Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XV

Aufgabe und Pflicht waren im Fall Dr. Walters nicht unbedingt das gleiche. Was die Aufgabe anlangt, so erschien sie ihm wie uns allen, obwohl wir darüber in der letzten Zeit nicht sprachen, mit den zur Verfügung stehenden Mitteln, das heißt also bei dem derzeitigen Stande der wissenschaftlichen Bakteriologie, als wahrscheinlich unlösbar. Was jedoch die Pflicht betraf, so mußte für uns, ich meine March und mich, dieses große Wort einen ganz anderen Sinn haben als für die beiden unbescholtenen Männer Walter und Carolus. Und auch zwischen ihnen waren die Rollen nicht gleichmäßig verteilt.

Carolus durfte weiterhin bis an sein seliges Ende das tun, was er bis jetzt getan hatte. Es war sein gutes Recht gewesen, Frau, Kind, Enkel und die schöne Bibliothek, die er sich angelegt und die prachtvolle Kakteensammlung, die er sich in unermüdlicher Geduld großgezogen hatte, zu verlassen, um dem ehrenden Rufe des teuren Vaterlandes zu folgen. Hier hatte er sich mit allem löblichen Eifer und Fleiß, wie deren ein Mensch seiner Art nur fähig ist, der Sache angenommen. Erfolg oder nicht, ein ehrenvoller Empfang in der Heimat war ihm sicher.

Er stand dauernd in lebhafter Korrespondenz mit allen gelehrten Gesellschaften der allgemeinen Pathologie, Bakteriologie und Biologie des Inlands und Auslands (March sammelte die Marken für den »kleinwunzigen« Bruder), und er konnte darauf rechnen, bei seiner glückhaften Heimkehr Ehrenmitglied dieser hohen Gesellschaften zu werden. Daß sich auch die oberste Gesundheitsbehörde, das heißt das Ministerium des Innern, bei diesen Ehrungen nicht ausschließen würde, war diesem wackeren Bürger sicher. Er hatte, ohne daß er einen Finger dazu rührte, sogar Orden und Ehrenzeichen zu erwarten. Und schließlich verdiente er diese Gunstbeweise eines großmütigen Staates (wenn es diesen nichts kostet, ist er ja gerne generös) ebensogut wie jeder Büropascha, der sein rundes Lederkissen auf seinem drehbaren Bürostuhl platt sitzt, bis es im Laufe von dreißig Dienstjahren einer Oblate gleicht, nur nicht so wohlduftend wie diese. Aber darauf kommt es bei ersessenem Rang und treuer Kanzleitätigkeit nicht an. Wußte ich doch, mit welcher Verachtung mein Vater von solchen Herren sprach. Er nannte diese Art Menschen Schildkröten und sagte, es gäbe kein Mittel, sie auszurotten. Man mußte sich auf sie setzen und auf ihnen reiten.

Ganz anders war die Lage Walters. Für diesen Mann stand viel mehr auf dem Spiel. Aber er (und sonderbarerweise der niedliche, kleine March) blieben trotz der Ergebnislosigkeit ihrer aufgewandten Mühe immer noch geradezu eisenstirnig bei der Sache.

Walters Leben war nicht leicht. Seine Zweifel waren wie bei jedem hellen Kopfe größer, seine Zuversicht war kleiner als bei einem selbstgewissen Dummkopf. Er vergeudete, so sagte er sich wohl, vielleicht seine Zeit, und sicherlich fehlte es ihm oft an Geld. Der treffliche Carolus arbeitete hauptamtlich, sein Gehalt, um die Tropenzulage vermehrt, lief weiter. Aber Dr. Walters amtliche Stellung war nicht ganz klar, ich habe seinen wirklichen amtlichen Rang (bei der Küstenbatterie »eingeteilt«, aber nicht »zugeteilt« oder umgekehrt) nie richtig begriffen. Unsere Kommission war eine ehrenamtliche. Es gab natürlich Aufwandentschädigungen. Aber ein Walter war zu geldfremd und zu tief in seine Arbeit vergraben, als daß er die kniffligen Berechnungen über entgangenen Verdienst, erhöhte Ausgaben für die Familie etc. zu seinem Vorteil hätte energisch aufnehmen können.

Dabei war ihm der Wert des baren Geldes nicht unbekannt. Wenn jemand, war er sich seiner Verantwortung seiner Gattin gegenüber bewußt, welche jetzt nach über zehn Jahren ungetrübten Eheglücks ihm gegenüber den Standpunkt des exzessiv Praktischen vertrat. Er befand sich daher in allerhand Konflikten, und dabei war es nur der Anfang der Schwierigkeiten. Die »liebenden Herzen«, wenn das schöne Wort erlaubt ist, erschwerten ihm das tägliche Leben ebensosehr, als sie ihm den Schwung und den großen Zug des Gedankens bei seiner Arbeit nahmen.

