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V

Die Luft war an diesem Abend so naß, daß uns Hemd und Kittel, wie aus dem Wasser gezogen, am Leibe klatschten. Die Hitze benahm uns den Atem, legte sich wie ein Helm aus Blei, ein Taucherhelm, auf den Schädel. Aber es war jetzt nicht die Zeit, an persönliche Beschwerden zu denken.

Die Vorbereitungen für den unumgänglich nötigen Eingriff waren das einzig wichtige.

Zum Glück befand sich in dem Raum fließendes Wasser. Und hätten wir drinnen nicht genug Wasser gehabt, draußen vor den Fenstern strömte es in einem Gusse, als wären die Schleusen des Himmels geöffnet.

Die erste Vorbereitung betraf die Desinfektion meiner Hände und Arme bis zum Ellenbogen und die ebenso sorgfältige und minutiöse Asepsis der sich in Krämpfen unter halber Bewußtlosigkeit windenden Frau. Diese Desinfektion konnte man der geschulten Oberin und ihrer sehr anstelligen, intelligenten Hilfskraft anvertrauen.

Die zweite Vorbereitung betraf eine tiefe Narkose. Wenn ich das Kind im Mutterleibe wenden wollte, mußten die Gebärmutter und die Bauchmuskulatur erschlafft sein, so sehr als nur möglich. Die Mutter durfte keine Schmerzen mehr erleiden. Sie ertrug sie einfach nicht mehr. Humanität und ärztliche Pflicht waren eins.

Diese Narkose konnte ich guten Gewissens viel eher meinem Freunde March anvertrauen, der unten im Laboratorium schon viele Affen und Hunde lange Stunden hindurch narkotisiert hatte und der für diese schwierige Aufgabe eine natürliche, angeborene Begabung besaß, als jemand anderem, etwa Carolus, der sich bald zurückzog. Er konnte solche Dinge nicht mitansehen. Ich rief March deshalb zu, er solle sich ebenfalls sofort gründlich waschen und dann mit der Narkose beginnen. Während er sich wusch, brachte die Hilfsschwester eine Narkosemaske und das nötige Quantum der betäubenden Flüssigkeit, eines Gemisches von Chloroform und Äther mit Alkohol aus der Lazarettapotheke herauf.

Das Unwetter hatte auf einen Augenblick nachgelassen. Draußen war es nach dem Donnern des orkanartigen Gewitterregens still geworden. Jetzt zeigte sich mit einemmale ein anderer Übelstand. Das elektrische Licht begann unheilverkündend zu flackern. Seit dem Tode des schwedischen Elektrizitätswerkdirektors traten immer von Zeit zu Zeit solche Störungen auf. Was war zu tun? Zur Überlegung blieb uns keine Zeit, das Aussehen der jetzt nur wimmernden Mutter wurde mit jeder Minute kritischer. Sie verfiel. Sie verging. Ich mußte operieren und hätte auch eine Finsternis geherrscht wie vor Erschaffung der Welt, als alles noch ein schwarzes Chaos war.

Ich herrschte March an. Weshalb hatte er noch nicht mit der Narkose begonnen? »Los! Maske vor! Tropfenweise Mischung! Immer nur je ein Tropfen, schneller und langsamer je nach Bedarf, den Unterkiefer mit der linken Hand fassen und nach vorne ziehen! Die Zunge folgt und kann sich nicht über den Kehlkopfeingang legen, die Atmung bleibt frei; Atmung kontrollieren, Zug für Zug! Die Pulsader mit dem linken Zeigefinger befühlen und laut die Atemzüge zählen, bis ich »Aufhören« sage. Halt! Hast du nachgesehen, ob das Weib ein künstliches Gebiß im Munde hat?« Das hatte March vor Beginn der Narkose vergessen, wie hätte er auch daran denken sollen? Hunde und Affen tragen keine künstlichen Gebisse und können sie daher auch nicht in der tiefen Narkose in die Kehle hinabgleiten lassen und daran jämmerlich ersticken. »Künstliche Zähne! Ach Unsinn!« widersprach der sonst so anstellige und schnell begreifende March. »Ziehe kein dummes Gesicht, Idiot!« rief ich, »öffne ihr den Mund, ordentlich auf! So, ja, und sieh nach!« »Schreien Sie nicht so«, antwortete March vor Groll, aber er gehorchte. Die Zähne waren übrigens echt.

Ich überhörte in meiner Erregung seinen Trotz. Genug, daß er mir parierte. Meine Gedanken waren anderswo. Ich überdachte, als ich mit der Desinfektion meiner Arme fast fertig war, noch einmal den Plan, nach dem ich handeln mußte.

Die junge Schwester mir zur Linken. Die alte Oberin zur Rechten. Jede hat ein Knie der Gebärenden zu halten. Ein sterilisiertes Tuch kommt über den Unterleib der Frau.

Eine meiner Hände operiert innen im Leibe der Mutter, die zweite Hand unterstützt, über dem Tuche vorgehend, von außen die innere Aktion.

Stets müssen beide Hände einander in die Hände arbeiten. Keine darf isoliert vorgehen.

Die Wendung aus der Querlage auf den Steiß des Kindes, durch derartig kombinierte Handgriffe erzielt, stellt den letzten Versuch dar zur Herstellung der normalen Längslage.

Mißlingt er, ist die Frau verloren.

Aber ich war meiner Sache sicher. Ich hatte noch Selbstbewußtsein genug, um mir diese in ihren Grundzügen doch sehr einfache Operation, die ich in der Klinik mehr als einmal ausgeführt hatte, praktisch zuzutrauen.

