Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIII

Der dritte Krankheitstag war ein Sonntag. In meinen Fieberphantasien hörte ich immer wiederholt die Stimmen: »Doktor Georg Letham ist tot.« »Der jüngere?« »Beide.« Und wieder den Beginn: »Doktor Georg Letham ist tot.«

March hatte am Tag des Herrn etwas mehr Freiheit, er kam zu mir, und ich hielt wieder seine weichen, wie knochenlosen Hände, derentwegen ich ihm früher einmal den Spitznamen »Gummibonbon« gegeben hatte, in den meinen. Da hörten die stupiden »Stimmen« auf. Was sonst an diesem Tage vorging, ist vollständig vergessen. Erst am Abend des Montags erwachte ich zu einem etwas lichteren Moment. Ich mußte während der ganzen Zeit viel erbrochen haben, in meinem Munde war ein galliger, mit sonst nichts an Bitterkeit vergleichbarer Geschmack. Um meinen Hals und die vordere Partie der Brust hatte man eine Art Guttaperchalatz gebunden, damit ich in meiner Bewußtlosigkeit mich nicht schmutzig machte. Kaum hatte ich das widerlich glatte und kalte Gewebe befühlt, als sich in den revoltierenden Tiefen meiner Eingeweide wieder das Würgen meldete und mit aller Gewalt hoch wollte. Ich gab nach. Ich mußte. Und der treue March faßte mich an den Schläfen und hielt mir den Kopf. Die alte Krankenschwester, die den schweren Pflegedienst bei mir versah, säuberte inzwischen den Raum mit Besen, Schaufel und Wischtuch.

In dem gutmütigen, traurigen, bedrückten Gesicht des March zuckte und wetterleuchtete es. Er wollte mir wohl eine wichtige Nachricht überbringen, hatte diese vielleicht schon zehn- oder zwanzigmal mir direkt ins Ohr hinein gesprochen, ohne daß ich ihn verstanden hatte. Nun ließ er meinen Kopf los, klemmte mir ein Thermometer unter die Achsel, (in den Mund konnte er es wegen meiner scheußlichen Mund- und Rachenschmerzen nicht legen), und maß die Temperatur. Ich warf von der Seite einen Blick darauf. Selbst in meinem jetzigen, kaum mehr, wie sage ich? menschenähnlichen Zustande interessierte mich der klinische Verlauf meiner Krankheit. Die Temperatur mußte wohl die kritische Höhe (vierzig) überschritten haben. Er wandte sich ab, ungeschickt mit den Achseln zuckend, als er das Thermometer betrachtete, und ich hörte ihn wie von weitem, wie durch zwei Türen hindurch, eine Art hölzernen Schluchzens von sich geben. Er war ebenso tapfer wie die anderen Mitarbeiter an unseren Experimenten. Er kam zurück, hustete und setzte eine krampfhaft lustige Miene auf. Ich konnte es ihm nicht danken. Gerade als er mir mit einer frischen, schneeweißen Serviette das Gesicht abtrocknete, setzte ein neuer Würg- und Brechreiz ein, und während ich aufstöhnte und die Tränen mir aus den Augen quollen, ergoß es sich über seine weiche Hand. Aber das war die leichteste Probe, die seine Freundestreue und sorgende Liebe an diesem Tage, oder besser gesagt, an diesem Abend auf sich zu nehmen hatte. Die Tatsachen stellten höhere Anforderungen, nämlich rein sachliche. Ohne Ansehung des Objektes.

Es traten nämlich nach kurzer Zeit die Herren Carolus und Walter ein, alle Hände voll mit Gläsern, in denen sich neue junge, schwirrende Stegomyias befanden. Ich verstand anfangs nicht, was sie von mir in diesem Räume, der wirklich keinen erquicklichen und schönen Aufenthalt mehr bot, wünschen konnten. Ach nichts, nur einen Tropfen von meinem mit nichts anderem auf Erden vergleichbaren, kostbaren Saft. Blut, meine ich.

