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VI

Der Himmel hatte kein Einsehen, sage ich, aber hatte ich es?

Ich muß reden, ich muß erzählen, wie alles sich ereignete – und zum erstenmal ergreift mich eine mir selbst unerklärliche Scheu, ich weiß nicht, wo beginnen und wo enden.

Zum erstenmal seit dem Tode meiner Frau geht jetzt mein innerstes Gefühl mit, ich spreche von dem einzigen Menschen, dem gegenüber ich das empfunden habe, was mir von anderen als »Liebe« geschildert worden ist. Unglückliche Liebe? Ich weiß es nicht. Ganz unglücklich kann ein so positives Gefühl wie die Liebe niemals werden, wenn es nur echt ist. Eine so ungeheure Kraftprobe des menschlichen Herzens kann nie ganz verloren sein. Aber das alles sind schwankende Begriffe, sentimentale Worte, und ich habe doch versprochen, mir selbst zugesagt, nur von Tatsachen zu reden.

Das erste, was ich von dem Kinde hörte, war ein heiserer, kurzer Schmerzenslaut. Was ich jetzt an ihr sah, war ihre kleine bräunliche, gut gepolsterte, aber langfingrige Hand, wie sie unter den pagenartig geschnittenen, dunkelblonden Haaren an ihrem zarten Hälschen umhertastete. Aber das, was sie suchte, fand sie nicht. Nur ein wenig Blut blieb an der Fingerkuppe kleben, die sie mit ihren großen, noch ganz kindlichen, und doch schon frauenhaften Augen erstaunt betrachtete. Es war wohl einer der jungen Moskitos aus meinem Streichholzschächtelchen, der das junge Mädchen gestochen hatte und der dann, nicht zufrieden mit dem bißchen Blut und zu früh gestört bei seinem Mahl, noch weiter um das Bett umherschwirrte, jenen unberechenbaren Zickzackkurs einschlagend, wie man ihn von den Motten in unseren Gegenden kennt, und der das Fangen der Tiere so schwer macht. Dabei bewegte sich das kleine, silbrig und schwarz glänzende Insekt, seiner neuen Freiheit froh, ganz unbekümmert um das Nachtkästchen, wo allerlei Früchte, Tellerchen mit Kompott, Mineralwasserflaschen und ein Schüsselchen mit Eisstücken in ziemlich großen Klumpen standen. Endlich gelang es der Mulattin, die Mücke mit einem ihrer Kattuntücher zu verjagen, das Insekt schwirrte aus dem Fenster in den Lazaretthof, wo es in der Nachmittagssonne die Flügel blitzend dahinschießen ließ und verschwand.

Die kleine Portugiesin hatte sich aufgesetzt und sah mich an. Trotz ihres fieberhaften Zustands war sie über die Jagd nach dem Moskito belustigt, ihre erdbeerfarbenen, angeschwollenen und deshalb vielleicht jetzt etwas sinnlich wirkenden Lippen mit dem schattenartig angedeuteten dunklen Flaum über dem Munde kräuselten sich zu einem Lächeln, in dem sie sich über sich selbst lustig zu machen schien, etwas so Geringfügiges wie den Stich einer Mücke im Nacken ernst genommen zu haben. Gerade diese Tapferkeit, diese schelmische Ironie bezauberte mich an ihr. Ich sah sie mit einem Blicke an, der nicht enden konnte, und sie erwiderte diesen Blick – oder sah sie mich nur mit kindlicher Neugierde als ihren neuen Arzt an? Ich habe schon gesagt, daß ich die Gabe hatte, Vertrauen zu erwecken, und was kann es für ein so junges, schwer krankes Wesen wichtigeres geben, als daß es an einen Arzt gerät, der ihm auf den ersten Blick tiefstes Vertrauen einflößt? Dann hofft es, glaubt und vertraut.

