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IX

Am fünften Tage, also am Freitag, fühlte ich mich schon am frühen Morgen so elend, daß ich am liebsten nicht aufgestanden wäre. March sah mich mit seiner ganzen hündischen Liebe von der Seite an. Ich konnte es nicht ertragen, erhob mich, obwohl mich meine Füße kaum tragen wollten, und versuchte, das wenige an Arbeit zu leisten, das zu dieser Zeit noch im Laboratorium zu tun war.

Ich maß meine Temperatur nicht, aus Angst, sie erhöht zu finden. Mittags setzte ich mich mit March an den Tisch, die alte Krankenschwester, die uns gewöhnlich bediente, brachte uns das Essen. Schönes Essen! Leichtes Essen! Gutes Essen!! Und doch konnte ich mich nicht zwingen, wollte aber March nicht vor der Zeit ängstlich machen. Es war ein drückend heißer, schwüler Tag, der aber von Morgen bis Abend fast ununterbrochen von Gewittern und Wolkenbrüchen erfüllt war, von deren Gewalt man sich in gemäßigten Landstrichen keine Vorstellung macht.

Eine Luke in unserem Gelaß mußte offen geblieben sein, das Wasser strömte von oben in die Ölkammer, in der wir hausten, herein, und ich bat March, aufzustehen und vom Hofe aus nachzusehen, ob die Fensterluke offen oder gar eine Scheibe zerbrochen sei. Während er der Sache nachging, stand ich auf und warf mein Essen in ein halbgeleertes Faß mit Schmierseife. Noch erinnere ich mich des Gefühls von würgendem Ekel, als das Essen unter unappetitlichem, quatschenden Geräusch in der laugenartig riechenden, schmierigen Masse versank. Als March wiederkehrte und lachend erzählte, daß der Lazaretthof knietief voll Wasser stünde, wischte ich mir mit einer Serviette den Mund, als hätte ich gegessen, und dann schleppte ich mich hinauf, um ebenfalls nachzusehen. March hatte übertrieben, das Wasser stand höchstens knöchelhoch. Der Wolkenbruch hatte gerade nachgelassen. Zwischen giftigen, gleißenden, lilafarbenen Wolken strotzte wieder die Sonne hervor, und es tat mir wohl, die Hände in den noch spritzenden Ausguß der Dachrinne zu stecken und meine Stirn, hinter der es mörderisch zu toben begann, mit dem klaren Regenwasser zu kühlen.

Ich kehrte nicht zu March zurück. Ein mir sonst fremder Bewegungsdrang hatte mich überfallen – aber er war verbunden mit einem Gefühl schmerzhafter Müdigkeit. Ich dachte daran, meinem Vater zu schreiben. Den ersten Brief seit so langer Zeit. Ich fand nicht die Ruhe dazu. Ich konnte nicht. Ich wollte abwarten, bis alles entschieden sei – was weiß ich? Wie entschieden – was weiß ich?

Ich litt an Schmerzen im Kreuz, als hätte mich ein wüster Fußtritt getroffen. Ich konnte kaum stehen. Dennoch wollte ich mich bis zum letzten Augenblick aufrecht halten. Ich durchstrich, mehr wankend als richtig gehend, mich an den kühlen, regenfeuchten Wänden aufrecht haltend, einen Teil der Gebäude, die den Komplex des Lazaretts ausmachten. Die Wachen, auf ihre Bajonette gestützt, (zum geschäftigen Zeittotschlagen ebenso trefflich erzogen, wie so viele Staatsangestellte, die nur dem Schein der Ordnung, nicht ihr selbst dienen), sahen mir grinsend nach, ihre bräunlichen Zigarettenstummel unten im Mundwinkel. Einer rief mir etwas Unverständliches zu und bemühte sich dann, einen grotesken Humor zu entwickeln, und mein schwankendes Umherzotteln, immer die Wand entlang, nachzuahmen. Bald wurde ihm die Sache zu dumm, er streckte sich neben seinen Kameraden zu einem Schlummerstündchen hin und ließ mich laufen. Hätte ich das Lazarett verlassen wollen, die Wachen hätten mich nicht gehindert.

Erkannten sie, wie es um mich stand? Ich erkannte es doch selbst noch nicht.

Ich kam in große leere Krankensäle, in denen noch der Geruch der Desinfektionsmittel lag. Gewaltige Räume, die Decken von hölzernen, frisch gekalkten, weißen Pfosten gestützt, Bettenreihen von je fünfzig, eines neben dem anderen, an jeder Längsseite des rechteckigen, kahlen Saales, leer, sauber, unbenutzt, als hätten nie Kranke, Leidende und Sterbende – nie Genesende hier gelebt. Die Einrichtungen stammten aus den großen Seuchenzeiten und waren dank des Ordnungssinnes der tüchtigen Oberin so instandgehalten, daß die Baulichkeiten im Falle eines plötzlichen Aufflammens des Y. F. etc. sofort bis in den letzten Winkel belegt werden konnten.

Vom Hofe hörte ich Marchs Stimme wie von weit her. Georg! Georg! Ich hörte offenbar jetzt nur schlecht. Der Kopf hämmerte, ich sah rot. Die Pfosten in dem Saale erschienen wie mit Blut gesprenkelt. Ich verkroch mich, legte mich auf eines der harten Betten, (mein Bett im Ölkeller war durch Marchs und Carolus' Bemühungen weich wie ein Puppenbett – March hatte bloß ein paar alte Decken auf der Erde!) Ich stopfte die Finger in die Ohren, und zwar die Daumen, während die anderen Finger über meinen Augen lagen und den schwachen Lichtschein abhielten, der durch die geschlossenen Lider durchdrang. Draußen wetterte ein gewaltiger Wolkenbruch von neuem hernieder, Blitze zuckten über das ganze Himmelsrund. Der Donner grollte mit brausendem Getöse.