Mit welcher Hand sollte ich wenden, das heißt, mit welcher Hand sollte ich in den Leib der Mutter hineingehen, der rechten oder der linken? Welche sollte von außen assistieren? Meine beste Hand war die rechte. Meines verewigten Freundes Walter beste Hand war die linke. Er hätte an meiner Stelle die linke vorgezogen, so wie ich die rechte von vornherein begünstigte. Aber darauf kommt es in der operativen Geburtshilfe nicht an. Man wendet immer mit der Hand, welche jener Mutterseite entspricht, wo die Füßchen des Kindes liegen. Bei erster Querlage (Kopf des Kindes rechts, Steiß links) mit der rechten. Diese Lage, die man die erste Position Querlage nennt und die bei der Witwe meines verstorbenen Freundes vorlag, mußte ich also mit der rechten Hand innen eingehen.

Ich trat, ohne mir die triefenden Hände abzutrocknen, um die Hand nur ja keimfrei zu erhalten, an das Bett.

Die Frau, unten auf frische Tücher gelagert, atmete bereits in der Narkose. Gut. March zählte getreulich die Atmung, die regelmäßig, wenn auch etwas beschleunigt war. Ich legte mein Ohr über den Leib der Mutter, ohne den Körper der Frau mit meinen Ohrmuscheln zu berühren. Ich wollte vor Beginn des Eingriffes wissen, wie die Herztöne des Kindes waren. Ich war feinhörig und bildete mir ein, ich könnte es auch ohne unmittelbares Anlegen meines Ohres herausbringen.

Aber ich hatte nicht mit dem donnerartigen Prasseln einer über dem Hügel und dem Hause niederschlagenden, neuen schweren Gewitterböe gerechnet, die das ganze Gebäude bis zu den Pfosten der Betten, auf denen die Frau lag, in seinen Grundfesten erschütterte.

Aber es war auch einerlei. Die Wendung mußte unternommen, die normale Lage mußte hergestellt werden.

Also los und kein Schwanken mehr.

Ruhe, Selbstbeherrschung, logisches Denken, präzise Bewegungen, stets das Höchstmaß an Energie, aber zugleich auch das allerhöchste Maß von Zartheit und Schonung. Aufgepaßt! Ruhig! Nicht eine brüske Bewegung. Nicht ein unüberlegter Griff!

Die Tücher lagen endlich alle richtig, die beiden Helferinnen standen um mich und taten, was sie sollten. Die Frau atmete tief und regelmäßig. March zählte seine Zahlen bis nahe an hundert, da er glaubte, jeden Atemzug numerieren zu müssen.

Ich ließ ihn dabei, es war nicht Zeit, ihn lang und breit zu belehren. Außerdem hatte ich auf diese Weise einen Anhaltspunkt für die Dauer des Eingriffes, den man nach Tunlichkeit auf äußerste Kürze einschränken mußte.

Ich holte ordentlich tief Luft, zog den Kopf zwischen meinen Schultern heraus, wohin er sich geduckt hatte, eine Folge der krampfhaften Anspannung aller Willenskräfte, wie er bei vielen operierenden Ärzten jedem größeren Eingriff vorangeht. Als ich aber die rechte Hand vorstreckte und die linke sanft über das glatte, kühle, feuchte Tuch über dem Leib der Frau gleiten ließ, verließ mich glücklicherweise der letzte Rest der krankhaften Erregung. Ich war klar wie in meinen ruhigsten Stunden.

Ich schmiegte die vier Finger der rechten Hand möglichst fest aneinander und drückte den Daumen in die Hohlhand hinein, um so mit meiner Hand den allerkleinsten Raum einzunehmen. Dann glitt ich vorsichtig tastend, die Fingerspitzen voran, in das warme, weiche, sich wieder eng an meine Haut anschmiegende Fleisch ein und gelangte in das Innere der Gebärmutter, das heißt, an die Übergangssphäre, welche die äußeren Geschlechtsteile von den inneren trennt. Die Gebärmutter, in einer plötzlichen Wehe, schnappte nach mir wie ein Fisch nach einem Brocken. Dann ließ die Spannung nach. Schon tastete ich hier zu meiner Beruhigung das, was ich zu tasten erwartet hatte; eine breite, glatte Fläche mit einer rautenartigen Erhebung in der Mitte, also wohl den Rücken des Kindes mit der Wirbelsäule.

Das Licht über meinem tief hinabgebeugten Kopf flackerte, es setzte sekundenweise aus. Es störte mich nicht.

Die Ausführung einer Operation, die man technisch beherrscht, gewährt ein Glücksgefühl, wie es ein Sportsmann bei einem Rekord hat. Es ist ein unruhiges, aber sehr intensives Glück.

Aber jetzt wurde ich unsicher, hielt inne. Ich schreckte auf. Die Zahlen, die der getreue March aufzählte, fielen immer langsamer und zögernd von seinen Lippen, plötzlich kreischte er auf: »Sie stirbt! Sie stirbt!« In Blitzesschnelle nahm ich meine Hand aus dem Leibe der Frau und rannte um die zwei nebeneinandergestellten Betten, dorthin, wo der Kopf der Frau lag, riß die von Speichel und Chloroformmischung benetzte Narkosemaske mit der linken Hand fort und sah, was war.

Die Frau war nicht im Sterben. Im Gegenteil, sie war vor dem Erwachen. Daher die Atemstockung, die Pulsbeschleunigung. Ihr Blick, den sie aus ihren großen, rötlich injizierten Augen, die geschwollenen, samtartigen Lider plötzlich hebend, auf mich richtete, war der des wiederkehrenden Bewußtseins. »Weiter! Weiter! Noch!« rief ich March leise, aber sehr eindringlich zu. Ruhe! Ruhe! In meine alte Position eilte ich sofort wieder zurück. »Gib ihr! Noch ein paar Minuten! Und wir haben es in Ordnung! Los!«


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