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II

Die »liebenden Herzen« ließen sich um alles in der Welt nicht abschrecken. Die alten verschwanden nicht, und immer neue tauchten auf. Ein altes Mütterchen, verspätet eingetroffen, schweißtriefend unter ihren ehemals kaffeebraunen, jetzt dick mit Staub inkrustierten Kleidern und wallenden Röcken, erhob quäkend ihre dünne Stimme und wimmerte einem dicken Lümmel in unserer Mitte durch den riesigen Lärm die Botschaft ihres Mutterherzens zu. Sie schrie so, von asthmatischem Husten unterbrochen und immer wieder verzweifelt von neuem ansetzend, wie sie vielleicht früher in ihrer Kleinbauernwirtschaft ein verlaufenes Zicklein, ein in Nachbars Garten fressendes Hühnlein hatte zu sich heranlocken wollen, vor ihrer baufälligen, mit verfaultem Stroh gedeckten Hütte auf ihren wackligen Beinen stehend.

Jetzt hebt sie die Gabe der Barmherzigkeit mit ihren knochigen Händen empor. Ein Paar neuangefertigter Schuhe, deren fingerdicke Sohlen, mit starken Zwecken ringsum eingefaßt, goldfarben glänzen. Sie läßt sie an den naturfarbenen, langen Schnürsenkeln aus Leder hoch über ihrem Kopfe schaukeln, der ein uraltes Kapotthütchen, mit großen Nadeln befestigt, trägt. Wie gut gemeint! Der Dorfschuster hat sie wohl aus besonders strapazierfähigem Rindsleder fabriziert, auf daß die armen Füße des verlorenen Sohnes bis an die Knöchel vor Schlangenbiß und Würmernagen geschützt seien, drüben auf der Deportationsinsel beim Bäumefällen im hohen Dornengestrüpp der Dschungel. Gott schütze dich, du schmerzensreiche alte Dame, und behüte deinen lieben Sohn!

Ein betrunkener Mann in mittleren Jahren läßt eine halbgeleerte Schnapsflasche, von der er sich nur ungern zu trennen scheint, lockend im Sonnenlichte funkeln.

Ein alter Bürgersmann, vielleicht ein Kleinbürger aus der Provinz, mehr breit als lang, hat sich auf die Zehenspitzen erhoben, er schwenkt über seinem weißbehaarten Kopfe, den eine niedrige, solide Melone bedeckt, eine sauber ausgenähte, schaffellfarbene Flanellweste, in deren Innenfutter er den letzten Sparpfennig eingenäht haben wird. Die Summe, welche die spät erwachte Vaterliebe dem Sohne zugedacht hat, ist wahrscheinlich größer als die Ausbeute des Verbrechens war, deswegen man den Jungen (es sind sehr viel ganz junge unter uns) zu Zwangsarbeit und Deportation verurteilt hat. Und vor allem soll diese Wunderweste den Leib warm halten, sie soll vor Leberkrankheiten, vor Eingeweidewürmern und vielleicht gar auch vor dem gelben Fieber schützen – der Geistliche des Ortes hat sie feierlich eingesegnet nach dem Hochamt und alle drei, der Küster wie der verlorene Vater und der Geistliche, haben Tränen vergossen. Welch ein Theater! Ich weiß als wissenschaftlich erfahrener Mann und früherer Arzt, ja, das kann ich dank meiner bakteriologischen Kenntnisse und Sicherheit aussagen: wenn am anderen Ufer des Meeres, auf der Insel oder Halbinsel C. das gelbe Fieber wirklich mit jener Heftigkeit wütet, von der die medizinischen Journale ebenso wie die Tageszeitungen seit Monaten berichten, dann schützt nach dem bisherigen Stand der Wissenschaft weder ein frommes Gebet, noch Tränen werden schützen und am allerwenigsten ein mit der Nadel der Liebe und dem Faden der Bannherzigkeit aus dem Mantel des Erniedrigten geschneidertes Kleidungsstück, wie es jetzt, einer Fahne der christlichen Liebe gleich, der bekümmerte Vater in der vor Hitze wallenden und zitternden Luft des Hafenplatzes umherschwenkt.

Das gelbe Fieber ist dort unten losgelassen. Es folgt naturwissenschaftlichen, noch nicht genau erforschten Gesetzen. Niemand weiß, wie es kommt. Niemand ahnt, wie es geht. Die Prozessionen ziehen langsam, und die Leichenbegängnisse laufen schnell. Die Leichenwagen sind den ganzen Tag und die ganze Nacht unterwegs, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Und diese Sonne des Gelbfiebers, englisch yellow fever, scheint über Gerechte und Ungerechte. Das heißt, das Gelbfieber wütet und räumt in der Strafkolonie genau so unter den Verbrechern wie unter ihren Wachen auf. Desgleichen am Panamakanal unter den farbigen Arbeitern und den weißen Ingenieuren. In der großen blühenden Stadt Brasiliens Rio de Janeiro nicht anders.

