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Erstes Kapitel

I

Wie konnte ich, Georg Letham, ein Arzt, ein Mann von wissenschaftlicher Bildung, von einem gewissen philosophischen Streben mich hinreißen lassen, einen Rechtsbruch der schwersten Art, einen Gattenmord zu begehen? Und diese Tat zu begehen hauptsächlich aus Gründen des Geldes? So scheint es wenigstens dem Außenstehenden. Denn alles außer Geld konnte ich doch haben von dieser Frau, die hündisch an mir hing. Schmähe ich sie mit diesem Wort »hündisch«? Nein. Ich versuche nur zu erklären, und es gelingt noch nicht. Da klafft ein innerer Widerspruch und doch ist es so gewesen.

Man hat sich in Gerichtskreisen und in der öffentlichen Meinung, wie sie in der hauptstädtischen Presse verkörpert ist, darüber gewundert, daß ich bei der Hauptverhandlung meines Prozesses, als es bei mir um »Tod oder Leben« ging, gegähnt habe. Es war der dritte Verhandlungstag, die Hitze war drückend, die Plädoyers brachten mir nichts neues und doch – alles wird man eher verstehen, als daß der wegen eines derartigen Verbrechens Angeklagte ganz offenkundig das Interesse an dem Ausgang der Verhandlung verliert. Aber dieser Widerspruch ist nur ein scheinbarer im Gegensatz zu den vielen echten Widersprüchen meines Wesens. Die anderen, sage ich, konnte es interessieren, was aus mir wurde. Mich aber konnte es nicht interessieren, was andere darüber dachten und mit welcher »Strafe«, nach welchem Paragraphen des Gesetzes sie meine Schuld zwecks »Vergeltung und Abschreckung« sühnten. Denn um den logischen Zusammenhang von Schuld und Sühne einzusehen, dazu hätte es anderer Lebenserfahrungen gebraucht als ich sie hatte. Welches Gesetz sollte Anwendung finden für mich? Gewohnheits- und Traditionsgesetz werden mir nicht gerecht. Und das Naturgesetz? Zu oft hatte ich unschuldige Wesen leiden und dafür Schuldige, Böse, Niederträchtige glücklich werden gesehen. Strafen konnte man mich. Aber man konnte mich nicht zwingen, diese Strafe, Todesstrafe oder Verbannung nach C., wo das Gelbfieber und andere tropische Seuchen gerade jetzt wüteten, als eine Sühne anzuerkennen.

Oder sollte ich eine Aufklärung über mein asoziales Wesen, über eine »krankhafte Veranlagung«, über meine Unfähigkeit, als ordentlicher Bürger in einem geordneten Staatswesen weiterzuleben, aus diesen Plädoyers erhalten? War doch dieses »geordnete Staatswesen«, als dessen sittlicher Exponent das Gericht sich darstellte, nach meinen Eindrücken und Erfahrungen alles andere als ein gesunder, sittlicher, in seinem Wesen geordneter Organismus.

Aber die Tat bestand. Ja, und nur sie bestand. Und wenn eine menschliche Kreatur eine Tat auf dem Gewissen hat, die in ihrer ehernen Unumstößlichkeit niemals abgeleugnet oder beschönigt oder entschuldigt werden kann – wenn es mich nun doch einmal zur Vernichtung eines anderen Menschenlebens getrieben hat, was sollen da Worte und lang ausgesponnene Reden und Beweise? Retten kann sich der Täter nicht mehr. Konnte er sich doch nicht einmal vorher, vor seiner Tat retten. Und hätte er alles vorhergesehen, wären dann trotzdem die treibenden Kräfte seines Innern nicht doch stärker gewesen als die Überlegungen seiner Vernunft?

Jetzt mag über sein äußeres Schicksal entschieden werden. Zu hoffen ist kaum noch etwas. Habe ich eine harte Haut, überstehe ich vieles. Bin ich empfindlich, gehe ich zugrunde. Was ist, ist. Alles ist geschehen. Es ist vorbei.

