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XIII

Jetzt wird einer der Gefangenen nach dem anderen vorgerufen. Die Leute, die es trifft, sind froh, glauben sie doch, daß es sofort nach der Untersuchung in die unteren Räume gehen wird, wo das warme Essen und die Pritsche auf sie warten. Keineswegs! Sie haben wieder in Reih und Glied zurückzutreten und zu warten bis alle erledigt sind. Das hat Carolus so angeordnet. »Angeordnet?« Wo ist die Ordnung? Dumm! Sinnlos! Der bloße Schein der Ordnung ohne diese selbst, das ist die Pest der Menschheit, verkörpert in Verwaltung und Staat. Und wie gedankenlos geht der unfähige Chefarzt vor! Einem farbigen Gefangenen dreht er die Augenlider ungeschickt nach außen, um die Knötchen der ägyptischen Augenkrankheit zu suchen, aber der Mann hat, wie es ein Blinder mit dem Stocke fühlen könnte, zwar gesunde Augen, dafür aber eine kranke Haut, die mit einem pustulösen Ausschlag bedeckt ist und die nach einer Blutuntersuchung, einem »Wassermann« schreit. Einem zweiten Sträfling, dem flinken Kerlchen von vorhin, im Alter von fünfundzwanzig bis fünfzig, dem alten Knaben, dem das ganze melancholische Elend der Gefängnistuberkulose aus den riesigen, fiebrigen, schwarzen, blau umrandeten Augen springt, dem rückt er besonders sorgfältig auf die Haut, die kerngesund ist, dann prüft er durch Klopfen auf die Kniescheibe die Nervenreflexe des vor Husten und Hunger beinahe zusammenbrechenden Männchens – und so geht es weiter – stundenlang. Verantwortung hat Carolus nicht. Niemand kontrolliert ihn.

Das Verdeck zeigt nicht die Anwesenheit eines höheren Offiziers. Nur drei Unteroffiziere stehen müßig umher. Mit seinem Revolver spielend, legt einer wie zum Scherz auf eine vollgefressene Schiffsratte an, die mit dem spitzen Kopfe hinter einer Rolle von Tauen hervorlugt. Sagte ich es nicht schon? Ratten, diese widerlichen, höchst gefährliche Bestien, also auch hier! Warum denkt Carolus nicht daran, das Schiff von Ratten zu säubern? Meine Wenigkeit könnte ihm dabei raten. Aber was bin ich dem hohen Herrn?

Der hohe Herr hätte die Aufgabe, für möglichste Sauberkeit hier auf dem verrotteten Schiff zu sorgen. Aber Sauberkeit! Er weiß ja nicht, was das Wort bedeutet, er, der sich heute trotz eines guten Dutzend von Untersuchungen noch nicht ein einzigesmal bis jetzt die Pfoten im Sublimatwasserbecken gewaschen hat. Für ihn hat der Gründer seiner Studienstätte, des pathologischen Instituts, Louis Pasteur, nicht gelebt, der Mann mit dem genialen Verstand – und dem positiven Glauben. Der Mann mit den Grübelfalten an der Nasenwurzel und mit der faltenlosen, gewaltig gewölbten Stirn.

Vor den Zeiten dieses bahnbrechenden Forschers waren die Menschen so weit, wie dieser elende Stümper Carolus es heute noch ist. Man wußte zwar, daß der gefürchtete Lazarettbrand auf Ansteckung beruht, aber man wusch sinnlos und gedankenlos, eine Vorsorge für die Ärmsten der Armen vortäuschend, die keine war, alle die eitrigen Wunden mit ein und demselben Schwamm. Nur eine Sache wusch der Arzt damals nicht, das war: sich selbst. Und wenn solch ein Heilkünstler abends nach seiner Arbeit zu seiner Frau ins Bett stieg, da faltete er die Hände zu einem kleinen Gebetlein, schlief ein und schnarchte – in dem Glauben, an diesem Tage ein gutes, gottgefälliges Werk und eine notwendige Arbeit an der leidenden Menschheit vollbracht zu haben. Hätte er nicht gelebt, wäre es für seine Kranken ein Glück gewesen. Aber gilt denn dieses fürchterliche Wort nicht auch von mir? Und doch weiß ich nicht, ist der Rechtsbrecher und Ordnungsverächter das größere Verderben für die Gesellschaft – oder bedeutet das größere Verderben eine andere Art Mensch, nämlich der unter allen Umständen erquickliche, harmonische und selbstverständlich auch straffreie und bürgerlich geachtete Charakter, der brave Mann von Carolus' Geschlecht, der die Fürchterlichkeiten dieser Welt mit blöden Händen anfaßt und der nur den Stempel eines bürokratischen Aktenzeichens auf die Brandmale der unseligsten aller Welten zu drücken weiß?

Was er ist, dem Range in der Gesellschaft nach, das hätte ich werden können, das hätte ich sein müssen!

