, daß ihn (mich) diese Art von exzessiver Liebe ebenso anekele wie jede andere. Man wagt es nicht. Zu diesem Experiment fehlt mir der Mut.

Ich muß versuchen, auf andere Weise aus der Nähe dieses allzu zärtlichen Herzens zu entkommen.

Ich möchte gerne als Pfleger in das Schiffslazarett. Lieber von Kranken umgeben sein als von einem allzu heiß liebenden Herzen. Wie komme ich fort? Sollte Geld nicht auch hier etwas vermögen? Vielleicht durch Vermittlung eines älteren, im Kolonialdienst ergrauten Unteroffiziers, der angesichts seiner Familiensorgen für ein paar Goldstücke alles Krumme gerade und alles Gerade krumm machen würde. Andeutungen dieser Art hat er sehr schnell verstanden. Nur das Bargeld fehlt noch.

Wie also nun zu Gelde kommen? Mein Bruder hat mich im Stich gelassen. Mein Verteidiger hat sich kühl auf seine Pflicht beschränkt. Mein Vater hat das Weite gesucht. Aber wenn mir das Schicksal geradewegs ein »liebendes Herz« in Gestalt »Gummibonbons« gesandt hat? Und wenn Gummibonbon einen Schatz mit sich führt, von dem er sich nur zu trennen braucht, um so viel Geld zu erhalten, als ich brauche, um zu flüchten? Und vor allem zu flüchten vor ihm, vor March?

So komm doch, du gutes Herz! Mir sprichst du nicht von deinen Gefühlen.

Jetzt ist es Morgen, und du hast besser geschlafen als ich, der fast dauernd Schlaflose. Du streichelst meine Hand und machst dich dann wieder an die Arbeit, die zerbrochene Grammophonplatte zu kitten. Und was vermögen nicht alles geschickte Hände, was macht nicht alles eine Tube Fischleim wieder ganz! Während wir, ausgerechnet mittags, zum halbstündigen Spaziergang in die schauerlich brütende Sonne auf Deck hinausgeführt werden, schleppst du deine Platte mit, stellst sie vorsichtig in einen Winkel nahe einer halboffenen Kajütentür und nimmst sie bei der Rückkehr in den Raum III selig wieder mit, trägst sie wie das Sakrament auf deinen Händen, und auf deinen Lippen spielt ein Lächeln, wie man es in diesen Räumen, auf diesem Schiffe lange nicht gesehen hat, selbst nicht unter den hohen Herren und Göttern, den Schiffsoffizieren, dem Generalarzt.

Sobald es dunkel wird, hier in den Tropen mit großer Schnelle, ziehst du zum erstenmal an Bord der »Mimosa« dein Instrument auf, legst die geleimte Platte auf den Plattenteller und läßt das Werk surren. Und die Platte spielt. Nicht ganz die rechte Musik kommt zwar heraus, denn die Rillen differieren um eine Windungsbreite, so daß sich die Melodie nach wenigen Takten in höchst belustigender Weise stolpernd unterbricht. Der Riß ging mitten durch die ganze Platte. Aber im Grunde ist es doch die alte, herzigsüße Melodie, die alten, synkopierten Paukenschläge, die alten Saxophonklänge, die alten Trommelwirbel, und das höchste Entzücken malt sich auf den Gesichtern der werten Anwesenden, den dicken Soliman nicht ausgenommen, dessen Lippen sich wie das Innere einer üppigen, dunkelroten, überreifen, halbverfaulten, angegorenen Frucht geil vorwulsten. Sogar draußen vor den Eisenbohlen sammeln sich die Wachen, und ich kann dem Unteroffizier einen Blick zuwerfen.

