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XIV

»Verteidigen Sie sich, lieber Doktor, ich verstehe Sie nicht!« sagte oft der Anwalt zu mir, wenn er erfahren hatte, daß ich bei den stundenlang fortgesetzten Verhören durch die Untersuchungsrichter fast stumm, scheinbar teilnahmslos und im innersten Kern unbeteiligt dagesessen war, eine Zigarette nach der anderen rauchend und meine trockenen Handflächen aneinanderreibend. Dieses Reiben gab einen sonderbaren, sengerigen Geruch, besonders bei trockenem Wetter. Ich atmete diesen Geruch ein, mechanisch führte ich die Handflächen gegen das Gesicht, kaum hörte ich auf das suggestive Drängen des Untersuchungsrichters hin. Vielleicht erinnerte mich dieser Geruch an den Geruch, den meine Frau einst um sich gehabt hatte und den ich auch als »sengerig« empfunden hatte.

Immer tauchte jetzt bei den Untersuchungsrichtern der Verdacht auf, daß ich die Tat nicht mit vollem Bewußtsein ausgeführt hätte – aber die Gerichtspsychiater hatten in meinem Geisteszustände nicht die nötigen Beweise für die Unzurechnungsfähigkeit gefunden, wie sie das Gesetz genau umschreibt.

Mein Vater setzte immer noch, und mehr denn je, alle Hebel in Bewegung, um mich dennoch als Geisteskranken zu internieren. Aber ich hatte die Zeit in der psychiatrischen Beobachtungsstation in so schauerlicher Erinnerung, daß ich mich mit aller Kraft dagegen sträubte. Lieber geköpft als enthirnt! Lieber tot als irr! Mein Bruder und der Verteidiger gaben mir recht. Mein Bruder rechnete in seinem naiven Glauben auf ein Wunder des Himmels, der Verteidiger verließ sich darauf, daß jeder Indizienbeweis genügend große Lücken offenließe, und er warnte mich stets nur davor, zuviel zu erzählen. Wie unnötig diese Aufforderung! Ich hatte gelernt, mich zu beherrschen. In den Verhören schwieg ich beharrlich, obgleich es im allgemeinen zu den schwersten, geistigen Martern gehört, wenn ein Mensch stundenlang durch immer wieder in anderer Form vorgebrachte Fragen irritiert wird. Die Richter, Kommissare etc. lösten sich ab, ich blieb. Selbst den Geistlichen hetzte man mir auf den Hals, und das immer von neuem. Die längst erledigten Dinge, wie die mißglückten Operationen, wurden in ungenauer, falscher Darstellung, der man widersprechen mußte, aber nicht durfte, vorgebracht und durchgesiebt.

Eine halbe Stunde lang macht es nichts aus, man hört weg, man beschäftigt sich irgendwie, etwa mit dem wollüstig hinausgezögerten, langsamen Aufrauchen der Zigarette oder mit dem Beobachten der Umgebung, der Tintenfässer, Löschblätter, der Gesichter, des Himmels, den man durch die schlecht gereinigten Fensterscheiben erblickt. Dann aber wird es schwer und schwerer. Nicht, daß es mich, wie der Verteidiger fürchtete, zu einer Beichte getrieben hätte. Damals nicht. Aber nach Ruhe sehnt sich der gefangene Mensch. Ruhe, Stille! Man könnte ja endlich dem bohrenden, immer und immer und immer wiederholten Gefrage ein Ende machen mit einer halben, zweideutigen Redensart, einer Lüge – oder mit der Wahrheit –, die Versuchung zu sprechen wird immer stärker. Nur damit der andere schweige! Mit aller Gewalt beißt man die oberen Schneidezähne auf die unteren – eine nicht ganz natürliche Abwehraktion, denn, wie jeder an sich ausprobieren kann, besteht das Aufeinanderpressen des Oberkiefers auf den Unterkiefer in der Regel nur darin, daß die untere Zahnreihe hinter der oberen einbeißt, etwa dreiviertel Zentimeter weit zurück, also nicht Zahnschneide auf Schneide. Was hegt daran? Ist nicht das eine wie das andere? Aber solche Berechnungen und Schrulligkeiten macht man, während die geistige Bohrmaschine des wißbegierigen Untersuchungsrichters zwar vergeblich, aber nichtsdestoweniger nervenmarternd weitersurrt.