Was war ich doch für ein Glückspilz! Ich war so geartet, daß mir nichts den Schwung und den großen Zug des Gedankens bei der Arbeit nahm.

Ja, das sah ich jetzt. Ich sah auch etwas anderes. Ich sah die letzten Augenblicke, was sage ich Augenblicke, die letzten Stunden meiner dahingegangenen Geliebten, die in eitel Unrat, Nässe und Schmutz gelegen war. Und ich hatte vor diesem noch lebenden und schluchzenden Leichnam gestanden. Und hatte jedermann und jederweib abgehalten, ihn zu stören.

Keine Gefühlsexkurse! Kehren wir zur Wirklichkeit zurück! Walters Frau hatte nur den einen Wunsch, ihr Gatte möge seinen aussichtslosen Bemühungen endlich ein schnelles Ende setzen. Er sollte mit ihr und den Kindern, die man hier, weitab von aller Kultur, nicht richtig erziehen, ja kaum anständig erhalten konnte, schleunigst zu den Fleischtöpfen der zivilisierten Welt zurückkehren. Gelegenheit zu wissenschaftlicher Betätigung würde er auch als guter, vielbegehrter Praktiker immer in der Heimat finden, nach des Tages Müh und Plage sich bei seinem Mikroskop erholen können, wenn ihm dies lieber war als Bridge zu spielen oder Familienangehörige bei sich zu sehen oder mit seiner Frau über die Dinge des Haushaltes zu plaudern oder über die beste Art, sich billig und doch schön zu kleiden. Sie ließ ihm als kluge, reife Frau und treue Kameradin jede Freiheit bis auf die, von der er jetzt, zu seiner Familie Verderben, wie sie glaubte, Gebrauch machte. Aber Walter war nicht der Mann, bei aller seiner Liebe und Güte gegen seine Laura, der nachgab.

Er stellte sich taub. Seine Frau war es.

So mußte es dahin kommen, daß die Gattin sich am Fernsprecher heiser schrie und daß wir alle wieder Willen Zeugen dieser trivialen Auseinandersetzungen wurden. Walter hielt seine zehn bis zwölf Arbeitsstunden Tag für Tag durch, wenn es sein mußte. Was das heißen will in einem Klima, wo man aus dem Schweiß, dem erstickenden Dunstbad nicht herauskommt und wo man trockene Wäsche, ungestörten Schlaf, gute Verdauung und eine Ruhestunde in kühler Luft nur von Hörensagen kennt, das begreift jeder, der einige Monate in C. gelebt hat. Nicht ohne Grund war es eine Strafkolonie.

Ich war froh, daß ich schon auf der »Mimosa« den »roten Wolf« kennengelernt hatte. Ich baute jetzt vor, ich schonte mich, wo es nur ging. Was war aber schließlich erreichbar? Vor Kälte kann sich jeder schützen, da gibt es, (ich erinnere nur an die Erzählungen meines alten Herrn), pelzgefütterte Mäntel und Stiefel und Mützen. Und wenn es trotzdem über dem Eise nicht mehr auszuhalten ist, so verkriecht man sich unter das Eis, dorthin, wohin die beißenden Schneestürme nicht zu dringen vermögen. Man gräbt sich Höhlen unter der Oberfläche und wartet ab.

Vor der Hitze und vor der übermäßigen Luftfeuchtigkeit hier aber gibt es keinen Schutz. Nur die Flucht davor in ein kühleres, trockeneres Klima. In die Höhen, die Berge – oder die Flucht in den Alkohol und das Morphin.

Man muß aber einen Mann wie Walter nur eine Stunde lang beobachtet haben, um zu wissen, daß er derartiges vom Herzensgrunde verabscheute. Wenn er flüchtete, dann höchstens in den Schoß der Kirche. Jeden Sonntag konnte man ihn im Schmucke seiner von den Krankenhausschwestern sauber gewaschenen und geplätteten weißen Tropenuniform in die Messe gehen sehen, die in der Kapelle des alten Lazaretts abgehalten wurde und aus der er nach ein und einer halben Stunde zwar mit windelweichen Leinenanzug und rotem, schweißtriefendem, hageren Angesicht, aber innerlich gestärkt wiederkehrte. Ein frommer Mensch, der der Religion seiner Jugendjahre treu geblieben war und ihr bis ans Ende treu bleiben mußte.

Wie weit ihn dieser Glaube bei seinen inneren Konflikten gestützt hat, entzog sich meinem Wissen. Er sprach zu mir darüber ebensowenig, wie ich ihm von meinem nie aufhörenden Leid, meiner niemals erlöschenden Erinnerung an das arme Kind erzählte. Erst kurz vor seinem Ende hat er mich an seinen Schwierigkeiten teilnehmen lassen.