Die Schläge des Gewitters erschütterten das Haus in seinen Grundfesten. Aus dem unterirdisch gelegenen Korridor, wo sich der Rest unseres Tiermaterials befand, drang das Schrillen und Kreischen der Affen, das Heulen und Jaulen der Hunde. Das ganze Konzert der fest eingeschlossenen, im Dunkel gehaltenen Kreaturen ertönte, in welchem sie ihren Gefühlen gegenüber der entfesselten Natur Ausdruck gaben.

Ich hätte um mein Leben gern tief geschlafen. Aber es war unmöglich. Die Stimme des allzutreuen March weckte mich immer wieder aus dem unruhigen Schlummer. Dabei hatte ich acht, mich nicht zu bewegen, denn bei jeder Bewegung wurden die grauenhaften Lendenschmerzen quälender, die sach- und fachkundige Beobachter als »coup de barre« gekennzeichnet haben. Ich befand mich am besten, wenn ich ganz ruhig auf dem Rücken lag und sogar den Atem möglichst anzuhalten versuchte.

March hatte endlich zu rufen aufgehört. Offenbar war er jetzt wieder bei der Arbeit im Laboratorium. Auch ich mußte mich dort einfinden, wollte ich nicht Verdacht erwecken. Verdacht? Oh nein! Freude und Triumph für die anderen!

Selten hat mich in meinem Leben ein Gang mehr saure Mühe gekostet, als die wenigen Schritte, die von meinem jetzigen Aufenthaltsort in das Laboratorium führten.

Meine Willenskraft hatte noch nicht wesentlich gelitten. Ich konnte mich so zusammennehmen, daß weder dem Carolus noch Walter mein abnormer Zustand auffiel. Zum Glück waren die drei Mitarbeiter, Carolus, Walter und March, mit einem neuen Färbeverfahren beschäftigt, das sehr sorgfältig ausprobiert werden mußte, obwohl es natürlich an sich auch keine Resultate liefern konnte, die der Rede wert waren. Das Nutzlose an ihren fieberhaften Bemühungen erbitterte mich. Wozu das Köpfezusammenstecken? Wo nichts ist, hat die beste Färbemethode ihr Recht verloren. Aber wie Kinder von einem Töpfchen mit Seifenlösung und einem schönen Strohhalm waren die drei großen Kinder von ihrer Tätigkeit ganz eingenommen. Wenn March mir, der in einer dunklen Ecke hockte, ab und zu einen besorgten Blick zuwarf, bemühte ich mich aus Leibeskräften, ihm ein vergnügtes Grinsen zu zeigen.

Ich war trotz des schauerlichen Gefühls des bodenlosen Elends noch Herr meiner selbst. So verging dieser Gewitternachmittag. Ich zählte die Minuten, endlich war es soweit, daß, wie gewöhnlich zum Abschluß unserer Arbeit, der Geistliche erschien und die Herren Walter und Carolus zu dem gemeinsamen Abendessen wegführte, dem in der Regel dann eine Partie Schach (zu dreien, nämlich Walter und dem Kaplan einerseits, und dem sehr schachstarken Carolus andererseits), oder eine Partie Puff-Puff, einige Gläser Whisky, das Abspielen von zwei oder drei Grammophonplatten und ein kleiner Disput folgten. Dies war ihr geistiges Leben außer ihrer Arbeit. Wer die Verhältnisse in tropischen Ländern kennt, wird Carolus und Walter bewundern, daß sie überhaupt geistige Kraft zu etwas anderem aufbrachten als zu Kartenspiel und Whisky.

Mein Abendessen nahm ich gewöhnlich allein zu mir, March mußte sich um die Tiere kümmern. Jetzt hatte ich nicht mehr die Kraft, etwas von den Speisen fortzuschütten.

Ich warf mich in der Öl- und Essigkammer auf mein »Puppenbett«, schlug die Decke über das Gesicht und tat, als schliefe ich. March trat pfeifend ein, verstummte aber sofort und trat leisen Schritts an mein Bett.

Ich hörte, wie er das Thermometer aus seiner Metallhülse herauszog, was immer einen matten, paffenden Laut ergibt.

Ich sollte, wie alle anderen Experimentierobjekte, mich täglich zweimal messen. Aber er wollte mich nicht wecken.

Bisweilen überrann es mich kalt, ein Schauer, der gewöhnlich an der linken Wange begann und dann wie ein scharfer Winterwindhauch über die Stirn, den Nacken, die Wirbelsäule entlang lief und sich in den bleischweren Lenden verlor. Die Zähne wollten klappern. Aber ich wollte es nicht. Ich biß sie fest zusammen und verhielt mich mäuschenstill. March ließ sich täuschen und begab sich zur Ruhe. Bald hörte ich ihn tief atmen. Er schnarchte etwas. Er schlief.

An Gott glauben können! Einen Menschen aus Herzensgrund lieben und von ihm alles irdische Glück erhoffen können! Und tief schlafen können! Beneidenswerter Mann, dieser March!


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