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VI

Der elfte Tage, mein Tag, nämlich der, an dem ich von einer Stegomyia gestochen werden sollte, war ein Sonntag. Carolus, Walter und der Geistliche waren dagegen, daß an diesem Tage ein Experiment vorgenommen werde. Und ich, ich fügte mich. Warum? Aus Rücksicht auf die religiösen Bedenken meiner Mitarbeiter? Keineswegs. Offen gesagt: aus Feigheit. Aus dem Wunsch, den Stich noch einen Tag länger hinauszuschieben. Ich hatte Angst. Ich hätte sie heute ebenso. Ich wußte damals schon genau, was die Krankheit war. Obwohl mein Leben elend war, ich zitterte um dieses, mein Leben. Mir graute auch ganz besonders vor der Zeit des Wartens. Hatte ich nicht schon genug gewartet? Diese elf Tage waren keine Freudentage gewesen. Mich schauerte es bei dem Gedanken an das Würgen, Brechen, an die schauerliche Entleerungen. Meine Nachtruhe war gestört. Ich war totenblaß, als am Abend des Montags (abends waren die Mücken am besten zum Stechen aufgelegt) mich meine Mitarbeiter den Kittel ausziehen ließen und mir sagten, ich solle mich hinsetzen und ruhig verhalten. Das war kein besonderes Kommando, es waren die üblichen Anordnungen, wie ich selbst sie bei jedem der bisher Geimpften bestimmt hatte. Aber welcher ungeheure Unterschied zwischen dem, was einer anordnet, und dem, was an einem vollzogen wird. Das eine ist Experiment. Das andere Wirklichkeit. Oder ist es natürlich doch das Gleiche? Einerlei. So kam es dazu, daß sich mein rechter Oberarm mit einer sogenannten Gänsehaut überzog. Das kleine Insekt trippelte auf der Haut hin und her. Ich zitterte vor Frost. Meine Zähne klapperten bei einer Temperatur von über dreißig Grad, wie sie im Laboratorium herrschte. Infolge der Gänsehaut oder aus einem anderen Grund vermochte das Insekt nicht anzubeißen. Es saß bloß da und tat mir nichts. Die Mitarbeiter fragten mich, Carolus sehr trocken, dann March mit seiner bibbernden Stimme, die er in wichtigen Augenblicken immer hatte, ob die Mücke angebissen hätte. Ich vermochte nicht zu lügen. Ich schüttelte den Kopf und sah mit gespannter Aufmerksamkeit zum Fenster des Laboratoriums hinaus auf die Inselwelt, auf die kleine, aus schwarzem Fels bestehende, weltberühmte Insel, auf welche die schwersten Verbrecher deportiert wurden, um, von allen Lebenden abgeschlossen, zu dauerndem Schweigen, zum ewigen Anblick des schattenlosen Meeres und zu ewigem Zusammensein ausschließlich mit sich selbst verurteilt, dort bis an das Ende ein Leben zu fristen, das keines war. Und doch, ich hätte getauscht! Was half es? Ich konnte nicht zurück. Walter, der alles stumm mitangesehen hatte, nahm das beißunlustige Insekt wieder fort und holte ein anderes, das letzte, das wir aus dieser Reihe besaßen, aus dem Insektuarium. Es war dämmerig in dem Raum. Er war in letzter Zeit nicht mehr ganz sicher auf den Füßen, ich hatte ihn im Verdacht, daß er ab und zu einem herzhaften Schluck Whisky nicht abgeneigt sei. Whisky und Walter?

