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XVII

Ich konnte mich in die Lage unseres Mitarbeiters Walter um so eher einfühlen, als ich ja meine Erlebnisse mit meiner Frau nach dieser Richtung noch klar in Erinnerung hatte. Denn gerade zu dieser Zeit beschäftigte mich eine unsinnige, aber nichtsdestoweniger sehr intensive Gedankenkette, die sich teils um meine verstorbene Frau und meinen alten Vater, teils um die verstorbene Portugiesin drehte. Was aus diesen Menschen geworden wäre, wenn ... Wer kennt nicht diese lästigen Gedankengänge, die sich von dem armen gemarterten Herzen und Gehirn nicht lösen wollen, man mag sich noch so sehr anstrengen? So lösen sich auch im stärksten Herbststurm nicht die spinnwebeartigen Behänge, die man in poetisierenden Ländern Altweibersommer nennt, von den Haaren eines wandernden Menschen und von seinen, vom Herbstwind durchwehten Kleidern. Freiwillig lösen sie sich nicht. Man muß milde Gewalt anwenden. Aber wie und wo gibt es milde Gewalt gegenüber schauerlichen Erinnerungen?

Die Liebe und Treue des guten March waren mir nur ein schwacher Trost. Hätte er wenigstens ganz auf Gegenliebe verzichten können, hätte er alles mir überlassen, hätte er sich leicht, statt schwer gemacht, – was hätte alles passieren können. So aber passierte nur das eine, daß ich ihm zum tausendunderstenmal klarzumachen versuchte, daß ich jetzt weniger denn je sein unsinniges Gefühl erwidern könne. Und warum, fragte er naiv. Was sollte man darauf antworten? Nur ihm übers Haar streichen und über seine Schulter fortsehen.

Aber ebenso quälend und ebenso lähmend war für Walter die Liebe seiner guten Frau, dieser mustergültigen, normalen Frau und Mutter, die ihren Mann für sich und ihre Kinder zurückhaben wollte. Die Entsendung des schönen Mannes, des Subagenten, blieb nicht ihr letzter Versuch. Sie packte ihren Mann an einer anderen Stelle, an der er viel empfindlicher war als an seinen materiellen Interessen, die bei diesem vollkommenen Altruisten nur anderen Menschen zugute kamen. Geld blieb nur Geld für ihn. Von wieviel Prozent der europäischen Menschheit läßt sich dies sagen, bei der Geld absolut als göttlicher Lebenswert angebetet wird?

Die Gespräche am Telephon wurden jetzt nur sehr kurz. Die Dame gab an, sie wolle ihren Herrn und Gebieter nicht aufhalten, sie sei viel zu gering, zu klein, zu unbedeutend, viel zu sehr ein Aschenputtel, um ihren Mann bei seinem wichtigen, segensreichen und erfolgversprechenden, weltbewegenden Werk stören zu dürfen. So billig diese Ironie war, so verletzte sie doch den Doktor sowohl in seinem Stolz als in seiner Neigung zu der Frau. Aber er war, wenn er auch auf den ersten Blick weich und rücksichtsvoll erschien, doch ein Mensch von unbeugsamem Charakter, der genau wußte, was er wollte und es auch bis an die Grenze des Möglichen durchführte.

Grenze des Möglichen? Nur nach Möglichkeit? Hier setzte die Frau an, die sich geradezu teuflischer Mittel bediente, um ihren Mann von seinen hirnrissigen, zeitraubenden, lebensgefährlichen Experimenten abzuhalten. So verlangte sie dieser Tage ganz ruhig und sogar mit einer Art fröhlicher Gefaßtheit ihren Paß. Ihren Paß? Sie hatte niemals einen besessen. Es gab nur einen Paß, und zwar den, der auf den Namen des Doktors Walter, dessen Frau Alix Rosamunde Gabriele Therese und auf den der fünf Kinder ausgestellt war. Ja, eben dieses Dokument wünschte die Frau. Sie drohte nicht mehr mit Scheidung, nicht mit Selbstmord, sie gab an, daß sie und ihre (ihre!!) Kinder sich dem mörderischen Klima, das für Galeerensträflinge gerade gut genug sei, nicht gewachsen fühlten, daß sie zu ihrer Mutter und ihrem Bruder, die das alte Eisenwarengeschäft des vor drei Jahren verstorbenen Vaters so recht und schlecht weiterführten, übersiedeln wolle. Er, ihr Mann, solle sich keine Sorgen machen, er würde auf dem laufenden gehalten werden und könne dann in aller Seelenruhe seine humanen Forschungen zu Ende führen.

Man kann sich denken, daß der gute Doktor, in seinem Innersten getroffen, keine schlagfertige Antwort darauf gab. Dieser Ton, so ruhig, so gefaßt, so genau berechnend, stach ganz und gar von der gewohnten vehementen Art seiner Gattin ab, gegen die allein er abgehärtet war. Der Plan stammte denn auch nicht aus ihrem Affengehirn, sondern aus dem Gehirn des Subagenten, der ein besserer Menschenkenner war, als der Doktor zuerst angenommen hatte. Übrigens war von ihm kaum die Rede, bloß, daß die Gattin so hinwarf, der Doktor solle sich um die wirtschaftliche Lage seiner Familie keine unnötigen Gedanken mehr machen, der Subagent habe ihr die schwersten Haushaltssorgen abgenommen, besorge alles für sie und die Kinder, denn sie selbst sei mit der Vorbereitung zur Übersiedlung nach London vollauf beschäftigt. Und Schluß. Rrrr – und fort! Der gute Walter war so verblüfft, daß er (vor dem Telephonapparat) förmlich zusammensackte und dann stumm mit verbissenem Gesicht vor dem Mikroskop saß. Es war das Mikroskop letzter Konstruktion mit den zwei Okularen, in welchem zwei Menschen gleichzeitig das gleiche Gesichtsfeld durchforschen und beobachten konnten. Der Generalarzt hatte es aus Europa mitgebracht und Walter hatte dem guten Carolus mehr als ein schönes (aber uninteressantes) Bazillenpräparat an diesem prachtvollen Gerät demonstriert.

