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XIII

Weshalb soll ich es verschweigen? Ich schämte mich meines Unglücks. Ich verkroch mich in mein unterirdisches Gelaß mit den Öl- und Essigflaschen und überließ die Behandlung der eben neu ankommenden Kranken dem Assistenzarzt, der gerade zurückgekehrt war, und dem Chefarzt des Hospitals.

Ich habe, wie ich glaube, zuerst an zwanzig Stunden ununterbrochen geschlafen. Als ich erwachte und mir zum Bewußtsein gekommen war, was sich ereignet hatte, hätte ich am liebsten verzweifelt. Hätte?

Nichts auf der Erde konnte mich, wie ich jetzt glaubte, von meiner tödlichen Verzweiflung befreien. Ich aß nicht, ich trank nicht. Ich schwitzte, schwieg und litt. In vielen sehr unglücklichen Menschen lebt die Vorstellung, daß sie, wenn sie sich körperlich durch Fasten und Kasteien über die Maßen schwächen, auch ihr seelisches Leid viel schwächer, sanfter, erträglicher empfinden. Aber von Sanftheit war leider noch lange nicht die Rede, ich knirschte in der zweiten, völlig schlaflosen Nacht (warum hatte ich auch blöderweise meiner Müdigkeit in der ersten Nacht so ausgiebig gefrönt?) mit den Zähnen, so daß der treue March erwachte und sich im Pyjama zu mir setzte. Wie sollte ich einem Menschen diese verzweifelte Liebe zu einem wildfremden toten Mädchen erklären? Ich sah ein, daß ich selbst alles das, wenn man es mir von einem anderen erzählte, schweigend anhören und nie im Leben begreifen würde. Und wie sollte mich dann ein March verstehn? Und selbst wenn er mich verstand, wie sollte er mich dann trösten? Wie sollte er mir den Menschen ersetzen, an den ich unbegreiflicherweise alles gewandt hatte, was an Gefühl in mir war?

In unserem Gelaß brannte kein Licht. Von oben drang durch die Kellerluke nicht viel Helligkeit hinein. Sehen wollte er mich. Daher brannte er sein Benzinfeuerzeug an und leuchtete mir in das Gesicht. Sein Schlaf war wohl auch nicht der seelenruhigste gewesen, denn er hatte schlimme Nachrichten von daheim, die seinen jüngsten Bruder, den Uhrmacherlehrling betrafen. Und dabei hatte er so oft in Liebe an ihn gedacht, hatte von allen Postsachen die fremden Marken für ihn abgelöst, hatte Orchideen zwischen Filtrierblättern getrocknet und gepreßt für das Herbarium des »kleinwunzigen Brüderleins«. Jetzt war das kleinwunzige Brüderlein krank oder es hatte Schulden oder hatte gestohlen oder war arbeitslos – was weiß ich? War mir etwa die Freude an seinem Kummer eine Erleichterung? So zynisch das klingt (der Zynismus der Hoffnungslosigkeit), auch sein bedrücktes Wesen half mir nicht im geringsten. Wenn ich mir überdachte (ich wollte nicht denken, aber mußte es gegen meinen Willen), daß ich in einem Räume lebte, der gerade unterhalb ihres Sterbezimmers liegen mochte (ein Irrtum übrigens, aber ich mußte alles mit ihr in Zusammenhang bringen) oder daß ich an einem rostigen Nagel an der Kellerwand unten meinen Kittel hängen hatte, der noch Spuren von ihren schrecklichen Leidenstagen trug, so grub und bohrte dies unmenschlich in mir. Und doch schwieg ich und sagte March kein Wort. Er sah, wie ich die Stirn krampfhaft zusammenzog, wobei sich bei mir regelmäßig über der Nasenwurzel zwei tiefe Furchen bilden. Deshalb strich er die Haut an dieser Stelle sachte auseinander oder vielmehr versuchte er, dies zu tun. Kaum hatte er die Stirn in seiner kindlich albernen Güte geglättet (als wäre damit auch der Grund meines infamen Schmerzes fortgewischt!) da zog sie sich unwillkürlich wieder zusammen. Konnte ich denn dafür? Wollte ich es?