Sie fragten mich nicht lange, ob ich damit einverstanden sei, daß sie meinen Arbeitsplan in der von mir genau vorgeschriebenen Form getreulich fortsetzten. Sie sahen mich weiter nicht an, sondern sie machten sich an die Arbeit und damit gut. Zuerst ließen sie durch March in dem bis jetzt absichtlich dämmerig gehaltenen Raum richtig hell machen. Sie brauchten zu der kniffligen Arbeit Licht. Ich hätte Dunkelheit gewünscht, meine Augen ertrugen nicht einmal den abgeschwächten Lichtschein, der durch die geschlossenen Lider hindurchsickerte.

Und ließ ich wenigstens die Lider, wie es sich gehört, geschlossen? Leider nein. Ein G. L. mußte sehen, was um ihn vorging. Ich mußte den kurzen lichten Augenblick inmitten der Fieberwüste, der unabsehbar weiten, bodenlosen benützen, um von meiner Lage und allem, was um mich herum vorging, Kenntnis zu nehmen. Mich blind zu stellen, war mir nun einmal nicht gegeben. So starrte ich denn mit krampfhafter Aufmerksamkeit das schwärzliche, weißgestrichelte, sechsbeinige Insekt mit dem winzigen Kopfteil an, das von Walter auf meinen entblößten Oberarm gesetzt wurde und das mit seinem haarscharfen Rüsselchen sich eine gute Stelle zum Stechen und Blutsaugen aussuchte. Denn es lief, von dem Glasröhrchen wie von einem Käfig festgehalten, ohne fortfliegen zu können, unruhig auf meinem Arm hin und her.

Ich sah die Adern an der altersmüden Hand des Carolus unter seiner durch die Jahre verdünnten, satinartig schimmernden Greisenhaut. Ich sah die langen, stark gekrümmten, hornigen, an den Rändern mit bläulichem Schmutz versehenen Nägel an dieser Hand. Endlich zuckte ich zusammen. Ich war während der letzten Tage fast ohne Bewußtsein gewesen. Jetzt war ich bei Bewußtsein. Ich spürte den Stich der winzigen Stegomyia wie einen Dolchstich.

Zu allen großen Schmerzen, an denen ich litt, kam noch ein relativ kleiner Schmerz. Aber gerade diesen hätte ich sehr gern vermieden. Ich stöhnte laut auf und dachte, Carolus und March und Walter würden es bemerken, daß ich an diesem einen Stich genug hatte und fortan um Ruhe bat. March merkte es. Die andern merkten es vielleicht auch, aber sie taten nichts dergleichen.

Sie unterhielten sich miteinander: Walter sagte, er hätte zwei Depeschen abgesandt. Die erste an das Gesundheitsdepartement ... Während seine Stimme sich in unhörbares Geflüster verlor, nahm er die Mücke schnell, aber sanft von meinem Arm fort und transportierte sie in ein Reagenzglas, das dann in einem Gestell aus Holz untergebracht und mit einem Fettstift signiert wurde. Dann kam eine zweite Mücke daran. Die Pflegeschwester, die von den beiden Herren keines Blickes gewürdigt wurde, verließ den Raum, um ihre Abendmahlzeit einzunehmen oder um sich etwas zu erholen.

Ich blieb. Ich blieb liegen. Meine Leiden gingen weiter. Wie denn auch nicht? March nahm mir den hervorgewürgten Gallenschleim von den geschwollenen Lippen und sah mich voller Mitleid treuherzig an. Wenn ich mich im Rhythmus meiner Herzensregungen aufbäumte, wie es jedem Kerl, der seinen Schnaps erbricht, erlaubt ist, dann drückte mich Walter mit großer Energie zurück. Nicht aus Sorge um die »heilsame horizontale Lage«, sondern nur, damit das stechende und saugende Insekt nicht gestört werde. Auf seinen ernsten, durchfurchten, in der letzten Zeit etwas schwammig gewordenen, von innen her verwitternden Zügen war jetzt der angespannte Ausdruck der eifrigen Hingabe an das Experiment zu sehen, die der Freude an der Arbeit. Seine Hände zitterten jetzt keineswegs, wie an dem ersten Abend. Er hatte wohl dem Alkohol wieder abgeschworen. Wäre er nur gegangen! Fort, fort mit ihm! Ruhe! Lieber Gott! Zur Hölle mit allen! Genug der Greuel! Das war mein Gebet, das ich in meiner Herzensnot und Eingeweidenot inbrünstig hervorwürgte. Daß ich Carolus haßte, gegen den ich schon auf der »Mimosa« einen stillen Widerwillen gehabt hatte, war verständlich. Aber ich hatte jetzt einen viel stärkeren Haß gegen Walter, der, als die zweite Mücke kräftig angebissen hatte, in der wollüstigen Befriedigung seiner Experimentierfreude sich mit der Zunge über die bartumbuschten, schmalen Lippen strich.

