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XI

Der Lungenkranke hat sich endlich gelegt. Er kann nicht mehr rauchen, bitter leidet er unter der Enthaltsamkeit. »Rauch du!« – sagt er zu mir. Ich rauche eine schwarze, durch die Hitze fast völlig auseinanderfallende Zigarette und blase ihm den Rauch in die Nasenlöcher, die er mir entgegenhält. Ist der brenzliche Rauch (Papier ist die Hauptsache, Tabak nur so nebenbei) ihm zu stark, zieht er das nur aus Haut und Knochen bestehende wachsbleiche Köpfchen zurück, dann aber breitet er es mir wieder lüstern entgegen. Essen will er nicht. Kann er ja nicht. – »Friß du!« – sagt er, und ich esse, und er blickt meine Gurgel gierig an und schnüffelt lüstern mit brennenden Augen den Speisengeruch durch die Nase ein. Er reizt seine wunde, von Kehlkopftuberkulose angegriffene Kehle ebenso wie der Tabakdunst, aber er begeistert sich doch an der kräftigen Brühe, die wir dem gestern geschlachteten, lebensmüden Ochsen verdanken, und mit seiner hölzernen, urkomisch klingenden Stimme rasselt der Sterbende mir zu: »Weiter!« – Er klammert sich mit seiner abgezehrten Hand an mich, sieht mich mit seinen großen, schönen, dunkelblauen Augen an. Er wittert Unheil, glaubt aber doch nicht daran. Die Bazillen, die ihm Lunge, Magen, Darm, Kehlkopf etc. demolieren, erzeugen nebenbei ein wunderbares Gift, den Extrakt der Euphorie, der bewirkt, daß er immer hofft, immer glaubt, immer froh ist, immer lacht! Im Himmel ist Jahrmarkt. Er schlummert ein, im Einschlafen bittet er mich, die Luke zu öffnen. Aber sie ist schon lange offen.

Die Nacht ist blau vom stillschwebenden Mond. Auch nicht der leiseste Windhauch. Die Heizer werfen Schaufeln mit Kohle in die Feuerbuchsen. Die Schiffsoffiziere streiten sich, dann lachen sie, und man hört Gesang. In den Katakomben der Sträflinge geht es besonders wüst zu. Aber keine Musik, sondern Toben und Raufen, schrilles Pfeifen, dumpfes Krachen.

Am Horizont schimmert es wie oxydiertes Silber. Wolkenberge erheben sich in vielfach aufeinandergetürmten Architekturen, wie indische Tempel mit unzählbaren Schnörkeln, Türmen, alles fest umrissen, von zauberhaftem Mondweißblau umflossen.

Im Wasser unten an den Wänden des alten Schiffes zieht es in geisterhaftem Schimmer vorbei, winzige Funken zucken. Flach hingewehte Flämmchen phosphoreszieren auf und nieder. Sie alle leuchten nur in dem von dem Schiff gebildeten Schattenbezirk hervor. Sie kommen aus der Helle. Sie schwimmen und zittern hell aus der wie ein einziges Stück gegossenen Erzes schimmernden, mondspiegelnden Wasserfläche hervor und dunkeln schon hinter dem Schiff, wo im Kielwasser nur die glitzernden, glatten, silberblau-grauen Rücken der Delphine sich heben und senken, die plätschern, tanzen und springen. Seit heute nacht folgen sie wieder in einer großen Herde dem Schiffe. Im milden Schatten rechts und links neben dem gleitenden Schiff spielen aber die kleinen Meerestiere, die Phosphorfunken, sind wallende Medusen, jagende und gejagte Tintenfische, winzige Lebewesen, welche die heiße, stille Nacht an die glimmernde Oberfläche der See gebracht hat.

Der Lungenkranke ist erwacht. Sein Körper fühlt das kommende Ende. Aber sein vom Gift der Glückstoxine verworrener Geist hat bloß ein blindes Wohlgefühl. Er bittet mich um seinen Mantelsack, und aus den Tiefen desselben holt er die Fetzen illustrierter Magazine. Photos von nackten und halb bekleideten jungen Mädchen, in zuckersüßen Farben koloriert, in aufreizenden Posen gestellt. Er blättert mit seinem bleistiftdünnen, tabakbraunen Zeigefinger, und plötzlich beginnt er diese Figuren mit seiner Nagelschere auszuschneiden und vor sich hin auf die schmuddlige Bettdecke zu legen, Kinderspiel? Du Lämmchen, weiß wie Schnee! Also ist er ein harmloser Mensch, nur durch seinen Leichtsinn auf das Verbrecherschiff gekommen? Im Himmel ist Jahrmarkt? Ich fürchte, in der Hölle auch. Man muß nur mitten in seiner ausgezehrten fahlen Physiognomie seine von geiler Zerstörungslust verzerrten dunkelroten Lippen sehen, in deren Winkeln noch Reste des Blutes liegen, das er am Morgen verloren hat! Man muß nur den Ausdruck dieser krankhaft leuchtenden blauen Augen sehen, wenn er mit der Schere, vorsichtig, wie abgemessen, als wäre es lebendes, leidendes Material, diese Papierfigurinen wollüstig zerstückelt. Erst das linke Füßchen ab, das im Spitzentanz sich der Länge nach emporreckt, dann das rechte Füßchen, jetzt den linken, schlangenartig feinen Unterarm. Der Typhusrekonvaleszent sieht schmunzelnd zu. Fort, hinaus mit ihm! Aber den Sterbenden störe ich nicht. Jetzt – da schwankt er, soll er zuerst den Kopf quer abschneiden, oder dem papiernen Lebewesen einen gewaltigen Längsschnitt in den von Spitzenwäsche verhüllten, zarten Unterleib versetzen? Das nackte Böse so im Spiel aus unmittelbarer Nähe zu sehen, ist ein aufregender Anblick. Für den, der es versteht. Freue dich, du arme Seele! Ich tue ihm den Willen, lasse ihn allein. Eine Viertelstunde später, und er ist wieder im tiefen Schlaf, die Mundwinkel zeigen keine Blutreste mehr. Am nächsten Morgen hat er keine Luft mehr. – »Muß ich sterben?« – krächzt er. Da ist er schon dahin! – Keine Papierschnitzel liegen umher. Aber als er aufgehoben wird von dem schweißesfeuchten Bettlaken, finden sich die zerstückelten Menschenbilder auf seinem Leinentuch, und ich gebe sie ihm auf den letzten Weg mit. Der Mensch muß haben, was er braucht.

