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Mein Patient, der Typhuskranke, ist glücklicherweise auf dem Wege zur Besserung, und auch der Generalarzt ist mir gnädig. Wieder einmal richtet er aus den Tiefen seiner engen Beamtenbrust das Wort an mich. Und was sagt er? Dankt er mir für meinen Eifer? Bedauert er mich? Wundert er sich, daß ein Mensch meiner Herkunft, meines (seines) Standes nichts anderes ist als ein rechtskräftig verurteilter Verbrecher? Oder sieht der brave Mann mit der Hornbrille gar voraus in die Zukunft und möchte kameradschaftlich die Maßnahmen besprechen, die er in Bälde drüben zu treffen hat? Nein, von alledem nichts. »Sie verdanken Ihrem Herrn Vater viel.« – Lange Pause. Seine Augenlider heben sich hinter den rauchfarbenen Gläsern, er fixiert mich und sagt nochmals: »Viel verdanken Sie Ihrem Vater.« – Das ist alles, und schon wendet er, der große dürre, sture Kerl, notdürftig bekleidet wie er ist, mir seinen endlos langen, steifen Rücken zu und storcht in seine Kajüte, wo er Bände von Enzyklopädien wälzt, englische, amerikanische, deutsche und französische Broschüren durchstudiert und sich Auszüge aus ihnen anfertigt.

Meine Plage hört aber nicht auf. Endlich kann zwar der Typhusrekonvaleszent, mit seinen knochigen, scharfkantigen, schwarz behaarten Beinen unsicher über den Bettrand steigend, an meiner Hand taumelnd die ersten Schritte unternehmen, endlich nimmt er (und in welch ungeheuren Mengen) wieder feste Nahrung zu sich, ist geistig klar (auf Diebereien bedacht) und hält sich einigermaßen sauber, – da bekommt das Schiffslazarett neuen Zuwachs. Der Mann, der mir bei der Generaluntersuchung durch den Chef aufgefallen ist durch seine großen, fiebrig glühenden Augen und hohlen Wangen, die das ganze Elend der Zuchthausschwindsucht in roten Kreisflecken angesiegelt trugen, ist von einem starken Blutsturz überfallen worden, wie er bei dem Eintritt in sehr heiße Gegenden durch Blutüberfüllung des Lungenkreislaufes bei schwer lungenkranken Menschen keine Seltenheit ist. Es ist ein junger Mensch, noch nicht viel über zwanzig, ein Großstadtkind, ausgekocht, niederträchtig, aber lustig, von unzerstörbarem Humor, »im Himmel ist Jahrmarkt!« – von unbändiger Freude am Leben erfüllt. Liegen? Ruhen? Sich schonen? Stille sein? Wozu? Er treibt sich, seiner ungewohnten Freiheit froh (er hat lange Jahre in Zuchthäusern gesessen und lustig Tüten geklebt), an allen möglichen und unmöglichen Orten der »Mimosa« umher und stört sogar den Frieden von drei Lepraverdächtigen, die abgesondert in einem Lazarettraum für sich hausen, einander die bösen Wunden pflegend und die meiste Zeit im Halbschlaf verdämmernd, und die sich selbst das bißchen Essen bereiten, wunschlos wie ruhende Tiere. Sogar singen hört man sie nachts oder am frühen Morgen. Um so mehr Wünsche hat der Lungenkranke, er läßt mir keine Ruhe, nachts steht er an der Geländerbrüstung und schwärmt das Meer an, während er Zigarettenstummel hinabspuckt, vom Rauch fast erstickt, tagsüber huscht er an den Wachen höflich lächelnd vorbei in die Schiffsküche der Offiziere und erbettelt vom Offiziersküchenchef appetitliche Brocken. Könnte er sie nur verdauen! Aber er behält nichts. Es ist ein Wunder, daß er, von Lungen- und Darmtuberkulose gleichermaßen todgeweiht und deutlichst gezeichnet, überhaupt noch lebt, spricht und sich regt. Wieso brennt denn diese Kerze weiter, an der weder Docht noch Stearin existieren? Einerlei. Sie brennt.