Diese Eigenschaft besitzen viele Ärzte. Man kann es erleben, wenn man in der Kinderklinik die schwer mitgenommenen winzigen Dinger betrachtet, die im Gefühl ihrer unverstandenen und daher um so fürchterlicher wirkenden Leiden beim Anblick eines bestimmten Arztes augenblicklich mit allem ihren Jammer aufhören – und die sich mit den Händen, die fast zur kleinsten Tätigkeit schon zu schwach sind, die Tränen abwischen – und sich mit einem unbeschreiblichen Ausdruck des schlichten Hingegebenseins, des Mutes, ja des Vertrauens und sogar des Entzückens mitten im Leid dem Arzt überlassen, der, bloß die Krankheit, nicht das kranke Kind seines Blickes würdigend, sich anschickt, es zu untersuchen.

Mir war das gegeben, wie vielen anderen. Ich weiß nicht warum. Es kann nicht das ehrwürdige Alter oder der große Bart oder die langjährige Routine eines Arztes oder Kinderfreundes die Ursache dieses geheimnisvollen Vertrauens, Hingegebenseins, dieses rührenden Aufgehens der leidenden kleinen Kreatur im fremden Arzte bilden.

Doch wozu diese theoretischen Ausführungen? Doch nur deshalb, weil ich es nicht über mich bringen kann, von meiner Liebe zu dem Kinde zu berichten. Keine neuen Schauergeschichten fürchte der Leser! Er erwarte auch keinen tränenseligen Roman. Es handelt sich um eine typische Krankengeschichte eines etwas über vierzehnjährigen Mädchens und um die vergeblichen Bemühungen eines mit sich und der Welt zerfallenen älteren Mannes, es zu retten und mit sich und der Welt wieder einig zu werden.

Es war, so grotesk es klingt, eine Liebe auf den ersten Blick. Kann das ein Zufall sein? Oder wagte ich, Dr. G. L. der jüngere, der ich zu lebenslänglicher Zwangsarbeit auf C. verurteilt war, dieses absolute, von vorneherein ganz aussichtslose Sichaufgeben, weil ich ahnte, daß es sich niemals und nirgends erfüllen konnte? Daß Monika in ihrer Art genauso verloren war, wie ich in der meinen? Oder hoffte ich nicht doch noch in irgendeinem Winkel meines Herzens? Es ist die Frage.

Ich weiß es nicht und dachte auch nicht darüber nach. Ich dachte nicht vor. Mein Herz schlug, ich war bei ihr. Das ist alles.

Ich stellte mich links an das Bett und begann die Untersuchung. Die Mulattin, auf der rechten Seite, aufgeregt schnaufend, sah gespannt zu. Sie wollte stets in dem Zimmer anwesend bleiben, wollte sich wohl auch hier über Nacht in dem kattunüberzogenen Lehnstuhl, wie er für die rekonvaleszenten Patienten zur Verfügung gestellt zu werden pflegt, eine Art Lager improvisieren. Sooft ich bei Monika war, war sie da. Wir waren nie auch nur eine Minute allein – oder doch, vor dem Schluß so gut wie allein.

Meine Untersuchung ergab folgendes Bild: es handelte sich um ein normal entwickeltes, normal großes Mädchen von südwesteuropäischem Typus, mit guter, kräftiger Muskulatur und schlankem, regelmäßigem Knochenbau. Die Zähne waren vollständig und schön. Das Fieber war mittel, 38.9, die Lippen und der Rachen geschwollen, wenn auch nur erst in geringem Maße, die Zunge belegt, trocken, die Augenbindehäute gerötet und stark lichtempfindlich. Daher die roten Tücher vor den Fenstern. Die Leber war nur unwesentlich vergrößert, nicht druckempfindlich, der Leib aber etwas aufgetrieben und dumpf schmerzhaft. Die Erkrankung bestand wahrscheinlich schon seit drei oder vier Tagen. In diesem Punkte hatte die Statistik des Carolus recht behalten, die Neuangekommenen aus kühleren Gegenden, die gesunden, kräftigen, muskulösen Naturen, die Weißen waren der Infektion besonders leicht ausgesetzt – nur, daß Männer mehr dazu neigten als Frauen, ein Umstand, den ich zynischerweise auf dem Schiffe bedauert hatte – damals hatte ich die Männer als das höher organisierte Geschlecht unter den Menschen wegen ihrer Anfälligkeit gegenüber dem Y. F. bedauert – jetzt war ich erbittert über diese Ungerechtigkeit. Denn jetzt, da ich dieses blütenhafte, keusch sinnliche, wahrhaft zauberhafte Geschöpf mit den leicht gerunzelten, erdbeerfarbenen Lippen und dem Schatten eines Flaumes über den Lippen sah, als ich dieses zu allem großen Unheil des Y. F. auch noch von dem kleinen Unheil eines Mückenstiches betroffene Wesen vor mir hatte, zum Greifen nahe, und wo ich fühlte: jetzt, hier ist das in deinem Leben, wonach du dich von jeher gesehnt und wovor es dir Tag deines Lebens gegraut hat, – jetzt hätte ich es gewollt, daß alle Männer der Seuche unterworfen und dafür alle Frauen ungefährdet gewesen wären. Welch ein Wahnsinn ist doch das Gefühl!