Und doch war es so. Er war seit seiner kleinen verspäteten Hochzeitsreise mit seiner Frau auf die »einsame Insel«, (aber es war keine aus schwarzem Fels mit nur drei Palmen und sonst kahl wie eine Hand, sondern ein fieberfreies, zwar etwas sumpfiges, aber mit prachtvoller Vegetation bestandenes, ebenes, Eiland) – er war von dieser kleinen Reise völlig verstört zurückgekehrt. Er, der sonst immer minutiös gepflegt, tadellos sauber war, vernachlässigte sich. Sehr zu meiner Bestürzung. Denn es ist eine bekannte Tatsache, daß der erste Schritt zur moralischen Verlodderung in den Tropen in der Vernachlässigung der Kleidung besteht. Dann folgen mangelnde Körperpflege und schlechte Manieren beim Essen. Der vorletzte Schritt ist der Gebrauch oder Mißbrauch von Alkohol und Morphin, die meist das moralische Zerstörungswerk dieses tödlichen Klimas außerordentlich begünstigen, weit mehr, als es diese Gifte in den gemäßigten Ländern tun. Den Rest gibt einem solchen verkommenen Gentleman eine der besonders von den Engländern gebrandmarkten Zeitehen mit den eingeborenen, farbigen Weibern. Damit scheiden diese Männer aus der bürgerlichen Welt aus und gehen unter den Farbigen zugrunde.

Derartiger Schritte hielt ich diesen vollkommenen Gentleman und makellosen Gatten auch jetzt nicht für fähig. Aber hätte ich ihm noch vor sechs Wochen zugetraut, er würde unrasiert, mit Schuppen im Haar, mit ungepflegten, schwarzumränderten Fingernägeln im offenen, zerknitterten Laboratoriumsmantel umherlaufen, würde sich den Schweiß mit einem schon recht stark gebrauchten Taschentuch von dem verstörten Gesicht fortwischen?

Was machte nicht alles das Warten auf eine Verbindung mit seinen »liebenden Herzen« aus ihm? Er war durch das vergebliche Harren und Sehnen derart heruntergekommen, daß er jetzt, am Spätnachmittag, unter dem Einfluß eines oder einiger Whiskys nicht mehr sicher auf den Beinen stand und daß er stolperte. Stolperte? Stolpern? Fallen, das Röhrchen mit meiner Mücke zerbrechen? Ich war so von Angst und Grauen verwirrt, daß ich hoffnungsvollst daran dachte. Aber er hielt sich dann doch aufrecht, er riß sich zusammen.

Er wunderte sich über sich selbst. Er erkannte seinen Zustand nicht. Er dachte an einen Anfall von Malaria, während es nur der Alkohol und der Gram des Herzens waren. Sollte ich Fieber haben, meinte er, während er das Röhrchen gegen das Fenster hielt und schüttelte, um das ruhende Insekt darin ein wenig aufzuwecken. »Ich habe mich doch eben gemessen, und die Temperatur war normal. Nun, geben Sie mir Ihren Arm, halten Sie ihn so, ich bitte.« Dann setzte er das Röhrchen mit der Mündung nach unten auf meinen Unterarm.

»Nein, nicht hier, sondern weiter oben«, sagte ich. »Wir wollen die Experimente alle ganz gleichmäßig gestalten.«

»Wie Sie wollen«, meinte er und schob das Röhrchen behutsam an meinem Arm hinauf bis fast unter die Schulter.

Was ich in diesen Augenblicken durchgemacht habe, läßt sich schwer beschreiben. Nur ein Mückenstich?

Aber der Moment des Schwankens, der Unsicherheit war vorbei. Auch ich hatte mich gefaßt. Der Anfall von Feigheit, von Raserei der Todesangst war vorüber. Keine Gänsehaut. Ich lächelte. Ich gähnte diskret. Ich muß einen absonderlichen Anblick geboten haben. Aber wenn auch mein Blut nicht zuckersüß war, genießbar war es, und die Mücke konnte sich von dem Labsal, der für das winzige Tier unter meiner Haut strömte, gar nicht trennen.

Carolus notierte das Experiment, und ich zog mich an diesem Abend sehr früh zurück.