Er hatte Takt. Was er niemals in seiner Beziehung zu seinem Kadetten bewiesen hatte, nun bewies er es mir, der nicht darnach fragte und dem es blutwenig bedeutete.

Er fragte mich nicht, denn er wußte, daß ich, wenn ich überhaupt etwas sagen wollte, es von selbst täte. Er las mir, immer wieder sein dummes, rasselndes, funkensprühendes Benzinfeuerzeug in Bewegung setzend, aus einem für ihn wichtigen Briefe etwas vor. Ich verstand sein Gewäsch gar nicht, sondern nickte bloß.

Warum hatte ich denn keine Ruhe? Ich hatte sie nie.

Inzwischen dämmerte es. Ich sah, wie die korbgeflochtenen Hüllen der Essigballons und die staubbedeckten, dicken Ölfäßchen aus dem wesenlosen, grauen Lichte Konturen bekamen.

Er erhob sich, kleidete sich an, holte in einem Bottich Wasser, nahm aus einem Faß mit grüner Schmierseife zwei Handvoll von dem glibbrigen Zeug, panschte es in das Wasser und wollte meinen Mantel hineinlegen, den weißen Ärztekittel, den ich an ihrem Sterbebette getragen hatte. Ich nahm ihn ihm sanft aus der Hand. Halbangekleidet standen wir zwei Narren da, und plötzlich begann er, der von allem nichts begriff, zu weinen. Vielleicht in Gedanken an seinen albernen kleinen Bruder, der ihm nicht helfen konnte und dem er nicht mehr helfen konnte. Oder war es um mich? Mich faßte ein bitteres Gefühl des Hohnes, ich verzerrte ebenso meine Gesichtszüge wie er es tat.

Weinen setzt bekanntlich die gleichen grotesken Gesichtsverzerrungen voraus wie das Grinsen, es unterscheidet sich von diesem nur durch das Tränennaß. Ich kopierte in Selbstironie sein Geplärr, wie ich manchmal in guten, nie mehr wiederkehrenden Zeiten das Lachen eines glücklichen Menschen kopiert hatte, – ich habe bereits davon gesprochen. Und, wird man es glauben, aus dieser Grimasse des vor Verzweiflung grinsenden Georg Letham jun. wurde ein echtes Weinen, ein Schluchzen! Das nicht endende Geschluchze, wie es aus einem dumpfen, zum Sterben hinleidenden, halb bewußtlosen Wesen hervorbricht. Es war das Weinen, wie ich es geschildert hatte in der Agonie des Y. F., das dem eigenartigen Reflex der vergifteten Vagusnerven entspricht. Wer lacht da nicht mit? Ich hatte nichts anderes zu tun, in meinem einundvierzigsten Lebensjahre, nach allem, was ich gesehen und erlebt hatte, als das Schluchzen der kleinen Portugiesin, die sich vor meinen Augen vorgestern zu Tode geschluchzt hatte, zu kopieren.

Inzwischen hatte der gute March sich schamhaft von den Äußerungen meines exzessiven Gefühls (darf man es anders nennen?) abgewandt. Er hatte unter Tränen das weiße, hemdartige Kleidungsstück in der grünlich schimmernden, schäumenden Flüssigkeit eingeweicht, Luftblasen drangen bullernd an die Oberfläche, er rieb die Ärmel des Kittels mit den Perlmutterknöpfen der Vorderseite klappernd aneinander, die unteren Partien scheuerte er an den oberen, um den Schmutz zu entfernen, mit einem Male quiekte er leicht auf, er hatte sich mit einem scharfkantigen Gegenstand in den Finger geschnitten. Es war der Objektträger, der das Blut meines Lieblings trug. Diese kleine Glasplatte war, in weißes Löschpapier eingewickelt und mittels Blaustiftes mit dem Namen der Kranken und dem Datum der Blutentnahme gekennzeichnet, in meiner Brusttasche vergessen geblieben. Die seltsamste Reliquie, die ein Liebender als Andenken an seine verewigte holde Julia zurückbehalten hatte oder vielmehr nicht zurückbehalten sollte.