Es sind nur dumme und wissenschaftlich wertlose Beobachtungen, die der mit Explorieren gefolterte Mensch da auf seinem Stuhle machen kann, aber es wurde mir nach und nach zum einzig erstrebenswerten Ziele, zum Ersatz für die verlorene Freiheit, die vielen Untersuchungen ohne ein Geständnis und ohne eine Lüge durchzuhalten. Aus jeder Lüge wäre nämlich ein Geständnis geworden, denn ich habe immer Sinn für Logik und gesetzmäßigen Zusammenhang gehabt, ich hätte ein innerlich brüchiges Gebäude nicht aufrechterhalten können. Die Tatsachen standen auch gar zu massiv da –, und es war doch meine Tat!

Der große Altersunterschied zwischen meiner Frau und mir, die Ehe, die hauptsächlich aus Geldgründen geschlossen worden war, das Testament zu meinen Gunsten, die Versicherung, die den überlebenden Teil reich machte, wobei ich des Reichtums gar sehr, meine Frau dieses Reichtums fast gar nicht bedurfte, meine angebliche Neigung zu grausamen Handlungen, Ausbrüche eines gewalttätigen, rücksichtslosen Wesens, und vor allem die unmittelbaren Beweise meiner Tat, das Toxin Y, das ich am Unheilstage aus dein Arbeitsraum, aus dem versperrten Reagenzienschrank hervorgeholt hatte. Nur in vorbedachtem Plan konnte ich es in meine Wohnung gebracht haben. Der plötzliche Tod meiner Frau unter Gerinnungserscheinungen der Blutgefäße, der schlaganfallähnliche Zusammenbruch. Die plötzliche Flucht meines Vaters etc. etc.

Es paßte jeder Zahn des Rades in eine genau entsprechende Lücke, ja, er paßte sogar zu gut.

Ich sprach nicht. Mir wurde »der Stuhl entzogen«. Ich mußte stehen. Aber ich sah die Herren an und schwieg. Die Herren sahen mich an und zweifelten. Die Untersuchungsrichter und später ebenso die Geschworenen zweifelten am Ende der Beweisführung an der »Wahrheit«, weil sie gar zu einfach erschien! So stand es. Ernst, aber nicht hoffnungslos.

Ich hätte mich vielleicht doch noch retten können, es mag sein, hätte ich nur das Mitleid der Menschen in Anspruch nehmen können. Aber ich konnte es nicht. Erlöst atmete ich jedesmal auf, wenn ich nach den Verhören wieder in meiner Zelle war. Schrecklich war es mir, besonders nachts, plötzlich aus dem Schlaf geweckt wieder ein solches Verhör »stehenden Fußes« über mich ergehen lassen zu müssen.

Nicht ganz leicht war es mir auf die Dauer, mit meinem Bruder lange Gespräche zu führen über Dinge, die weder ihn noch mich so nahe angingen wie meine Tat und ihre Folgen. Und doch fiel kein einziges »aufklärendes« Wort von meiner Seite, obwohl er darauf wartete und selig gewesen wäre, wenn ich ihm gesagt hätte, wenn ich ihm auch nur vorgelogen hätte, ich sei unschuldig, und alles sei bloß eine Folge von Mißverständnissen oder Gott weiß was. Ich konnte es nicht! Ich konnte nicht!