Mit Gott war er stets in Frieden. Ihm war leicht zu helfen. Ihm wäre leicht zu helfen gewesen, meine ich.

Aber jetzt war er zwar gleichmäßig freundlich gegen mich, er nannte mich Doktor Letham und gab mir die Hand, wenn wir uns morgens begegneten. Sonst aber wurde kein privates, persönliches Wort gewechselt. Er war nicht zu stolz. Er war viel zu bescheiden, um einen anderen, und sei es auch einen wegen Gattenmordes rechtskräftig verurteilten Rechtsbrecher wie mich, mit seinen Privatangelegenheiten zu behelligen. Trotzdem waren wir andern genauso unterrichtet über seine Privatverhältnisse wie er, ja in manchem sogar etwas besser.

Ich sagte bereits, daß wir durch die lautschallende Stimme der schwerhörigen und deshalb oft sich überschreienden Frau mehr erfuhren, als dem zurückhaltenden und stolzen Walter recht sein mochte. Bald aber änderte sich die Sache.

So wurde unser armer Doktor gleich zwei- oder dreimal am Tage angerufen. Die Stille des Arbeitsraumes (die höchstens durch die Laute der Experimentaltiere unterbrochen wurde) wurde durch das hier besonders grell klirrende Telephon unterbrochen. Angerufen wurde er also zur Genüge. Aber seine Frau schien dann auf seine Fragen ausweichend zu antworten. Zuerst vag und phrasenhaft, später aber nur mit einem stereotypen Ich-weiß-nicht. Ob der Doktor sich nach dem Befinden seines ältesten Jungen erkundigte oder danach, ob der langweilige, juckende Hautausschlag seiner zweitältesten Tochter verschwunden sei, oder ob das Wirtschaftsgeld in der letzten Dekade (alle Amtsärzte rechnen nach Dekaden) ausgereicht habe, oder danach, wie die Eisenwarengeschäfte in der lieben Heimat gingen, von denen die Angehörigen der lieben Frau lebten, – auf alles erfolgte immer nur diese tödlich leere Antwort. Ich weiß nicht. Es erfüllte mich, den Unbeteiligten, mit einer Art Entsetzen und ich verglich im Stillen seinen Zustand der erfüllten Liebe mit meinem der unglücklichen Liebe, wenn ich den glücklichen Gatten und Vater, äußerlich in Schweiß zerflossen, aber innerlich nicht wie nach der Sonntagsmesse hochaufgerichtet, sondern unterminiert und jämmerlich gequält aus der Telephonzelle zu seinem Experimentiertischchen zurückeilen sah. Seine Frau hatte es nicht zu unterlassen vermocht, die Gute, auch auf des Doktors Abschiedslebewohl mit ich-weiß-nicht zu antworten. Er war aufgewühlt, verzweifelt, es trieb ihn zu fluchen, die Tür der Zelle mit Krach zuzuschlagen, aber dieser Gentleman in allen Lebenslagen beherrschte sich. Er legte die Tür sanft an, schwieg, machte sich mit behutsamen Händen an sein Werk und, man glaubte es nicht, mit dem gleichmütigsten Gesicht der Welt ließ er sich dieses Spiel täglich des öfteren gefallen. Er gab dem schrillen Telephongeklingel immer nach, statt die Leitung umstellen zu lassen, was von der Hauptkanzlei aus ohne weiteres möglich war. Aber er hielt es nicht für recht, sich seiner Frau gegenüber zu verleugnen. Lieber unterwarf er sich ihren teuflischen Beeinflussungsversuchen. Er versuchte sie zu verstehen. Sie ihn nicht.

Oder gab er ihr gar noch recht? Sie war im Glauben, seiner Halsstarrigkeit gegenüber sei im Interesse der zugrundegehenden Familie alles erlaubt, ja sogar geboten. Sie glaubte es eben, und die felsenfest Gläubigen sind nun einmal immer im Vorteil.

Warum hatte Walter die Seinen mit hierhergeschleppt? War er besser – das heißt, handelte er vernünftiger als Monikas Mutter? War nicht alles Wahnsinn? Die Frau Walters war die reine, mehr als das, die praktische Vernunft. Und sie war ein Mensch mit lebendigen Frauenwünschen und Begierden.

War sie eine normale Frau, dann erwartete sie in Walter einen normalen Mann. Hatte sie nicht schon Opfer genug gebracht und hatte es nicht immer geheißen, es solle das unwiderruflich letzte sein?

So hörte er sich ihr satanisches Ich-weiß-nicht geduldig an und ging dann still und gottergeben wieder an seine Arbeit, um zum tausendundersten Male festzustellen, daß das Gelbfieber eine zwar fürchterliche, aber im Wesen und in der Verbreitungsweise noch ganz unbekannte Krankheit sei. Das war denn alles.


 << zurück weiter >>