Wie lange die Inkubation währte, war bis dato bei dem Y. F. nicht bekannt. Es konnten zwei, es konnten vier, es konnten auch sechs Tage sein. Auch mehr. Es gibt Krankheiten wie die Lepra, bei denen die Inkubation, dieses Intervall zwischen Ansteckung und Krankheitsausbruch, Monate und Jahre andauert. Während dieser Zeit geht der Angesteckte seiner gewohnten Arbeit nach, er lebt, als wäre er gesund. Er spielt den Gesunden, ist es aber nicht. Wohl dem, der nichts weiß. Ich wußte zu viel. Dies erschwerte mein Los.

Es bestanden bloß zwei Möglichkeiten: Entweder war unsere Theorie richtig, das Axiom I gültig, dann mußten wir, oder wenigstens einer von uns, sofern wir die Methodik nur genau so einhielten wie bis jetzt, an Y. F. erkranken. Oder alles war falsch, dann sah ich überhaupt nichts mehr vor mir, was mich am Leben halten sollte. Was hatte ich denn noch hier zu erwarten? Im Lager der Deportierten, das unglaublich schlecht verwaltet war, neben dem Abschaum der Menschheit vegetieren? Nicht einmal neben diesem Abschaum hätte ich aber vegetieren dürfen, sondern nur unter ihm, ihm in jeder Beziehung unterlegen, – welcher Mensch meiner Art hätte dies länger als einige Tage ertragen? Mit Schaudern erinnerte ich mich der ersten Tage auf der »Mimosa«. Ich habe von den Einzelheiten geschwiegen. Ich will auch weiterhin darüber Stillschweigen bewahren.

Ich hatte bloß einen sentimentalen, gefühlsseligen Mann wie March zur Seite, der mich zwar liebte und dem ich gut war, der mich aber nie ausfüllen konnte. Ohne wahre Arbeit, ohne Freiheit, in einem schauerlichen Klima – und ohne Hoffnung auf Hoffnung? Ich hatte ja schon das Leben vor meiner Untat kaum zu ertragen vermocht! Wie denn erst jetzt! Was mich in der letzten Zeit aufrechterhalten hatte – jetzt begriff ich es klar, was mich nach dem Tode Monikas vor dem Selbstmord bewahrt hatte – das war nur der Glaube an unsere Experimente gewesen.

Ich ging abends an der Stube des Walter vorbei und sah dort auf dem Tische eine offene Selterflasche und ein leeres Glas. In einem Winkel zwischen seinem Bett und dem Fenster, wohin die Abendsonne nicht dringen konnte, befand sich eine halbgeleerte Flasche schottischen Whiskys. Niemand bewachte sie, und sie war leicht für den Besitzer zu ersetzen. Ich ließ sie aber unberührt. Keinen Rausch! Ich wollte klar sein und bleiben und alles ertragen, wie es jetzt kam.

In dem Laboratorium war die Arbeit auf ein Minimum zusammengeschrumpft. Wenn etwas zu tun war, dann hauptsächlich das Ordnungmachen. Ich räumte den Medikamentenschrank auf. Ich kochte die Injektionsspritzen aus, ich säuberte die Fläschchen, was eigentlich Marchs Arbeit war. Aber heute war es eine Wohltat, die Zeit des Wartens auf das Entweder-Oder sich zu vertreiben. Auch eine Schachtel mit festem Morphin als salzsaurem Kristall fand ich vor. Es war eine größere Versuchung als der Whisky. Den Schmerzen des Y. F., dem Würgen, Brechen, dem schauderhaften Kopfdruck entgehen, entfliehen! Ich war in großer Versuchung. Zufällig erblickte ich ein totes Versuchstier, eine Ratte, glaube ich, die bei einem unserer Experimente, zu dem wir ihr Blut gebraucht hatten, ihr Leben hatte lassen müssen. Ich ließ das Morphin, wo es war, und nahm den Rattenkadaver hinunter, um ihn vernichten zu lassen, wie wir es mit allen Tierleichen, sobald wir sie nicht mehr brauchten, ordnungsgemäß machten.


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