Gegen die Seuche hilft nichts. Nichts und niemand.

Oben auf dem baufälligen Balkon des alten blaugetünchten schmalbrüstigen, kleinen Hotels »Zum König von Engelland«, das ich von einer früheren Reise her kannte (ich hatte mit meiner Frau einmal hier übernachtet, wir hatten auf dem Balkon gefrühstückt, und ich entsinne mich ihres seelisch verzückten und dabei doch unverkennbar lüsternen Gesichtsausdrucks, – bloß die Augen sprachen, der Rest des Gesichts war ja emailliert wie bei einer Porzellanpuppe) – jetzt hat sich auf diesem Balkon der Pressephotograph mit seinem Bruder aufgestellt. Er hält unermüdet zum Schutze gegen die Mittagsglut einen ausgespannten weißen Sonnenschirm über sich. Seinem plumpen, viereckigen Apparat, einer Spiegelreflexkamera, hat er ein Fernobjektiv vorgesteckt. Das Objektiv ist wie ein kurzer, dicker Revolverlauf (die kleinen Bulldoggrevolver haben solche Läufe) auf unsere Gruppe gerichtet. Oder besser gesagt, auf mich und auch auf meinen blonden, hübschen Kameraden, mit dem mich seit heute morgen ein inniges Band (aus zähem englischen Stahl) verbindet. Und ein Sicherheitsschloß.

Jetzt aber brennt die Sonne schon wie Höllenglut. Mag einer sich drehen und wenden wie er will, mag er den Schädel zwischen die Schultern drücken, es gelingt ihm nicht. Schatten! Schatten! Nur noch eine Stunde im dunklen Gefängnishof an einem Wintermorgen!

Der einzige Schutz wäre die braune Sträflingsmütze. Aber trotz der sehr gefährlichen Sonne wollte ich mich lieber doch vor dem Objektiv des Photographen verbergen. Ich sprach von »drehen und wenden«, aber drehen kann ich mich nicht ohne Bewilligung des Gefährten, und ich will nicht bitten. Soll dieses Bild meinem Bruder in der illustrierten Beilage des Sonntagsblattes vor Augen kommen?

Was ist äußere Not, was ist körperlicher Schmerz, was ist moralische Demütigung? Nichts für einen Menschen, der abgehärtet ist. Das war das Testament meines Vaters, gegeben noch zu seinen Lebezeiten. Selbstbeherrschung ist der letzte, der wichtigste Rest der Freiheit, der einem Manne bleibt.

So lange Zeit habe ich von mir gesprochen, so viel habe ich von mir erzählt und bin doch die wichtigsten Angaben schuldig geblieben. Ich bin der Sohn wohlsituierter, unbestrafter Eltern (oder ist es für den alten Mann doch eine Strafe, einen Sohn zu haben wie mich?), erzogen bin ich auf guten Schulen – aber am besten hat mich das Leben erzogen, wie es mir mein Vater als erster zeigte. Einmal ließ er mich mit Ratten im verschlossenen, rabenschwarzen Zimmer nachts schlafen, damit ich mich nicht vor Tieren fürchte. Aber vor Menschen fürchten? Soll man es, soll man es nicht?

Ich darf nicht einmal fragen, hat mir mein Vater seine Lehrmittel redlich alle gezeigt? Seine Rechnung wird aber stimmen. Sie hat sich doch bisher leider oder glücklicherweise immer und überall bewährt. Denn wer wie er die niedrigsten Motive bei seinen Nebenmenschen und bei sich selbst annimmt, hat sich in unserer Zeit noch nie getäuscht – und in unserer Zeit muß man ja leben, glücklich sein oder untergehen.

Glaube, der Berge versetzt? Güte, die das Harte weich und das Bittere süß macht? Großmut, der edle Kern in der gemeinen Lehmfigur des Menschen? Drei große G. Gut! In unserer Sprache sind Güte, Großmut, Glauben unübersetzbare Fremdwörter. Und obwohl ich dies weiß, warum tue ich dann so, als hätte ich mich zu beklagen? Nein. Dies nicht. Nicht mehr. Ich trete ohne Illusionen meine Strafe an.

Ich bin jetzt verurteilt wegen Gattenmord. Begnadigt zur lebenslänglichen Zwangsarbeit in der Kolonie. Kind meines Vaters, Gatte meiner Frau, Bruder meines Bruders – alles außer Diensten. Mensch außer Diensten.