Ich habe in meiner Jugend, nachdem mein Vater seine Erziehungsversuche an mir gemacht hatte, das objektive Wissen in Form der Naturwissenschaft, den subjektiven Lebensgenuß in Form des Geldes angebetet. Mehr als oberflächlicher Genuß war mir das Geld, es schien mir der beste, weil einzige Ersatz für Gott in unserer sonst glaubenslosen Zeit. Geld ist ein fester Boden. Wer Geld hat, hat doch wenigstens etwas. Er steht auf dem sichersten Fundament der heutigen Weltordnung.

Möglichst viel zu wissen und möglichst viel zu besitzen – ein so einfaches Rezept und doch eine so schwierige Kunst! Wie inniglich habe ich, in meinem Innern stets unbeeinflußt, kalt und vereinsamt, diesen beiden Göttern Frondienste geleistet, habe Nächte in bakteriologischen Untersuchungsstätten und Pathologie-Laboratorien, andere Nächte wieder an Spieltischen verbracht – und in beiden hatte ich Glück. Ich habe die kostspieligsten Experimente (Schimpansen und Rhesusaffen kosten unsinnige Summen) mit Hilfe von Spielgewinnen ausgeführt. Ich habe mich mit Arbeit betäubt, wenn ich des Spielens müde war, und mich mit Spiel betäubt, wenn ich der geistigen Arbeit nicht mehr mit der nötigen Spannkraft und Konzentration gewachsen war. Am grünen Tisch, beim Bakkarat, kamen mir neuartige Gedanken zu wissenschaftlichen Experimenten. Glück hatte ich, aber glücklich war ich selten.

Meine Mutter habe ich früh verloren, meine Geschwister, ein Bruder, eine Schwester, waren mir fremd, mein Vater hat eine ebenso große wie verhängnisvolle Rolle in meinem Dasein gespielt, Freunde konnten wir nicht sein.

Eines Tages schlug ich, obwohl ich meiner Lebensführung längst überdrüssig geworden war, doch den Ruf nach einer kleinen Universität aus. Der Lehrtätigkeit brachte ich keine Sympathie entgegen. Ich veröffentlichte zwar das Ergebnis meiner bakteriologischen Versuche, die eine seltene, aber interessante Krankheit, die Rattenbiß-Krankheit, aufklärten, ich setzte sie aber vorläufig nicht weiter fort. Ich hatte im Spiel einen größeren Gewinn gemacht, ich schloß meine Tür ab und ging auf Reisen. Ich lernte meine künftige Frau kennen. Sie war sehr wohlhabend, unschön, nicht mehr ganz jung. Gewinnsüchtige Absichten lagen mir anfangs fern. In unserem Ehekontrakt, den wir unter Palmen und früchtetragenden Orangenbäumen an einem himmlischen Vormittag entwarfen, war von Gütergemeinschaft nicht die Rede. Auch lebte (und lebt) aus der ersten Ehe meiner Frau eine erbberechtigte Tochter, die bald heiratsfähig sein mußte. Wir beratschlagten, auf das azurfarbene Meer hinausblickend, den Gang unserer künftigen Wirtschaft. Die Anzahl der Zimmer, viel zu viele, aber nur ein Schlafzimmer, das gemeinsame. Luxuriöser Haushalt – zu welchem jeder der Ehegatten die Hälfte beisteuern sollte, meine Frau aus ihren Zinsen, ich von meinem Verdienst als Arzt.

Daß ich nicht nur Forscher, sondern auch geprüfter, diplomierter Arzt war, hatte ich ganz vergessen. Und dabei war ich ein guter Diagnostiker, wenngleich ich die Krankheiten und fehlerhaften Körperzustände der Menschen mehr vom Vorlesungssaale, von dem Seziertisch und dem Mikroskop her kannte als aus der klinischen Beobachtung am Krankenbette. Aber die moderne, wissenschaftliche Untersuchungstechnik, Röntgenuntersuchung, chemische Analyse, biologische Funktionsprüfung, ist bereits so ausgebaut, daß diese präzisen Untersuchungen die Erfahrung am Krankenbett reichlich ersetzen.

Ich hatte von meinen Experimenten des ferneren eine hinreichende manuelle Geschicklichkeit. Vivisektionsversuche, Experimente an lebendem Material, können nicht ohne ein gewisses Maß chirurgischer Geschicklichkeit durchgeführt werden. Auch hier gelten die Gesetze der Asepsis, die das Geheimnis aller chirurgischen Tätigkeit darstellt.