Es waren vielleicht fünf Mücken in dem einen Sammelgefäß. Die eine oder andere konnte bei dem Herausnehmen entfliehen. Man hatte deshalb die Fenster fest verschlossen. Die Hitze, der üble Geruch von meiner Wenigkeit waren noch unerträglicher geworden. Aber wenigstens waren die Experimentierenden mit ihren kostbaren, schwer ersetzlichen Tierchen gegen einen solchen Zufall gefeit. Also Geduld, sagte ich zu mir. Georg Letham junior, nimm dich zusammen, sei ein Mann, halte aus. Halte aus, beherrsche dich, ein Mückenstich mehr oder weniger wird dich nicht umbringen. Gut. Ich biß die Zähne zusammen und beherrschte mich.

Die blanke, kleine Reagenzröhre, die Carolus in der Hand hielt und mit der Mündung gegen meinen Oberarm preßte, glänzte mörderisch im Lichte der angezündeten elektrischen Lampen. Ich heftete meinen Blick auf das blitzende Glas, und zwar auf das halbkugelige Ende des Röhrchens, ich wollte die Insekten nicht mehr sehen und in tödlicher Ungeduld darauf lauern, ob sie jetzt anbissen oder nicht. Endlich war es zu Ende.

Sie gingen im Gänsemarsch ab, Carolus, Walter, March; die Schwester erschien, frisch gewaschen und gekämmt, mit frischer Nonnenhaube über den Haaren, nach Seife duftend, sie öffnete die Fenster, löschte die Lichter bis auf eines, ein sehr gedämpftes zu meinen Häupten, sie tätschelte die Kissen wieder zurecht, sie flößte mir Eisstückchen ein, sie säuberte meinen Guttaperchalatz, sie zog das Bettuch zu meinen Füßen zurecht und nickte March geheimnisvoll zu, der eben eintrat, einen dicken Brief mit der Schrift meines Vaters in der Hand. Sie schien etwas ernst, während der alte Junge mir zulachte. Ich sah und sah nicht. Ich schlief sehr leicht ein und wunderte mich darüber. Ich hatte so viele Tage und Nächte fast gänzlich ohne Schlummer verbringen müssen. Ich war wirklich so schlafgierig geworden wie nur je ein vom Fieber Gehetzter. Beim Eintritt des March, also vor dem Ansetzen der Moskitos, war es wohl sechs Uhr gewesen, jetzt konnte es acht Uhr sein. Ich streckte mich gründlich aus. Ich merkte, wie das Tempo meiner Atemzüge nachließ, und wie alles in mir, von Kopf bis zu Fuß, eindämmerte und abstarb. Es war ein gutes, friedliches Absterben, ein allmähliches, völlig unabwendbares und im Grunde doch schönes, freiwilliges Versinken. Es war, als schraube ich an dem bekannten Handgriff des Mikroskopkondensors die Irisblende zusammen. Das Licht, das dann der Forscher durch das Okular empfängt, wird allmählich schwächer und schwächer, aber die Dinge treten mit einer Schärfe, einer Ruhe und Unabänderlichkeit hervor, wie er sie vorher nicht gekannt hat. Jetzt hörte ich mich tief schlafen.


 << zurück weiter >>