Also dann ans Werk. Das Stück ist zu Ende, die Sträflinge warten auf weitere Musik und auf das Abendessen. Ich aber schließe das Grammophon zu, ziehe March in eine dunkle Ecke, ich bitte ihn mit leiser Stimme, er möchte mir zuliebe sein Wort halten und das Grammophon verkaufen. So fasse ich ihn an seinem unüberlegten Knabenwort. Er überlegt. Es fällt ihm nicht leicht. Er traut mir doch nicht ganz, denn er ist nicht dumm. Aber vermag nicht doch das »liebende Herz« alles über den denkenden Kopf? Er richtet sich auf, zieht auch mich aus der halb hockenden Stellung empor, wir sollen nebeneinander vor der offenen Luke stehen, die gefährlichen Mündungen der Dampfleitung über unseren Köpfen, sollen das Meer, den dämmernden, veilchenblauen Tropenhimmel in eitel Verliebtheit und Seligkeit betrachten, und die seidenweichen Haare seines kräftig wachsenden Bartes streicheln mit leise knisterndem Geräusch meine Haare. Und wie raffiniert sind die Liebkosungen des Unglücklichen und wie keusch sind sie bei aller Sinnlichkeit, seine Froschhand schiebt sich mir zwischen die Haut vorne an der Brust und mein Hemd, das er selbst in der letzten Nacht so sauber wie möglich gewaschen hat. Er flüstert mir zu, er habe schon daran gedacht, »drüben« eine Hauslehrerstelle anzunehmen oder eine Stellung in einem Büro. Er stellt sich alles so leicht vor. Das Bagno ist eine Fabel. Auch das gelbe Fieber und die Malaria etc. existieren nicht für ihn. Nicht das tausendfache Elend, das teuflische Klima, die Umgebung der Verbrecher. Ich habe davon geschwiegen – er aber glaubt, er hofft, er liebt.

Nur wer ins Innere meines Wesens geblickt hat, kann ermessen, wie schauerlich mir diese Beweise seiner hingebenden Liebe sind. Nicht daß sie von einem Mann kommen, ist das furchtbare. Liebe kennt keinen Unterschied zwischen natürlicher und unnatürlicher Art. Aber ich kann nicht. Er erinnert mich an etwas, das ich in der tiefsten Tiefe meines Innern vergraben möchte, das nie mehr auferstehen darf, – an meine dahingegangene, arme Frau erinnert er mich und an ihr Ende. Ihn kann ich nicht brutal von mir stoßen, ich kann ihn nicht mißhandeln und dabei selbst in Wollustkrämpfen erschauern, für mich bleibt Liebe und sinnliches Begehren auf alle Zeit verloren und dahin. Ich muß ihn verraten, ich muß freikommen, und zwar heute noch. Er ergreift mich ja, er geht mir nahe, und eine Nacht vielleicht nur noch und etwas mir Unerträgliches begänne von neuem und darf niemals sein. Nicht ohne Grund habe ich jetzt so lange von meiner Frau geschwiegen.

Liebte ich ihn, vielleicht stieße ich ihn zurück. Da ich ihn aber nicht liebe und nicht lieben darf, lasse ich ihn gewähren. Nimm dir, was du kannst! Und als er sich umwendet und mit verzücktem Blick um sich sieht, trifft sein Auge den geilen Blick des Sultans. In dessen Hände sein Grammophon, die Reliquie, die Erinnerung an Louis! Er, March, ist aber großzügig. Was er hat, ist wenig. Was er aber gibt, ist ganz.

Könnte ich doch so sein wie er! Er hebt das Grammophon von der Pritsche auf, dreht die Kurbel heraus, öffnet den Deckel mit der linken Hand, während er mit der rechten den Kasten an seine schwer atmende Brust gepreßt hält. Zuviel hast du dir zugemutet, altes Knabenherz! Die eben so mühsam gekittete Platte fällt auf den mit Eisenplatten belegten Boden des Raumes III und zerschellt. Einerlei. Auch Sultan ist großherzig. An dem gebotenen Kaufpreis wird nicht geschachert. Aus Solimans sehr unappetitlichem Geldversteck wandert der Betrag in hartem Gold zu March und von March sofort zu mir, und noch am gleichen Abend von mir zu dem Unteroffizier, und in der gleichen Nacht werde ich zu der Pflege des typhuskranken Sträflings 3334 beordert, packe meine Siebensachen und hoffe March nicht mehr wiederzusehen, bevor wir auf der Insel landen, alle.


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