Nun versiegten meine Tränen, ich erhob mich, bekleidete mich, ging nach oben, badete und frühstückte und machte mich an die Arbeit im Laboratorium wie vor der Zeit, die ich am Bette Monikas verbracht hatte. In einer Ecke sah ich ein Einmacheglas mit Moskitos, March hatte die Stegomyias aus dem Steinguttopf herausgenommen, vielleicht auf Wunsch des jetzt auf einmal ordnungsliebenden Generalarztes Carolus oder auf Wunsch des wißbegierigen Walter, der die süßen, wirklich niedlichen Insekten, die man so übel verleumdet hatte, durch die durchsichtige Glaswand beobachten wollte. Aber was war schon an ihnen zu sehen? Wir fanden nichts Besonderes an ihnen.

Walter war übrigens im Innern ebensowenig bei der Sache wie ich. Wenn nämlich eine wissenschaftliche Untersuchung über eine gewisse Zeit angedauert hat, ohne auch nur die geringsten positiven Resultate ergeben zu haben, ergreift den Forscher eine Art Lähmung, eine intellektuelle Verzweiflung, eine sture Apathie: Man sitzt wohl noch emsig und brav über dem Mikroskop, man steckt die Nase fleißig in die Kulturen, oder besser gesagt in die keimfreien Nährböden, die man pünktlich jeden Morgen aus dem körperwarmen, wohlverschlossenen Brutschrank heraushebt; aber nur, um immer wieder das Nichts, das Null, Komma Null zu konstatieren. Das sind die keimfreien inneren Organe, der ungetrübte Spiegel der Bouillon, die glatte, jungfräuliche Oberfläche des festen, gelatineartigen Nährbodens, an dem ähnlich wie alte Skispuren auf einem Gletscherschneefeld die leichten Kratzer zu sehen sind, die von der Platinimpfnadel auf dem Nährboden zurückgeblieben sind. Ein sehr netter, aber auf die Dauer zur Raserei bringender Anblick. Sterile Arbeit im wahrsten Sinne des Wortes.

Kein Wunder, wenn die Nase des guten Carolus, von Natur lang genug, mit jedem Tag länger wurde, obwohl er doch persönlich noch den größten Nutzen aus dieser Zeit gezogen hatte. Denn er hatte unter den Augen eines so glänzenden Lehrmeisters wie Walter von alpha bis omega die Methodik einer präzisen, exakten, wissenschaftlichen Bakterienforschung sich zu eigen gemacht. Und wenn er auch hier und jetzt mit leeren Händen von C., der Stätte der neuerlich stark aufflackernden Seuche hätte abziehen müssen, so konnte er in einem anderen, leichter zugänglichen Wissensgebiet künftig an Hand seiner Kenntnisse möglicherweise etwas Ersprießliches leisten.

Vorderhand aber lastete das Mißgeschick der Expedition so stark auf uns allen (den unverwüstlichen March vielleicht ausgenommen) daß eine Nachricht, die der Magister F. als Unglücksrabe brachte, wie ein Blitzstrahl wirkte, sie ließ uns alle geradezu vernichtet zurück. Wie bei der Expedition meines alten Herrn war nämlich auch hier (wie kehrt doch alles wieder in diesem kurzen Leben!) eine Konkurrenzkommission, mit großen Geldern und starkem wissenschaftlichen Stab ausgerüstet, auf den Beinen; sie war von den Staaten aus nach den amerikanischen Seuchenherden unterwegs, um endlich das Y. F. zu ergründen. Denn die Seuche kostete in Havanna so viele teure Menschenleben, daß sowohl die Kolonisation weiter Landstriche als auch die Anlage wichtigster, den Kontinent umwälzender Kanalanlagen unmöglich war, solange man nichts Präzises über diesen Feind der amerikanischen Menschheit wußte. Ja, amerikanische Menschheit! Amerikanische Nation, hehre Schwester der europäischen und deren große Konkurrentin! Welch ein Prestige für den Union Jack, wenn unter der glorreichen Flagge der Sterne und Streifen der Erreger des Y. F. entdeckt würde! Und wir – mit leeren Händen! Unwissend gehen müssen, wie wir unwissend gekommen waren!


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