Das Licht der Sonne sticht nun noch stärker als ich dachte. Die Haut und das Schädeldach müssen wie die wie Pfeile abgeschossenen Strahlen bis ins Innere des Hirnes gelangen lassen. Die Gelehrten haben sich noch nicht entschieden, ob als Schädlinge die kurzwelligen, ultravioletten, chemisch aktiven Lichtstrahlen oder aber die langwelligen Wärmestrahlen in Frage kommen. Rasende Kopfschmerzen, Krämpfe, Tobsucht bis zum Delirium, ein schwerer Tod in schwarzem Schweiß können die Folge sein und doch scheue ich die indiskrete Linse des zudringlichen Photographen noch mehr als die Gefahr.

Ich mag sein, was ich will, mich zu schämen, habe ich noch nicht verlernt. Ich will den Meinen nicht so begegnen, – ihm nicht. Trotz aller Sonnenglut reiße ich mir die Mütze vom kahl geschorenen Schädel herab und halte sie mir vor das Gesicht. Lieber die fürchterliche Glut auf das ungeschützte Schädeldach herunterbrennen lassen, lieber den stickigen Schweiß- und Filzgeruch einatmen, der mir, zum Erbrechen reizend, aus dem bräunlichen, speckigen Innenfutter der ausgedienten, aber auf neu hergerichteten Mütze entgegendringt. Ja, der Staat muß sparen, und bei uns fängt man an. Vielen Männern hat die Mütze schon gedient, und vielen wird das herzige Mützchen noch nach mir dienen, wenn mich die Seuche, das gelbe Fieber drüben vor der Zeit abtun sollte. Nein. Gerade in diesem Falle wird das alte Museumsstück endlich hingerichtet und verbrannt, so wie bereits Anzüge, Kleider, Koffer, Möbel, Betten, Decken und Wäsche im Werte vieler Millionen verbrannt worden sind, um der Weiterverbreitung der gelben Seuche Einhalt zu tun. Umsonst. Die Decken und Federn verbrannten. Die Seuche blieb.

Einerlei, ob mich drüben das Gelbfieber oder die Malaria trifft, oder ob mich hier die stupide Hitze niederschlägt. Hoch die Scham, der letzte Rest eines ehemals männlichen Charakters, es lebe das Ehrgefühl, wenn auch der Held stirbt! Nur ruhig! Was soll dieser tolle Ausbruch) sittlicher Hemmung? Zuerst leben! Ich habe mein Leben allem zu Trotz noch zu lieb. Ich füge mich. Ich gebe nach. Phlegmatisch bedecke ich nach diesem Experiment (an mir selbst) meinen bravsten, weil einzig in der Welt für mich dastehenden Schädel und zeige offen mein bezauberndes Gesicht. Nur zu! Los! Rassele hinunter, Schlitz der Kamera, mein Gesicht sei verewigt, wenn das Geschick es befiehlt. Ihr könnt mich nackend sehen, wenn ihr wollt, bei jeder Tätigkeit, wenn es die europäische Öffentlichkeit reizt und es euch eine Trockenplatte im Format zwölf zu achtzehn wert ist. Mich reizt es nicht, aus Schamgefühl meine Gesundheit zu riskieren. Ich habe nur die eine.

Ohnedies bin ich mehr tot als lebendig. Was ich trage, trägt meine rechte Hand. Alles bleibt ihr zu tun, denn die linke ist, wie gesagt, nicht mehr frei. Sie gehört dem hübschen, hochgewachsenen, aber nicht sehr muskelstarken, schweißtriefenden, knochigen semmelblonden Mann mit nicht unintelligentem, kindlich gebliebenen Gesicht. Er ist schlapp geworden, in der kleinen, herzförmigen Fläche seines Gesichts hängt das bißchen Fleisch fahl und müde herab. Nur ab und zu strafft es sich an in kindlichem Ehrgeiz. Die Lippen zittern vor Trotz, aber sie lassen keinen Fluch, keinen Seufzer, kein Wort hervor.

Diesem Mann gehört also meine linke an, dafür habe ich seine rechte Hand. Was mag diese rechte begangen haben? Fragezeichen? Rufzeichen! Gedankenstrich –. Wir haben uns gegenseitig nicht vorgestellt. Unsere Visitenkarten sind nur mit großen arabischen Ziffern auf den Monturen über unseren lieben Herzen aufgemalt. Und was darüber hinaus interessant ist und den Menschen vom Menschen unterscheidet, enthüllt sich dem Menschenkenner in den Physiognomien.

Galgen- oder Engelsphysiognomien? Bleibet beisammen, geliebte Brüder, nähret euch redlich. Was will man mehr? Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. Dieses Band der Liebe hält uns zusammen, denn wir sind zu zweit schwächer als jeder allein.

Es lebe die Justiz! Sie wird immer der beste Ersatz für Gerechtigkeit sein, solange Menschen leben, um übereinander zu richten und Gott zu dienen in der Höhe.

Hand an Hand! So wird das unbotmäßige Individuum handgreiflich zum sozialen Nebenmenschen, zum primitivsten, aber echtesten Kollektiv erzogen. Seid gesegnet! Amen.


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