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XVII

Ich will versuchen zu schildern, was in mir vorging, und ich weiß doch, daß ich es nicht kann. Es muß irgendwie mit dem Hinscheiden meiner Frau zusammenhängen, denn auch dieses habe ich nicht beschreiben können. Was an Wollust in mir war, war zugleich Abscheu. Beides ging wild durcheinander. Mein Vater hielt meine Hand, und ich riß an ihr. Fast ebenso, wie ich vor einigen Stunden auf dem Hafenplatz der südlichen Stadt an der Hand meines Nachbarn gerissen habe. Er redete mir gut zu. »Während deine Altersgenossen dumme Bengel sind, bist du schon ein Mann. Wenn sie Männer sein werden, wirst du so weit vor ihnen voraus sein, daß ...« Er vollendete seinen Satz nicht. Er mußte mich stützen, ich wand mich wie in Krämpfen, ich hielt ohne zu wollen, meinen Atem in der Brust zurück, mein Gesicht wurde heiß und schwer, in mir regte es sich, und plötzlich schoß die feuchte, warme Nachtluft mir in einem zischenden Zuge tief in die zentnerschwere, enge Brust, etwas löste sich und mit dem furchtbarsten aller Schrecken merkte ich, wie meine Zähne knirschten ... Sie knirschten genauso, wie die Zähne meines Vaters knirschten, der auf diese Weise in einem halben Jahre eine kostbare Goldkrone auf einem seiner Backenzähne zerknirscht hatte und zu seiner Wut den teuren Zahnarzt doppelt bezahlen mußte. Aber ein Knabe hat ja starke Zähne, gesunde. Damals hatte ich sie noch.

Ich trat zurück an die Wand des Hauses, ich ballte die Fäuste, mit der linken Hand schlug ich wie ein Irrer gegen die Mauer, mit der rechten hieb ich gegen die neue Regentonne, in der das Wasser gluckste.

Mein Vater stand ruhig neben mir und hatte aus Sparsamkeit das Licht der kleinen elektrischen Birne seiner Taschenlaterne wiederum ausgeknipst. Ich preßte meine Hände jetzt vor die Augen, aber mein Vater löste sie sanft ab – (wie konnte er mit seiner schönen, mageren, aber nicht harten, nur durch einen alten Hundebiß von einer ovalen Narbe verunstalteten Hand einen Menschen liebkosen!) und sagte mir, »du sollst dich nicht blind stellen. Und wenn ich dir nichts vererbe außer meiner Erziehung, muß aus dir ein glücklicher und großer Mensch werden. Man wird dich vielleicht manchmal hassen, aber nie über dich lachen. Was gibt es mehr? Lache du über andere! Hätte mein Vater mich so erzogen wie ich dich, dann wäre meine Expedition geglückt, und ich wäre einer der größten Entdecker meiner Zeit. Also: Tu die Augen auf und sieh! Du glaubst an die Allmacht der Gefühle. Ich glaube an die Allmacht der Freßgier. Liebe regiert die Welt – oder Geld regiert die Welt? Wollen wir wetten? Ich setze tausend Dukaten wie ein Märchenkönig, und du brauchst bloß das vertrocknete Butterbrot zu setzen, das du in der Tasche herumschleppst.«

Das war richtig. Ich hatte meine zwei belegten Frühstücksbrötchen, in Papier gewickelt heute wie an jedem Schulmorgen, mitgenommen. Es hatte die feierliche Verteilung der Zensuren stattgefunden, aber kein Unterricht. Ich zog die Brote aus der Tasche und gab sie ihm. »Gut!« sagte er. »Das ist dein Einsatz. Ich stehe dir gut für den meinen, denn soviel Geld habe ich nicht bei mir.« Gut! Er knipste seine Taschenlaterne wieder an, schwenkte das eine Weißbrötchen in der Luft und ließ es in die Grube hinabfallen.

Noch waren die Tiere miteinander nach ihrer Art vereinigt, wie sich eben Ratten im Geschlechtskampf vereinigen. Mir war ihr Haß gegeneinander nichts Neues gewesen. Den hatte ich schon studiert. Neu war mir das andere gewesen, ihre tierische Liebe. Vor einigen Minuten hatte ich erst begriffen, was sich die »dummen Bengels« im Schulhofe oder auf den Klosetts zuflüsterten und wovon ich mich in meinem törichten Stolz immer trotz aller Wissensbegierde abgewandt hatte. Ich hatte auch über die Liebe der Menschen nicht aufgeklärt sein wollen. Diese »liebenden Herzen« waren mir aber jetzt in einer schauerlichen, abschreckenden, naturwissenschaftlich nackten und brutalen Gestalt aufgegangen. Nicht bei Romeo und Julia, sondern bei Ratte und Rattin. Einerlei, aufgegangen war sie mir. Ich hatte sie erfaßt. Aber nicht fassen konnte ich armseliger dummer Junge das, was jetzt kam, den Kampf der (eben noch) »liebenden Herzen« um den erbärmlichen, vertrockneten Bissen Brot. Das Zerfleischen der »liebenden Herzen« in der unbarmherzigen Not des Daseinskampfes. Dieser Kampf wurde zwischen dem starken Weibchen und dem zarten Männlein mit einer Wut, Schnelligkeit und Brutalität geführt, die alles hinter sich ließ, was ich gesehen hatte.

