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X

March hatte mir durch seinen Verrat sehr geschadet – mehr noch unserer Sache. Wir mußten im Augenblick aussetzen. Wie war es möglich, daß ich mich so in ihm getäuscht hatte? Ich hatte ihn für einen Vollmenschen gehalten. Oder, wenn er das nicht war, dann immer noch eher für einen »Frosch«. Für eine »Ratte« nie. Aber er war beides, und ich erkannte, daß die guten Lehren meines Vaters nach den Ereignissen wunderbar paßten, aber unverwendbar waren für jemanden, der mitten im Leben stand.

March hatte der Frau nicht nur die Tatsache mitgeteilt, daß ich sie, als sie sich über ihren sterbenden Gatten gebeugt hatte, der Infektion durch eine angesteckte Stechmücke ausgesetzt hatte, sondern er hatte außerdem, um ja das eingeträufelte Gift recht schmerzhaft zu machen, ihr erzählt, ich hätte gesagt, sie, die Frau Walters, hätte künstliche Zähne. Ich hatte dies nie behauptet. Die Zähne der Frau hatten nicht den glatten, bläulichen Glanz künstlicher, aus Porzellan gebrannter Gebisse. Es war nichts als eine Sache des ärztlichen Gewissens gewesen, wenn ich bei ihr, wie bei jedem Menschen, wer immer es sei, vor der Einleitung einer Narkose den Mund auf künstliche Zahnprothesen untersuchen ließ. March begriff dies so gut wie ich. Er war von außerordentlicher Intelligenz, sonst hätte er sich nicht in so kurzer Zeit in unser Arbeitsgebiet einleben können. Erst als ich ihn nicht mehr bei allem und jedem neben mir hatte, merkte ich, wie sehr er mir und unserer Arbeit fehlte.

Ich ließ es zu keiner Auseinandersetzung kommen. Damit strafte ich ihn mehr als mit allem anderen. Ich schwieg.

Ich wollte ihn nicht mit Schweigen strafen. Aber ich mußte es.

Ich war ihm gut, »furchtbar gut«, wie man sagt, ich war ihm dankbar für die vielen guten Herzensdienste, die er mir auf dem Schiff und hier in dem Lazarett erwiesen hatte. Er war mir fast ein Ersatz für die menschliche Gesellschaft im ganzen. Er war mir, ich sage es nicht als Redensart, wie mein Bruder geworden.

Meinen wirklichen Bruder haßte ich nicht mehr, ich verstand ihn. Mein Vater besaß viel Geld, mein Bruder brauchte es, nicht für sich, für die Seinen. War die Lösung des Rätsels so schwer?

Aber mit March hätte ich allein auf einer einsamen Insel zeit meines Lebens hausen können und hätte vielleicht nie den Wunsch nach anderer Gesellschaft gehabt. Und doch konnte ich meinem »Herzen keinen Stoß geben«, ihn am Kragen packen, und vor ihm mein Inneres, meine Vorwürfe, meine Hoffnungen, meine Leiden, meine Freuden ausbreiten.

Wir gingen aneinander vorbei. Die Zeit verstrich, die Frau hatte sich schon lange wieder von ihrem Leidenslager erhoben, das Kind, zart aber gesund, wurde in seinem geflochtenen Körbchen ins Freie getragen und, von einem dichten Schleier gegen die Insekten von oben bis unten zugedeckt, an einer schattigen Stelle des wild blühenden, betäubend duftenden Gartens des Hospitals niedergesetzt.

Ich hatte seit einigen Tagen zur Nachtzeit wieder meinen alten Platz im Bette. Eines Abends war ich später als sonst zurückgekommen und hatte March in tiefem Schlaf in seiner alten Schlafstätte auf dem Boden der Kellerkammer vorgefunden. Meine Kleider und andere Gebrauchsgegenstände wurden, als wäre nichts zwischen uns vorgefallen, wieder gesäubert und in Ordnung gebracht, und eines Tages überraschte mich der unberechenbare (und doch in seinem Wesen nur zu leicht verständliche) törichte Junge damit, daß er mir ein halbes Dutzend Taschentücher, aus dem Besitze von Walter stammend und mit dessen Initialen gezeichnet, still unter meine Sachen schmuggelte. Er hatte diese Gegenstände der Witwe Walters abgebettelt. Sie hätte mir auch nicht einen Fetzen geschenkt. Gegen March war sie eitel Mitleid, Dank, Kameradschaft und Freundlichkeit. Und doch waren weder er noch sie glücklich. Sie hörte nicht auf, bei dem Direktor des Hauses, dem Assistenzarzt, der Oberin gegen mich zu hetzen und mir alle möglichen Verbrechen anzudichten, und jeden Menschen, mit dem sie sprach, vor dem Teufel in Menschengestalt, dem Gattenmörder, dem Mephisto im angemaßten Ärztekleid zu warnen, als den sie mich ansah. Sie hatte auch gedroht, sie würde zu verhindern wissen, daß noch einmal ein menschliches Wesen meinen diabolischen Experimenten zum Opfer fallen sollte.

Bis dahin waren alle ihre Drohungen und Verwünschungen ungefährlich für uns. Sie waren viel gefährlicher für sie selbst. Denn die arme, unbefriedigte Frau wurde vom Haß gegen mich bei Tag und Nacht beherrscht. Er war ihr zur fixen Idee geworden und übertäubte sogar den Schmerz um ihren toten Gatten und die Sorge um die fünf Kinder, die inzwischen von der Familie eines Kameraden ihres Mannes von der Küstenbatterie aufgenommen worden waren.