Auch jetzt trat der lange, schlaksige, dürre Carolus auf Walter zu, faßte ihn leicht an der Schulter an und stütze sich auf diese, um neben ihm einen Blick in das Gesichtsfeld zu werfen. Aber Walter ertrug die Berührung nicht, oder er war zu apathisch. Er stand auf und überließ das Mikroskop mit dem Doppelokular dem Carolus allein, der nichts damit anzufangen wußte. Aber Carolus hatte mehr Takt, als ich diesem monumentalen Ochsen (?) zugetraut hätte. Er fragte nicht und hielt auch March ab, irgendeine Frage an den armen Gatten und Vater zu richten, der sich erst spät am Abend faßte, nachdem er am Nachmittag mit dem ehrenwerten Amen-Mann eine Partie Puff-Puff gespielt und mit Glanz verloren hatte. Denn seine Gedanken waren weit fort.

Dieser arme Märtyrer sollte am langsamen Feuer geröstet werden. Für ihn mochte die unselige Telephonzelle ein ähnlich qualvoller Aufenthalt sein wie die berüchtigten Dunstkammern an Bord der »Mimosa«, in welche der gute March zum Lohn für seine treue Liebe eingesperrt worden war, um im eigenen Dunst geschmort zu werden. Es kam nämlich nun noch ein Anruf, und dieses Telephongespräch war von lakonischer Kürze. Wir hörten bloß einen erstaunten Ausruf des Doktors und darauf die drei Worte der Gattin: Ich weiß es. Darauf hielt der gute Walter den Hörer entgeistert in der linken Hand, die Tür der Zelle hatte er mit der anderen geöffnet und starrte uns alle an. Ich weiß es? Was wußte die Frau? Wir sahen fort. Wir schämten uns für sie. Es konnte nur ein Geheimnis sein, das die Frauen ihren Männern mit solchem Aplomb ins Ohr flüstern – man hat es längst erraten. Ein süßes Geheimnis.

Jetzt war alles sonnenklar. Ultimatum. Entweder sofortiges Aufgeben der Experimente und Forschungen, Aufbruch von der verseuchten Insel mit ihrem besonders für hoffende Frauen weißer Rasse verhängnisvollen Klima und Rückkehr in gemäßigte Zonen – oder unabsehbare Folgen. Unabsehbar? Eigentlich nein. Man konnte genau vorhersehen, was kam.

Den Schauplatz seiner Tätigkeit bloß mit den bisher so ganz negativen Resultaten verlassen, die nicht einmal so viel Raum in den gelehrten Zeitschriften der allgemeinen Pathologie würden füllen können, wie die Resultate der merkwürdigen Nordpolexpedition von Georg Letham dem älteren in den gelehrten Journalen der beschreibenden Erdkunde, – abgehen und der zweiten Kommission das Forschungsgebiet überlassen – das war der eine Weg. Und der andere? Gab es überhaupt noch einen? Hatte man denn noch etwas unversucht gelassen?

Ruhelos trieb sich Walter zwischen den Mikroskopen, den zwei Brutschränken, den Flaschen und Gläsern mit Untersuchungsmaterial umher. Er brachte die Bücherreihen, die der treffliche Carolus nun schon prächtig zu ordnen gelernt hatte, (bloß ein winziges Ohrlöffelchen aus gelblichem, rahmfarbenem Horn ragte an einer Stelle aus der Enzyklopädie der gesamten Bakteriologie hervor), in Unordnung. Er, Walter, schlug die Protokolle auf und die Augen nieder, er wandelte in seinem weiten, unordentlichen, flatternden Mantel mit ausgebreiteten Armen wie ein zweifelnder Priester zwischen den Käfigen mit dem lebenden (nur viel zu lebenslustigen und gesundheitlich unversehrten) Tiermaterial umher, und es war sehr ergreifend, wie er einen Hund, der ihn eines Morgens besonders mitleiderweckend angebellt hatte, abends aus dem Kotter herausließ und mit ihm im Spitalsgarten umherging, immer noch mit den Händen gestikulierend und stumme Zwiesprache mit seiner Gattin oder mit dem Schicksal haltend. Der Hund bellte, sprang und freute sich.

Der Magister v. F. war schon lange nicht bei uns gewesen. Noch sehe ich das von Entsetzen verzerrte Gesicht des Walter vor mir, als dieser Tage die Telephonklingel wiederum schrillte. Aber es war nur blinder Alarm. Magister v. F. versprach zu kommen, womöglich an diesem Abend, mit einer wichtigen Neuigkeit, sonst am nächsten Morgen.

Es sollte der nächste Morgen werden und vielleicht war das gut so. Denn an diesem Abend war Walter völlig erledigt, (es mußte doch wieder eines dieser infernalischen Telephongespräche stattgefunden haben, ich weiß es nicht), er war unzugänglich für Vernunft und Logik. Er hätte wahrscheinlich den Entschluß gefaßt, die Untersuchung abzubrechen und in den Kreis der Familie und in das bürgerliche, geordnete Leben wiederzukehren, uns aber zu verlassen. Hatte es ihm doch seine Frau besonders zum Vorwurf gemacht, daß er die Gesellschaft »erklärter Mörder und Banditen« aus freiem Antrieb, oder besser gesagt, aus Herzlosigkeit der »treu sorgenden Wärme« seiner »liebenden Herzen« vorzöge. Was tun Menschen nicht alles aus Liebe?


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