Ich schildere es nicht. Man danke mir, daß ich diese Szene ebenso mit einem Schleier bedecke wie den Tod meiner Frau. Geschenkt! Genug der Greuel in der Welt! wie mein Vater sagte. Aus.

Siegreich blieb das Weibchen. Es schlang das verdreckte Brötchen in einem Bissen hinunter und lugte mit seinen scharfen, glitzernden Äuglein nach oben, wo mein Vater noch das zweite Brötchen festhielt. Noch schrecklicher als alles war der Umstand, daß der männliche Partner von seiner Liebesfeindin nicht einmal getötet worden war. Die arme Bestie blutete, auf der Seite liegend, und konnte sich gegen seine Geliebte nicht wehren. Die Zeit verging. Ich atmete schwer, die Kehle wurde mir eng. Mein Vater atmete ruhig, auch das Weibchen unten war still. Ich dachte endlich, alles sei aus, als ein leiser und doch so markerschütternder Laut erscholl, daß ich – ich weiß nicht, ich weiß nicht mehr, was jetzt geschah. Ich sah nichts und hörte nichts. Ich glaube, mein Vater hat mich später auf seinen Armen in die Bibliothek getragen und hat gewartet, bis ich frisch und munter erwachte. Er hatte, als ich die Augen aufschlug, den großen Atlas von Andrée in der Hand und zog, wie schon oft, mit der Spitze seines Kleinfingernagels die Route (auf der Karte: Polargegend – Arktis) nach, die er auf seinem Schiff vor Jahr und Tag in die Nordgewässer unternommen hatte. Ich stand auf, sagte ihm gute Nacht und er antwortete: gute Nacht. Ich verbrachte diese Nacht nicht schlaflos. Ich schlief wie ein Toter.

Ich war jetzt der Mensch geworden, der das tun konnte, was ich getan habe und was mich auf dieses Sträflingsschiff gebracht hat. Ich träumte nicht mehr. Wie Hamlet hatte mein Vater mich erweckt. Ist nicht auch Hamlet ein Mörder? Er tötet »nur« Polonius, er tötet den zudringlichen Vater seiner Geliebten wie zum Spaß, spießt ihn wie eine alte, kluge, aber doch nicht genügend kluge und erfahrene Ratte auf, hinter einer Tapete, um zu hören, wie sie aufquiekt. Und er war doch Hamlet!

Der Rattenkampf bei uns ging gut vorwärts.

Eines Tages rafften sich die Tiere auf, sie hatten sich untereinander endlich verständigt. Sie folgten der Versuchung nicht mehr, sondern verließen ihre Heimat, den Hof, den Garten, das Haus. Nachts müssen sie sich in einem Zuge auf dem Flusse weiterbegeben haben. Viel weiter flußabwärts sollten Rattenzüge aufgetaucht sein, ob es »unsere« waren, ist sehr die Frage, denn das Wandern ist nun einmal ihre Lust. Neben anderen Lüsten.

Wie viele hier bei uns sich gegenseitig gemordet hatten, konnte man nicht ermessen. Man hatte zwar angefangen zu zählen, war aber dessen bald müde geworden. Mit Schaufeln hatte man die Überreste der Tiere Tag für Tag herausgeholt, bis plötzlich keine mehr da waren. Diese sterblichen Überreste kamen mit der Schaufel zusammen in ein zu diesem Zweck gegrabenes Loch unweit des Springbrunnens und ergaben einen sehr guten Dünger. Denn über dieser Erdgrube wuchsen im nächsten Frühjahr Blumen, wie man sie in solcher Pracht, Fülle und Schönheit der Farben in dem sonst etwas dürftigen und allzu schattigen Garten nie gesehen hatte.

Mein Vater zeigte denn auch dieses Wunderbeet mit besonderem Stolz dem Käufer unseres Hauses. Da das Grundstück rattenfrei geworden war, war natürlich sein Wert bedeutend gestiegen, und mein Vater meinte, es sei Übermut, ein so riesiges, wertvolles Haus von nur vier Personen (ihm, meinen beiden Geschwistern und mir) bewohnen zu lassen. Er verkaufte es um den dreifachen Bettag dessen, was es ihn gekostet hatte. »Hat sich die Speckseite nicht gelohnt?« sagte er mit einer Anspielung auf die schöne Speckseite, aus der er eigenhändig ein zwei Fäuste großes Stück herausgeschnitten hatte. »Außerdem habe ich meine Wette gewonnen. Hab ich das, mein geliebter, großer, dummer Junge?« fragte er und fuhr mir mit seiner mageren, trockenen, narbengeschmückten Hand durch mein je nach dem Wetter sprödes oder weiches Haar... Ja, mein Junge! Ich war nicht mehr jung.

Er hatte übrigens auch die Kacheln aus der Grube wieder verwendet. Sie wurden mit Seife und Soda gereinigt, und mit Hilfe des Gärtners baute er in dem früheren Schlafzimmer meiner Mutter den Ofen wieder auf. Nur etwas kleiner als früher, da sich einige Kacheln, nämlich die zerbrochenen Stücke, nicht mehr verwenden ließen. So war in dem alten Ofen eine Bratröhre eingebaut gewesen, in der man Äpfel und Kastanien braten konnte. In dem neuen Ofen konnte man dies nicht mehr ...

Aber der neue Besitzer des Hauses hatte keine Kinder.


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