Sie hätte längst unser Haus, unser Haus nenne ich dieses schauerliche Y. F.-Lazarett, als wäre es wirklich zur Heimat geworden für mich!), verlassen können und müssen. Aber alles andere eher als das. Sie wollte sich von hier nicht trennen und nicht von mir. Sie wollte (mit unglaublich abweisender Miene) an mir vorbeirauschen, in ihren seidenen spanischen Schal gehüllt und ihre schlank gewordene Figur herausmodellierend, sie wollte mir giftige Blicke zuwerfen und mich bei Carolus und dem Geistlichen unmöglich machen. Ich war aber für Carolus nicht nur möglich, sondern sogar notwendig.

Solange dies alles nur meine nicht ins Gewicht fallende Privatperson betraf, sah ich es nicht als etwas Ernstes an. Aber das Haus hüllte sich jetzt, beim Eintritt der sonnigen, hitzestrotzenden Zeit mit Kranken. Sie mit ihrem schwächlichen Säugling gehörte nicht mehr an diese Stätte des ansteckenden Leidens und der Gefahr. Es gab hier nicht nur in den Gläsern Stegomyias, sondern neben tausenderlei Nachtgetier schwirrten auch freie Moskitos vorbei und legten ihre Eier in jede alte Konservendose, die mit ein paar Tropfen faulenden Regenwassers gefüllt war.

Wir wünschten Alix alle fort, March nicht ausgeschlossen.

Ihr Mann war an den Experimenten gestorben. Ein vermeidbarer Tod, wie sie es sah, und ein steter Grund zur Bitterkeit gegen uns? Nein, auch gegen den Verstorbenen. Mich haßte sie. Aber ebenso haßte sie vielleicht auch ihn, als hätte er sie absichtlich im Stich gelassen!

Carolus wurde in dieser Lage zu dem Retter unserer Pläne. Ich hatte ihm zu Beginn auf der »Mimosa« zu wenig zugetraut. Er war weder ein monumentaler Ochse, noch ein vertrockneter Pedant, noch auch ein bloßer erfolgsgieriger Streber. Aber wozu eine Lobeshymne auf ihn singen, welcher doch bald auch die bei uns gebrechlichen Menschlein nötige Einschränkung folgen müßte, die Tatsachen zeigten, wie gut es gewesen war, daß unser kleines Kollektiv nicht nur einen außergewöhnlich edeln und m. A. vielleicht sogar großen Mann wie Walter besaß, sondern auch einen Mann wie Carolus, dessen Wert, wenngleich erst spät und schwer erkennbar, weit über dem Durchschnitt lag.

Er erfaßte die Situation früher als ich. Er warf mir, in dem schläfrigen Tone, der mich früher zur Verzweiflung gebracht hätte, meinen unvorsichtigen Versuch an Frau Walter vor, und zwar gelegentlich der Durchsicht unserer Protokolle, in welche ich die Infektion der Frau am Sterbebette Walters noch nicht eingetragen hatte. Ich hatte mich nicht gescheut, dieses Experiment (glücklicherweise ohne Effekt) zu unternehmen, aber ich scheute mich, es protokollarisch einzutragen. Er, als der große Statistiker und Ordnungsmensch, konnte diese Lücke nicht dulden. Wir schrieben also in gemeinsam formuliertem, einfachem Text die Tatsachen auf, und nur in einem mündlichen Nebensatz machte er mir den Vorwurf, ich hätte das Gesetz der Solidarität, das wir uns aus freiem Willen einstimmig am Beginn der Sache auferlegt hätten, eigenmächtig und sehr zum Schaden des Ganzen durchbrochen.

Ich mußte ihm recht geben. Er schüttelte daraufhin bloß seinen langen, gelben, vertrockneten, haarlosen Schädel, den ich einst mit dem Hinterteil eines mageren, gelbsüchtigen Säuglings verglichen hatte, und ging zur Tagesordnung über.

Wir besprachen, auf welche Art und Weise wir Frau Walter dazu bewegen könnten, die Insel zu verlassen. Sie mußte fort. Solange sie da war, waren unsere Versuche gefährdet und für sie und die ihren war das Klima hier auf die Dauer sicheres Verderben. Auch war es der letzte Wunsch unseres verstorbenen Freundes gewesen, daß sie mit den Kindern zu ihrer Familie nach England heimkehre. Nun handelte es sich noch um den nervus rerum, Geld, das heißt um die Lebensversicherung, und hier war der springende Punkt. Diesen Teil der Verhandlungen führte Carolus mit Frau Walter und mir und dem Geistlichen gemeinsam, oder er plante es wenigstens so. Es war nicht einfach gewesen, den geradezu wüsten Haß der Frau gegen mich zu überwinden. Auch jetzt, bald vier Wochen nach dem Mückenattentat auf sie, trotz der Unschädlichkeit dieser Maßnahme, konnte sie mir kaum ins Gesicht sehen. Sie biß sich auf die Lippen, wurde abwechselnd rot und blaß, einmal trat sie ihr Hündchen mit Füßen, dann hob sie es wieder in ihren Schoß und streichelte den flachen, mit dichten Haaren bewachsenen Kopf des goldäugigen, ängstlichen, dummen Tieres, das nicht wußte, wie ihm geschah. Aber wir mußten mit ihr zu einem Resultat kommen, und da die neuen Versuche bald oder nie einzusetzen hatten, mußten wir noch an diesem Abend dieses Resultat erreichen.


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