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XI

Was sollen die alten Erinnerungen? Sie bedrängen mich. Zum erstenmal seit langer Zeit. Am liebsten würde ich die Besiegung der Ratten erzählen. Aber dazu ist nicht mehr genug Zeit.

Jetzt ist die Reihe an meinem Gefährten und mir. Wir müssen auf das Schiff. Auch hier, wie bei allem auf der Welt, gibt es nur eine praktische Methode. Ich habe sie den anderen sorgfältig beobachtend abgesehen, während die meisten Gefangenen hungergeplagt im Ponton wie hypnotisiert auf die Möwen starrten, die den Abfall aus dem Schiffe fraßen. Es gibt viele Gefangene, aus deren Augen ein brennendes Hungergefühl spricht – im wahrsten Sinne des Wortes. Nicht einmal den Abfall gönnen sie den Tieren.

Ich habe, während ich an meinen Vater und La Forest dachte, die praktische, die ungefährliche Methode begriffen, wie man am besten an der Schiffsleiter emporklettert: wie man das Straucheln vermeidet. Straucheln hieße fallen und fallen hieße untergehen. – Oder glaubt jemand, daß man zwei in den Wellen mit dem Tode ringenden Sträflingen Rettungsringe zuwerfen, daß man ihretwegen ein Boot herablassen würde? Ich fürchte, so weit ist die Behörde nicht interessiert an unserer Vollzähligkeit.

Aber bei mir kommt es sicher nicht dazu. Flinker als Eichhörnchen werden wir zwei hinaufkommen. Der Mann, der die rechte Hand frei hat (also ich) klettert voran, mit der rechten Hand hält er sich am rechten Seil fest, mit dem linken Fuß zieht er sich von der Bordleiste des Pontons aus auf die erste Querstange. Die Habseligkeiten trägt er zwischen dem linken Arm und der linken Hüfte angepreßt. Sein Blick ist nicht nach abwärts, sondern auf die nächsthöhere Sprosse gerichtet, immer strebend bemüht, damit ihm nicht jemand, der weiter oben ist, mit dem Fuße auf die Hand trete. Schräg unter ihm mit zwei, drei Quersprossen Distanz folgt der Gefährte, der alles in umgekehrter Reihenfolge tut und der ja nicht zu sehr an dem fremden Menschenarm zerren möge, der mit dem seinen durch die Stahlfessel verbunden ist.

Muß man das so pedantisch festlegen? So versuche doch der Leser dieser Zeilen sich mit seinem Bruder, Freund oder seinem Vater durch eine improvisierte Handfessel zu verbinden und mit ihm gemeinsam nur eine Tapezierleiter emporzusteigen, die gar nicht einmal wie unsere Leiter schlüpfrig zu sein braucht, die nicht hin und her schwankt und in der Abenddämmerung fast unsichtbar ist. Dann denke er daran, daß die Gelenke von Gefangenen durch die lange Haft eingerostet sind, daß jeder sein ganzes Reisegepäck mit sich führt, Decken und Säcke, alles, was einer für das Leben drüben für unbedingt nötig hält und wovon er sich auch unter Lebensgefahr nicht freiwillig trennen will.

Jetzt klettern wir empor. Sind es fünf oder fünfzig Sprossen, man zählt sie nicht, immer weiter in der Tiefe versinkt der Ponton mit den Gefangenen, die mit fahlen Gesichtern nach oben starren. In der Mitte des Weges empfinde ich einen zuckenden, zerrenden Schmerz in dem linken Handgelenk. Was ist los? Mein Rock ist mit dem Rande des rauhhaarigen Stoffes in den Fesselring geraten und scheuert die Haut wund. Stehen bleiben? In Ruhe den Schaden ordnen? Unmöglich, da von unten einer nach dem anderen nachdrängt! Und wie mit der rechten Hand das Stück des widerspenstigen Ärmels zurückschieben? Wenn man die rechte Hand dazu braucht, um Halt am Seil zu finden? Mein Gefährte könnte es mit Leichtigkeit in Ordnung bringen – nicht nur um meinet –, auch um seinetwillen, denn wenn ich stürze, reiße ich ihn mit. Schon erledigt! Hat er das bedacht? Oder tat er alles aus Erbarmen? Als Dank für meine Samariterdienste auf dem Platze? Er faßt im gleichen Augenblick mit seiner linken Hand zu und macht mich sachte frei, während er sich mit den Knieen fester um die Strickleiter klammert. Denn mit der rechten Hand hat er sein Gepäck festzuhalten.

Endlich kriechen wir, mit den Knien uns anstemmend, mit den Händen am Deckgeländer Halt suchend, atemlos, schweißbedeckt auf Deck. Ein Unteroffizier steht da, der uns endlich, endlich die Handfesseln abnimmt und sie, eine nach der anderen, abgezählt in einen Korb wirft.

Was tun die Menschen mit den nun freien Händen? Man glaubt es nicht! Viele schlagen ein Kreuz.

