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XI

Ich entsinne mich noch des entgeisterten, geradezu verrückten Wesens, das March an sich hatte. Seine Gesichtszüge waren so verzerrt, daß man seine sonst etwas nichtssagende, aber immer recht sympathische Physiognomie kaum wiedererkannte. Der »bestialische Ausdruck«, den ich nur einmal an ihm gesehen hatte, war wieder da.

Er zitterte. Ich zitterte. Er vor Erregung. Ich vor einer Temperatur von achtunddreißigeinhalb Grad und dem dazu gehörenden Schüttelfrost. Ich war geistig ebensowenig klar wie er. Das versteht sich von selbst. Und doch, in einem kleinen Winkel meines Innern hockte noch ein Fünkchen ungetrübten Bewußtseins und dieses beobachtete wie aus einem geschützten Winkel heraus das Tohuwabohu ringsum. Ich fühlte mit dem überwiegenden Teil meines ICH (dem G. L. von achtunddreißigeinhalb Grad) die Angst vor der Krankheit. In mir war das Grauen, das ein so fürchterlicher Zustand einflößen mußte. Mit dem klar gebliebenen Teil des G. L. aber war ich erstaunt, daß er, March, und der eben eintretende, vom Gewitterregen völlig durchnäßte Walter über meinen Zustand so entsetzt waren. Warum entsetzt? War unser Experiment nicht nach menschlichem Ermessen als gelungen anzusehen? Ich mußte begreifen, daß keiner von ihnen und am allerwenigsten Carolus, der als letzter erschienen war, in seinem alten, schlotternden, verdrückten Pyjama, eine Zipfelmütze auf dem kahlen Schädel, abgetretene Pantoffeln an den Füßen und seine Hornbrille auf der dürren Nase, noch an ein Gelingen unserer Experimente geglaubt hatte.

Ich war mehr tot als lebendig, ein schwer leidender Mensch, einer, der jetzt (fälschlich) glaubte, bereits an der äußersten Grenze seiner Leidensfähigkeit zu sein. Dennoch war etwas in mir, das sich jetzt freute. Ich hatte recht behalten. Meine einfache Theorie, gestützt auf die langjährigen Erfahrungen Magister F.'s und auf die Gesetze der Logik, die in C. dieselben waren wie in meiner Heimatstadt, hatte sich anscheinend bewährt. Nach menschlichem Ermessen? Anscheinend? Ich ließ Walter an mich heran, damit er mich klinisch untersuche. Ich glaubte, wenn er tatsächlich an mir das Y. F. feststelle, sei das Rätsel gelöst. Auch dies war ein Trugschluß. Das Y. F. sollte uns noch viele Rätsel aufgeben.

Walter blickte mich stieren Blickes lange an, seine Hände, die an mir umheruntersuchten, hatten nicht den bei aller Zartheit festen und unverschiebbaren Griff, wie ihn die Bewegungen eines großen Arztes haben sollen. Walter war, wie ich sah, an diesem Abend nicht auf seiner Höhe. Seine Hände zitterten, und zwar nicht infolge Fieberfrostes wie die meinen, auch nicht infolge menschlicher Rührung und Ergriffenheit wie die des armen March, sondern – infolge Whiskys. Er war völlig angekleidet, bloß ein kleiner Toilettefehler war erkennbar. Erkennbar von mir, über den er sich beugte und bei dem auch jetzt das Beobachtungsvermögen nicht erloschen war. War also Walter nächtlicherweise in den leeren Straßen von C. umhergeirrt? War er am Strande des Meeres gewesen, das Land seiner Gattin mit der Seele suchend? Beinahe. In der Kaschemme des Hafenwirts hatte er gesessen (trotz der Quarantäne, also heimlich) und hatte sich hier mit Whisky gelabt, der, wie ich schon wußte, in ähnlich guter Qualität sonst in C. nicht leicht aufzutreiben war. Walters schöne graue Augen waren etwas glasig, und die Kohlensäure des Sodas zum Whisky stieß ihm auf. Nicht schlimm. Er war ja nur angeheitert oder angewehmutet, wie man will. Er gewann sofort, von einer Sekunde auf die andere, seinen klaren Kopf wieder, als er sah, was mit mir los war. »Da sind wir einen großen Schritt weitergekommen«, sagte er und – stieß auf und tat einen großen Schritt fort von mir. Er besprach sich flüsternd mit Carolus, und ich sah auf den Gesichtern meiner Mitarbeiter – nicht geradezu Lustigkeit und Frohlocken, aber doch eine sehr merkwürdige behagliche Freudigkeit. Sie freuten sich, daß das Experiment Nr. soundsoviel gelungen war. Warum sollten sie nicht? Dennoch stieg es zum erstenmal seit Beginn der Versuche bitter in mir auf.