Am ehesten brachte ich ein gewisses Interesse der Chirurgie und Gynäkologie entgegen, und dieses Interesse vertiefte sich noch, als ich nach meiner Rückkunft einige Monate an einer großen Klinik Volontärdienste geleistet hatte. Ich konnte also dann den Sprung aus der theoretischen Wissenschaft in die praktische Chirurgie und Frauenheilkunde wagen – und wagte ihn.

Ich heiratete und wurde praktischer Arzt. Meine Frau war bald mit ihrer ganzen Energie und unverwüstlichen Lebensfreude dabei, mir die Wege zu ebnen. Eine Privatklinik in einer schönen stillen Straße der Großstadt wurde eröffnet. Ärztliche Kollegen, die mich früher als Pathologen zu Rate gezogen hatten, sandten mir Patienten zu und alles schien gut vonstatten zu gehen. Die Krankheiten interessierten mich, die Kranken interessierten mich nicht. Das ist bei neunzig Prozent aller Chirurgen so und muß so sein. Aus freien Stücken hatte ich meiner Gattin (sie hatte ein weiches Herz, ein zu weiches Herz) versprochen, mit den Tierexperimenten Schluß zu machen und nie wieder einen Fuß in einen Spielsaal zu setzen. Meine Verhältnisse waren geordnet.

Was war es im Grunde, was ich also »aus freien Stücken« gewollt hatte? Ein Mensch werden, wie es Millionen sind. Da kam der Krieg. Ich wurde eingezogen, aber nicht als Feldchirurg verwendet. Sondern man glaubte mir einen besonderen Dienst zu erweisen, wenn man mich einem bakteriologischen Laboratorium zuteilte. Ein ambulantes Komitee, stets an wichtigen Punkten im Augenblick der Gefahr eingesetzt. Es war nicht allein eine Zeit des sinnlos vergeudeten Bluts von Millionen, sondern auch eine Zeit der schauerlichen Seuchen, alle Bakterien waren losgelassen, welche den geschwächten und halbverbluteten, ausgehungerten, bekümmerten Menschen gefährlicher werden mußten als in Friedenszeiten. So hat die spanische Grippe in den Endjahren des Krieges bei dem damaligen elenden hygienischen Zustand der europäischen Menschheit Formen angenommen, die an die Pestseuchen des Mittelalters erinnerten. Die Menschen fielen wie Fliegen.

Ich ging nicht müßig. Ich arbeitete Tag und Nacht. Ich habe mein Möglichstes geleistet. Ich hatte Vorgesetzte und Untergebene. Ich hatte Anordnungen zu treffen und Anordnungen auszuführen. Serumversorgung, Seuchenbekämpfung, Forschung in praktischem Sinn. Darauf kam es an. Über Sinn und Zweck des Krieges und der strategischen Operationen schwieg ich. Man sprach auch nicht mit mir darüber.

Meine Frau schrieb mir täglich. Ich antwortete, wenn ich freie Zeit hatte. Ich war mit vielen Menschen zusammen, sprach aber durch Wochen kein persönliches Wort. Man achtete mich. Freunde gewann ich nicht, wohl aber Auszeichnungen und Orden. Diesen Dankeszeichen für meine patriotische Wirksamkeit hatte ich es viele Jahre nachher zuzuschreiben, daß man mich nach meiner schweren Verfehlung nicht zur Guillotine, sondern nur zur Verbannung verurteilte. Denn wer in den damaligen kritischen Zeiten der Seuchenbekämpfung gedient hatte, hatte sich um das Vaterland verdient gemacht.

Was aber jene Zeit in mir niedergerissen hat – ich schweige. Wie sie das Werk meines Vaters vollendet hat – ich spreche es nicht aus. Er – der Vater, so wie es – das Vaterland, ja, die Vaterländer alle in der ganzen Welt sind nicht unschuldig an der Entwicklung meines Wesens. Aber wie das den Richtern, den Geschworenen erzählen? Besser – die Hand vor den Mund und diskret gähnen.


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