Der Ponton hat allmählich seine Ladung gelöscht. Er stößt ab. Er holt den Rest der Sträflinge vom Hafenplatz. Die Ruder tauchen taktförmig ein. So regelmäßig zieht er seine Bahn, als gleite ein Kinderspielzeug, etwa eine hölzerne Ente, auf vier Rollen über das glatte Parkett eines Kinderzimmers, abends, vor dem Schlafengehen, wenn das Nachtgebet von dem frommen Vater vorgesprochen ist.

Die Gefangenen dürfen noch nicht schlafen. Sie warten weiter. Die meisten kauen etwas. Sie schmatzen und rülpsen mächtig. Aber sie kommen zu keiner Sättigung. Sättigung jeder Art läßt tief und langsam atmen. Diese aber atmen schnell und oberflächlich, wie gejagte öder jagende Hunde. Auch das Gefühl eines gesättigten Wanstes ist eine Art Frieden. Hier ist kein Frieden.

Es riecht nicht gut. In das herbe Aroma des offenen Meeres, wie es mit dem Dufte von Tang und dem Geschmack von Salz von der Seeseite kommt, mischt sich der warme Dunst von Schmieröl, der von den Maschinen des Schiffes empordringt. Aber dann gibt es noch ein Aroma, das noch tiefer herkommt, vielleicht aus den ungesäuberten Kasematten unten im Schiff, dorther, wo früher die Pferche für das transportierte Vieh sich befanden. Es ist ein Mischmasch von Moder, Muff, Abtritt, nein, es ist nichts anderes als der richtige, scharfe, ranzige, abgestandene Rattengeruch, wie ihn alte, verkommene Gefängnisse und Asyle haben und wie ihn, jetzt erkenne ich es wieder, mein geliebtes Vaterhaus hatte, obwohl dies kein überfülltes Massenquartier für Schwerverbrecher, sondern eine weitläufige Villa am Rande der Stadt war, in der Nähe eines träge fließenden Flusses, an welchen unser alter Garten grenzte.

Nur diesen einen Fehler hätte dieses Heimathaus meiner Jugend, daß sich die Ratten in ihm wohler fühlten als die Menschen. Ratten hatten, ich sagte es schon, in dem Leben meines Vaters eine große Rolle gespielt. Deshalb hat er die widerlichen Tiere (ihm widerlich, seiner Frau noch mehr und uns Kindern am meisten) solange in seiner Nähe haben wollen, bis er sich an ihresgleichen gerächt hatte. Es gelang. Spät, aber doch! Ich wurde erwachsen an dem gleichen Tage. Hat es sich gelohnt? Ich frage nicht. Ich blicke meinen Gefährten an. Sollte er mir ein Kamerad werden in den kommenden Zeiten, ein Ersatz für den Bruder, der tot ist für mich? Ich spreche nicht. Mein Gefährte spricht nicht. Zwei Schweiger sind aneinander geraten.

Die Nacht ist sternenklar. Sehr kühl. Die meisten haben auf Deck ihre Decken und Mäntel abgeschnallt und sich diese so eng wie möglich um ihre Glieder geschlungen, oft sogar kapuzenartig über die Köpfe gezogen. Bloß die Augen, und was für Augen! lugen unter den Kapuzen der sonderbaren Mönche hervor. Aber jeder tut es nur für sich. Sie gesellen sich jetzt nicht zueinander. Und doch hätten zwei Menschen, die sich gemeinsam in zwei Decken einhüllen, eng aneinandergeschmiegt, es doppelt so warm. So aber hört man viel Zähneklappern.

Das Abendessen kommt nicht. Viele murren, schimpfen wutentbrannt in den rohesten Ausdrücken. Aber bloß des Rumorens wegen wetzen sie die Mäuler. Denn, kommt ein Unteroffizier in die Nähe, dann verstummen sie feige und ducken den Kopf zwischen die emporgezogenen Schultern.

Eine Laterne gleitet, sich ruhig im Wasser spiegelnd, vom Hafen zu uns: die Positionslaterne des Pontons mit den letzten Nachzüglern. Es heißt übrigens, daß die »Mimosa« noch eine Zwischenlandung ausführen und neue Gefangene aufnehmen wird. Jetzt erscheinen die Männer an Bord, einer schleppt einen nassen Mantel nach, der eine feuchte Spur auf den Planken hinterläßt, als wäre es Blut. Sanft halten er und sein Gefährte, zwei alte vertrocknete Männlein, ihre mageren Handgelenke den Unteroffizieren hin, damit man sie entkette. Und was beginnen sie dann? Mit der freien Hand faßt sich der ältere, eine mumienhafte, gelbgesichtige Gestalt, unter das Hemd, als wolle er Flöhe fangen. Aber bloß einen Rosenkranz holt er hervor, der ihm auf der zottigen Brust hängt. Er betet, mit den schlaffen Lippen mummelnd, einen Rosenkranz nach dem anderen ab.

Moskitos summen. Eine Azetylenlaterne zischt auf, und die Maschinen im Raum beginnen zu arbeiten.


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