Aber was sagen Worte? Zum ersten Male begreife ich die Dürftigkeit, ja die Verlogenheit dessen, was ich zu Beginn das »Protokoll« genannt hatte. Was ich hier von »zum Greifen nahe« und »keusch sinnlich« gefaselt habe, ist verlogen und sentimental. Denn das eigentliche, das was sich wirklich begab und was sich banal nach außen, und doch unergründlich innen im letzten Grunde, hier wie oft im Leben ereignete, kann ich nicht durch Worte kenntlich machen. Jetzt zweifle ich und wohl mit Recht, daß jemand mir diesen Teil meines Lebens nachempfinden kann, denn ich weiß, daß wohl niemand mich begreifen wird.

Das Kind war wieder, ohne den Blick von mir zu wenden, in die niedrigen Hospitalkissen zurückgesunken. Die prall gefüllten Daunenpolster mit den gestickten Batistüberzügen, die man ihm ins Krankenhaus mitgegeben hatte, trieben sich umher auf dem Lehnstuhl, der, mit hellem Rips oder Kattun bespannt, in der Zimmerecke stand und den ich bereits erwähnt hatte.

Die Augen hatten die glitzernden Pupillen, die blutdurchschossenen Augenbindehäute, wie man es bei Trinkern im Stadium eines seligen, vorgeschrittenen Rausches beobachtet. Habe ich es nicht schon einmal berichtet? Aber Trinken! Rausch! Davon war Monika weit entfernt. Nicht einmal das Fieber berauschte sie jetzt, sie war klar und beantwortete meine Fragen in französischer Sprache mit so großer Genauigkeit, als sie nur konnte. Sie war klug über ihre Jahre und ahnte vielleicht, worum es sich handelte. Das Sprechen machte ihr bereits Mühe. Aber sie hob sich sogar, wie um sich deutlicher verständlich zu machen, aus den Kissen, zog ihren Pyjama aus bunt geblümtem, cremefarbenen Chiffon, der um den Hals mit einem grünen Bändchen zusammengezogen war, noch enger zusammen, so daß ihr etwas zu dünner Hals wie ein Blütenstengel hervorstieg. Man sah unter der feinen, blond umflaumten Haut die Halsschlagader zucken, der Puls war hart, 125 Schläge die Minute, das Herz in normalen Grenzen, kräftig, wie es in diesem blühenden Alter meist der Fall ist.

Sie legte bald die Hand an die Stirn, hinter der sie starke Schmerzen empfand, und ich beeilte mich, ihr einen Eisbeutel, der schon vorbereitet war, mit Eisstückchen zu füllen, diese aber vorher möglichst klein zu zerdrücken und ihr auf die Stirn zu legen. Zum Zerdrücken der Eisstückchen gehörte einige Kraft, man macht es meist nicht mit der bloßen Hand, sondern man nimmt einen Holzhammer dazu; aber ich tat es, als wäre es leicht.

Ich hatte andere Kräfte als beim Eintritt in diesen Raum.


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