Und dabei ist er noch Mensch, das heißt, er ist eitel. Er hat aus seinen Habseligkeiten sein Rasierzeug (einen verbotenen Besitz) aufgestöbert und will sich schön machen für die Ankunft auf C. Sind dort Frauen? fragt er. Und was für welche!! verspreche ich ihm. Nicht Frauen, Weiber, meint er. Mehr, du armer Hund, als du jemals brauchen kannst. Aber er freut sich dennoch und hofft. Weder in dem Schiffslazarett, noch in der Schiffsapotheke ist ein Spiegel. Aber das kluge Kind weiß sich zu helfen. An jedem Mikroskop ist zum Zwecke der Lichtzufuhr durch Reflexion des Sonnenlichtes unterhalb des Lichtsammlers, des Kondensors, ein drehbarer Spiegel angebracht – und diesen hat der patente Junge sich zurechtgedreht. Der Holzkasten des Mikroskopes war verschlossen, den Schlüssel hatte der Generalarzt. Aber ein so guter Dieb, pfiffe er auch aus dem letzten Loch, weiß sich zu helfen. Ein Endchen Draht, und jedes Schloß öffnet sich ihm. Und da sitzt er, sich beim Schwanken des Schiffes mühsam aufrechthaltend, von Husten geschüttelt und zitternd vor Schwäche, auf dem Laboratoriumsstuhl, blickt sich verliebt mit seinen großen, schönen Augen im Mikroskopspiegel an und macht Toilette. Wer sollte ihn stören? Sogar der Generalarzt übersieht gütig den armen, abgemagerten Narren, der die Tasche seines Sträftlingskittels voller zusammengebettelter Leckerbissen hat. Er trägt sie nur, er, der nichts davon verträgt. Aber er hat sie doch wenigstens.

Er macht auch Musik. Auf einem durch langen Gebrauch bereits zahnlückig gewordenen Kamm aus dem Besitze des Straßenräubers, dem durch den Typhus alle Haare ausgegangen sind, spielt er zirpende, süß summende Gassenhauer, »unter den Brücken« und »Carmencita, du süßeste der Frauen!«, wobei er mit den abgemergelten, in den Holzpantinen schlotternden Füßen den Takt auf den Schiffsbohlen schlägt. Er lächelt, er ist glücklich, friedlich schläft er trotz Hitze, trotz des Hustens, der ihn unaufhörlich plagt. Er hustet und würgt Tag und Nacht, und dabei schläft er wie in Abrahams Schoß.

Kein anderes Lebewesen ist so glücklich wie er auf dem Schiff. Die Offiziere haben das Schießen nach Delphinen aufgegeben, womit sie sich ein paarmal vergnügt haben. Ihre Schiffsköche plagen sich, ihnen Leckerbissen aus Konserven zusammenzustellen, aber sie mögen nichts, sondern hocken nur in der Schiffsmesse mißmutig beieinander, schuriegeln die Mannschaft, meiden die Sträflinge wie die Pest, trinken Whisky, spielen Poker, und ihr Geld macht jeweils die Runde bei allen, den Generalarzt ausgenommen, der nicht spielt, nicht trinkt und sich nicht langweilt.

Die Ochsen oben an Deck sind auch freßunlustig. March, der arme, bemüht sich vergebens, sie zur Annahme von Heu und Wasser zu bewegen. Sie schnaufen nur, brummen unwillig, heben die dicken Schädel, zerren an den festen Ketten, mit denen sie an den Masten und anderen Stangen festgehalten werden. Ich möchte beim Schlachten dabei sein, und aus dem Blut, das fast keimfrei aus dem Tierkörper abströmt, einen Nährboden für eine Bazillenkultur bereiten. Wir haben noch einige Tage Reise vor uns, und ich muß arbeiten, muß mich beschäftigen.

March muß von meiner Bitte an den Proviantmeister erfahren haben. Er, dem Blut ein Greuel ist, hat sich zu dem Dienst des Schlachtens gemeldet. Anderen Verbrechern wäre er ein reiner Genuß gewesen. Denn Blut ist nun einmal Blut.

Und jetzt plagt sich dieser unselige March, dieser ganz verblendete, eben wegen seiner Verblendung mit Recht aus der menschlichen Gesellschaft zu entfernende Mensch mit dem Abtun eines freßunlustigen, ehemaligen Mast-, jetzt nur noch Sträflingsochsen. Bloß, um mir begegnen und in die Augen sehen zu können. Aber ich sehe ihm in seine Augen nicht. Ich halte ein mit Brennspiritus keimfrei gemachtes Blechgefäß vor den ausspritzenden Blutstrom und entferne mich damit ohne Worte, wie ich gekommen bin. Er ist verzweifelt. Was hat er gehofft? Was soll ich ihm sein? Was er mir?

Ich, ein hartes Herz? Nur eines, das endlich der Welt gewachsen ist.

Im Schiffslazarett nehme auch ich, bevor ich das Mikroskop in den Kasten zurückstelle, den Spiegel vor. Er ist eben, herrlich geschliffen auf der einen Seite; konkav, herrlich geschliffen auf der anderen Seite. Präzision ist Präzision. Ich sehe mich an. Warum soll ich es nicht tun? Ich wollte es immer. Nie kam ich in Ruhe dazu.

Ich sehe mich an. Ich sehe mich, wie ich immer war. Ich habe mich nicht geändert. Mein Vater hatte auf seiner Reise nach dem höchsten Norden sicherlich auch Spiegel mit. Auf der Rückreise vom Norden nicht. Daß ich mich, unbewegten Angesichts, in diesem Spiegel sehen kann, ohne Liebe, ohne Haß, ohne Lächeln, ohne Schmerzgrimasse, ohne Hoffnung, ohne Gefühl, habe ich auch dies ihm zu verdanken?


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