Aber auch jetzt beneide ich ihn nicht! Ja, aber wenn ich doch eine winzige Quantität Neid gegen diesen schlottrigen Idioten empfände, dann nicht um seine goldenen Schnüre, nicht um seine »liebenden Herzen« daheim und das Enkelkind am Strande der Hafenstadt beneide ich ihn, nicht um sein hohes Gehalt und seine schönen Orden – beneiden könnte ich Herrn Generalarzt Carolus nur um die Aufgabe, drüben in den Tropen den Ansteckungskeim und die Verbreitungsweise des gelben Fiebers zu erforschen.

Ja, kommt er tatsächlich dazu, ist ein Carolus dazu ausersehen?

Gewiß, Gift könnte ich darauf nehmen, hätte ich's nur zur Hand. Er und kein anderer. Kein Walter. Einen Carolus, der sich so blödsinnig dumm zu den einfachsten Verrichtungen der praktischen Hygiene anstellt, den hat sicherlich die hohe Verwaltungsbehörde aufgrund seines Ranges, seiner verblüffenden Literaturkenntnisse und seiner platten Anständigkeit ausersehen, dem Erforschungskomitee des gelben Fiebers zu präsidieren. Er ist der richtige Mann dazu.

Aber bin denn ich klüger? Ich bin noch stupider trotz meiner scheinbaren Intelligenz. Wenn eine solche wissenschaftliche Aufgabe zu meinen Lebenszielen gehörte, so habe ich es doch wie mit Plan und Bedacht darauf angelegt, daß dieser Wunsch mir niemals in Erfüllung gehen konnte. Mußte nicht alles kommen, wie es kam, und bin ich nicht hier? Mein Verhängnis war einzig und allein, daß ich auch mit mir gespielt habe, daß ich mein eigenes Leben und meine Zukunft nicht hoch genug hielt. So habe ich nicht nur mein ansehnliches Vermögen verspielt, sondern darüber hinaus auch mich selbst ganz und gar. Ich war abgehärtet, gut. Aber abgehärtet auch gegen das Mitleid mit mir selbst. Ich selbst war das Vivisektionstier, der kluge, gar zu gelehrige Hund, der aus eigenem Willen auf den Vivisektionstisch hinaufspringt und seine Pfoten hinhält, daß man sie ihm festsperrt. Da streckt er sich nun lang und länger auf den Rücken, das Nickelgebiß zwischen den zusammengebissenen Zähnen und der langsam verdorrenden Zunge, jetzt schlägt er seine intelligenten Hundeaugen auf und wartet, was die hohen Herren Menschen mit ihm beginnen werden!

Alles muß mir jetzt recht sein. Ich muß mich mit dem letzten Minimum an Lebensgütern begnügen, ich muß meinen Namen aufgeben, muß auf die Nummer 46984 hin vorschnellen, ich muß an die Grenze dessen hinabsteigen, was man dem blöden Vieh zubilligt, ja, wie einem Stück Vieh greift mir dieser schlabbrige, alte Kerl mit seinen schmierigen Pfoten, die schon im Institut wegen ihres Drecks berüchtigt waren, und mit denen ihm nie auch nur das einfachste Experiment gelingen konnte, – wie einem Stück schlechten Viehes greift mir dieser grauhaarige goldbetreßte Lümmel mit seinen dreckigen, klebrigen Gummipfoten ins Gesicht, an meine Augenbindehaut. Und ob der alte Schandbube eine Minute vorher eine Augenbindehaut mit ägyptischem Trachom angefaßt hat, was nur zu wahrscheinlich ist, oder ob ihm noch die Leprakeime des Herrn Professors Hansen an seinen Gummihandschuhen kleben, zwar nicht seine, aber meine Epidermis gefährdend, mir hilft nichts.

Ich weine fast vor Wut, und mein Nachbar bemitleidet mich. Aber die Tränen spülen den Ansteckungsstoff aus den Augen möglicherweise weg. Oh du Vieh du! Monumentaler Ochse du! Georg Letham! Nach allen deinen Spekulationen, Experimenten und Lebensraffinessen bist du nur ein passives Objekt. Was nützt dir der aufrichtige Herzenswunsch, du dürftest dem Carolus für jede der drei Silben seines verfluchten Namens dreimal mit deinem mit Menschenkot beschmutzten Absatz deiner Sträflingsschuhe in die lange, blöde Visage treten!

Einem Arzte ausgeliefert sein, einem Mann, von dem man von Berufs wegen das beste, das höchste, die Besserung, die Tröstung, die Heilung erwartet – und seinen Feind in ihm erkennen! Aber auch dieses noch fürchterlichere Wort trifft auf mich zu, mich, Dr. Georg Letham den jüngeren, den Arzt, seines Vaters Sohn. Ist es das, was man Reue nennt? Dann sei alles verflucht miteinander.


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