Ich war von March auf den großen Tisch im Laboratorium gelagert worden. Das Licht, das Walter zwecks genauer Untersuchung über dem Untersuchungstisch angezündet hatte, blendete selbst einem Gesunden die Augen, geschweige denn mir, dessen Augenbindehäute schon entzündet waren. Ich legte daher den Kopf zur Seite und sah March, der schwer atmend am Rande des Tisches stand. March war nicht erfreut. Ihm lag nichts an der Wissenschaft. Nur an mir. Er wollte mich gern fortbringen, ins Bett schaffen, gesundpflegen! Das Kind! Die Ärzte ließen es nicht zu. Noch eine Blutuntersuchung! Das gleiche Resultat, wie es meine Augen gesehen hatten, mußte sich auch ihnen ergeben. Von Malariaplasmodien keine Spur. Ich wollte es den Herren klarmachen. Aber zwischen Redenwollen und Redenkönnen war angesichts meiner entzündeten und aufgequollenen Hals- und Rachenschleimhäute und dank meiner, wie eine Raupe im Munde lagernden, allzu großen Zunge ein kleiner Unterschied. Und als ich endlich ein paar Worte mühsam aus dem Magen herausgurgelte, von einem neuen Frostschauer ergriffen, würdigten mich die beiden Ärzte keines Blickes, sondern sie hockten, Walter über dem linken, Carolus über dem rechten Okular des Mikroskops, um mein Blut immer von neuem mit wissenschaftlicher Gründlichkeit zu untersuchen, obwohl in demselben meiner Ansicht nach nichts zu sehen war. Aber ich (der nüchterne und überlegene Rest des alten Georg Letham in mir) entsann mich des Arbeitsplanes, den ich im voraus festgelegt hatte, für den Fall, daß ich als erster erkrankte. Sie taten nur, was ich schriftlich und mündlich als das einzig richtige für den Gang der Untersuchung festgelegt hatte. Ich mußte mich fügen.

Ich habe in meinem Leben des öfteren gehungert. Nach Essen, Trunk, Geld, Ehre, Frauen, Freiheit. Nach Glaubenkönnen und nach Gott. Bisweilen freiwillig, bisweilen gezwungenermaßen. Aber ich glaube, nie habe ich so mit meinem ganzen Körper und meiner ganzen Seele nach etwas gehungert wie jetzt nach Ruhe, Frieden, Dunkelheit und Alleinsein, nach einer Bettmatratze unter mir und einer leichten, guten Decke über mir, nach einem kühlen, frisch bezogenen Polster unter meinem von scheußlichem Kopfhämmern bedrängten, zentnerschweren Schädel.

Statt dessen lag ich flach wie ein Toter auf dem harten Operations- oder Untersuchungstisch und wartete ab, was sie mit mir anstellen würden. Sie ließen March, der sich um mich bemühte, soweit es sein erschütterter Gemütszustand zuließ, nicht neben mir. Sie brauchten ihn zu allen möglichen Handreichungen, eben wie einen Laboranten, der er ja war. Was hatte er erwartet? Man hatte ihn ja nicht zum Vergnügen dem Bagno entzogen.

Saures und galliges Aufstoßen hatte, zu meinem Entsetzen, begonnen. Was hatte ich erwartet? Mich marterte brennender Durst. Die Zunge war wie mit Paprika bestreut. Doch wozu dies aufzählen? Nur noch eine winzige Kleinigkeit von den ersten Stunden meines Leidens. Ich erwähnte nur nebenbei, daß ich in jeder Stunde, die von jetzt an in einem Zeitraum von vier Wochen folgen sollte, geglaubt habe, es könne nicht noch schrecklicher werden. Ich hätte bereits genug gelitten. Genug! Genug! Das wurde mein einziger Gedanke. Fiebernde sind ja immer etwas gedankenarm, die wenigen und flachen Gedanken rotieren nur mit ungewohnt rasanter Umdrehungszahl in dem erhitzten und geschwächten Hirn. Ich stöhnte immer nur »genug«. Oder ich brachte wenigstens ein »g« hervor. Zu einem »g« braucht man bekanntlich nicht den Druck der Zunge an die Zahnreihe, noch auch viel Atem, »g« kommt glatt aus der Kehle. Die wehleidige Zunge kann sich dabei in der vorderen Mulde der Mundhöhle ausruhen. Man girrt doch das »g« hervor. Der stumpfe, klanglose Ausdruck der Kreatur, wie sie ist, aber nicht sein will. Aber nicht um dieses Genug oder einfach »g« handelte es sich den Herren, die hier um mich versammelt waren und mich studierten, sondern um die Gewinnung eines für die wissenschaftliche Untersuchung sehr wichtigen Körpersekretes. Man weiß, was ich meine. Ich konnte es aber, Gott weiß warum, jetzt nicht produzieren. Ich mühte mich ab. Mein Schädel dröhnte vor Anstrengung, mein Bauch spannte sich an, meine Pfoten zitterten so, daß ich den leeren Kelch fallen ließ, der auch prompt zerbrach. Aber so wenig meine Kehle ein fröhliches Dankeslied entließ, so wenig mein Leib das löbliche Naß. Kleine Leiden, gewiß! Aber es war mir, mitten in dem höllischen Elend des entfesselten Fiebers, sehr peinlich, daß mich Walter und Carolus in Gegenwart des kleinen March entblößten, um mir das abzuzapfen, was sie von mir brauchten.


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