Der Generalarzt kommt zur Totenbeschau. Er sieht ihn mit weiser Miene an. Wie ein chinesischer Medizinmann berührt er die eingefallene Brust des Toten mit einem Stäbchen, nämlich seinem schwarzen Füllfederhalter, und gibt den Toten zur letzten Ruhe frei. Und in die Listen kommt ein Kreuz. P. B. 4431 ist gewesen.

Wir sind in der Nähe festen Landes. Vielleicht ist eine Insel nicht allzuweit entfernt.

Dem toten Jungen wird ein viel zu weit gewordener Ring vom Finger gezogen, aber er ist nur unechtes Gold und falscher Stein. Der Unteroffizier sieht auch im Munde nach, um nach echten Goldkronen zu fahnden, aber wie schade, der Junge hat noch seine zweiunddreißig Zähne, blütenweiß, ohne Makel. Also kein Federlesen mehr. In der herrschenden höllischen Glut kann dieser von innen her zersetzte Körper nicht eine Stunde länger an Bord bleiben. Wohin mit ihm? In den Himmel nicht. Nach unten, wohin wir alle müssen. Ab.

Vereinzelt wehen Schmetterlinge, groß wie Weinblätter und ebenso zackig geformt, purpurrot und saphirblau, oder matt mauve, durch die Takelage des Schiffes »Mimosa« auf das Vorderkastell. Dort stoßen sie sich an den Hindernissen, hocken, mit ihren langen, taubengrauen Antennen vibrierend, hinter Taurollen, Winden, Kisten, die jetzt nur dürftigsten Schatten geben in der prallen Sonne der Äquatornähe.

Hinter dem Schiffe ist tolles Leben, die Herde von mehreren Hundert prachtvollen Delphinen. Mit jeder Stunde werden ihrer mehr.

Sie drängen ihre wie Tulasilber schimmernden Körper eng aneinander, heben eines das andere fast aus dem dunkelblauen Wasser hervor, schnellen spiralig in die Luft, drehen sich wie Libellen über dem Bach. Breite Köpfe, weite Mäuler, kleine Äuglein, wippende Rückenflossen, peitschende, blattartige, das Wasserleuchten wie Spiegel reflektierende Schwanzflossen. Möwen und Pelikane über ihnen, schrille Schreie, wehende Flügel, Schrägflug, machtvolles Aufwärtsstreben, blitzartiges In-die-Tiefe-Hacken, wo es aus dem Wasser geschleuderte, fingergroße, silberbäuchige, schlanke Fischlein gibt. Über der freudeerfüllten Wanderschar der Tümmler steht der Himmel in unnahbarer Pracht.

Es ist die Stunde, wo die Sträflinge an Deck geführt werden, Abteilung auf Abteilung, alle paarweise geordnet, ein Knabenpensionat mit dem Präfekten. Bajonette an der Spitze, an der Seite, im Rücken. Trab! Trab! Macht euch Bewegung! Ein sanfter Kolbenschlag in den Rücken, ein Fußtritt ins magere Gesäß, vorwärts, los! Stärkt die Glieder! Bewegung ist alles! Ich beschreibe die grauen Gesichter nicht.

Keine Glocke kündet ihnen das Leichenbegängnis ihres Kameraden. Die Sträflinge haben kein Interesse. Sie haben einen gequälten, verbissenen Ausdruck, viele schleppen sich hin wie kranke Vögel, wie gelähmte Kreaturen. Aber was ist doch noch an Lebenskraft in ihnen! Kraft zum Leiden!

Den lungenkranken Verbrecher, die Leiche, die noch nicht kalt geworden ist, hat der Unteroffizier mit meiner Hilfe in eines der vom Typhuskranken gebrauchten Laken gehüllt. Ein Stück Eisenstange dazu, und das Ganze ins Meer! Eins, zwei, drei, hopp! Aber das Eisenstück hat sich gelöst. Es plumpst für sich in das Wasser, und die federleichte Leiche treibt seitlich des Schiffes ins Kielwasser zu den Delphinen ab.

Sie spielen mit dem leichten Gewicht. Der lustige Junge schwebt zwischen Himmel und Erde, die vor Lebensfreude tollen Tiere werfen einander seine sterblichen Überreste zu, von vorne nach rückwärts – bis endlich der weißliche, nackte Leichnam zwischen den dunklen Silberfarben der vielen Delphine verschwindet.


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