Ich hatte seinen Besuch noch kurz vor der Verhandlung. Er brachte mir saubere Wäsche und nahm die gebrauchte in einer Aktentasche mit. Als er nach dem langen, vielstündigen Besuch, ohne daß ich etwas Ernstes, Wesentliches ausgesprochen hatte, wieder an der Tür stand und ich dem Schließer das Zeichen geben wollte, ihn hinauszulassen (ich sagte schon, daß die Sprecherlaubnis gerade in meinem Falle sehr human gehandhabt wurde, ganz im Gegensatz zu der Zeit nach der Verurteilung) da sah ich, wie seine Hände, die über der schäbigen, dick angefüllten Tasche sich gekreuzt hatten, mächtig schwitzten und daß sie stark zitterten. Er hatte die Augenlider gesenkt, sein Mund war halb geöffnet, auf seinem dichten, dunkelblonden, sauberen Haar, das bürstenartig aufwärts stand wie bei so vielen, guten, kleinen Beamten, schimmerte das Licht der elektrischen Birne, die ohne einen Schirm an der Decke der Zelle leuchtete.

Er wollte mir etwas sagen, vielleicht einen Rat geben, vielleicht mir ein auf einer Prozession geweihtes Amulett für meine Hauptverhandlung zustecken, ich weiß es heute nicht. Er war immer sehr fromm gewesen – wie mein Vater – und doch ganz anders als der böse alte Mann.

Wir hatten einander erst jetzt, ich in meinem vierzigsten, er in seinem dreiundvierzigsten Jahre, kennengelernt – aber er sprach nichts mehr und auch ich schwieg. Als die Schritte des Wärters auf dem mit Steinfliesen bedeckten Korridor schon zu hören waren (so spät war es noch nie geworden) sagte ich ihm, er würde noch etwas Gutes von mir hören. Seine Augen leuchteten auf, er breitete die Arme aus, die Aktentasche klatschte zu Boden. Aber er umarmte mich nicht, wir sprachen auch nichts mehr miteinander. Aber es schien, daß er mich getröstet verlasse.

War es nicht eine verkehrte Welt, in der ein Mann am Vorabend seiner Verhandlung, bei der es um seinen Kopf geht, seinen älteren Bruder tröstet, statt dieser ihn? Mein sogenannter Trost bestand in einer übrigens ganz materiellen Angelegenheit. Für »liebende Herzen« die Urmedizin – Geld. Zum erstenmal machte ich einem Menschen ein größeres Geschenk, wie ich vielleicht auch bei ihm zum ersten Mal mit einem Menschen nicht experimentiert hatte. Meine Vermögenslage war nämlich durch den Tod meiner Frau eine andere geworden. Zwar wurde ich nicht ihr Erbe. Ob ich verurteilt wurde oder ob ich davonkam (wie sollte ich aber davonkommen?), auf keinen Fall konnte der geringste Bruchteil ihres Vermögens in meinen Besitz kommen. Anders stand es jedoch mit der Versicherungssumme. Ich fragte meinen Verteidiger, und dieser gab mir recht. In dem Versicherungsabkommen war nur von den Ansprüchen des Überlebenden die Rede, nicht aber war die Rede in den vielen Paragraphen des Vertrages von den Umständen, unter denen der eine Teil zum Überlebenden geworden war. Es konnte natürlich so kommen, daß sich die Gesellschaft verklagen ließ. Mein Anspruch stand dennoch fest. Ich hatte den Vertrag nicht geschlossen. Er konnte also nicht »unsittlich« sein, mochte ich nun ein Verbrecher sein oder nicht. Ich, oder im Falle meiner Verurteilung mein designierter Rechtsnachfolger, mußte in den effektiven Besitz der sehr großen Summe kommen. Ich verfaßte am Abend vor dem ersten Verhandlungstage eine letztwillige Verfügung, zugleich als Schenkungsurkunde formuliert. Ich setzte darin meinen Bruder und dessen Kinder als meine Erben ein. Ich nahm an, daß sie diese Erbschaft nach meinem »Ableben« unter allen Umständen annehmen würden. Auch nach meiner Verurteilung zu der Deportation oder zu einer längeren Gefängnisstrafe sollten sie sofort in den Besitz der Summe kommen.

Ich schlief in der Nacht vor der Verhandlung wie ein Stein.


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