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XVIII

Der unverwüstliche Doktor und Magister v. F., (für den die Vorschriften der Quarantäne nicht zu bestehen schienen), zeigte sich uns diesmal ohne seinen berühmten Moskitoschleier. Aber er hätte sich als Salome verkleiden können und hätte uns doch nicht gereizt. Selbst Carolus wandte sich gelangweilt ab, Walter hörte mit halber Aufmerksamkeit zu, und March hatte Augen und Ohren nur für mich. Ich allein ließ mir mit wohlwollendem Lächeln, so wie man eben die Sermone eines Monomanen über sich ergehen läßt, die Erzählung des uralten Herren gefallen. Er berichtete vor allem von sich selbst. Wie viele sehr alte Menschen, setzte er ein unbeschränktes Interesse an seinen Privatangelegenheiten bei anderen voraus. Walter horchte nach der Telephonzelle hin, die heute auffallend still blieb, Carolus bohrte sich Obstreste aus seinen Raffzähnen mit einem aus einem Zündholz geschnitzten Zahnstocherchen und betrachtete das aus der Mundhöhle herausgeförderte Zeug mit einer liebevollen Aufmerksamkeit, die weiß Gott einer besseren Sache würdig gewesen wäre. Die Stimmung unter uns war also dem alten Magister nicht günstig. Aber er saß da und schnurrte sein Pensum ab.

Wenn man übrigens eine gewisse Anteilnahme aufzubringen vermochte, konnte es die Viertelstunde sogar lohnen. Denn er machte gleichsam vor uns als vor vier Zeugen sein Testament. Der letzte Wille eines in den Tropen alt und gelb gewordenen, menschenfreundlichen, leider nur mittelmäßigen und von der modernen Zeit lange schon überholten Medizinmannes wurde uns offenbar. Er hatte viel gesehen, mehr noch sein Vater und sein Großvater, von welchen längst vermoderten Ärzten verschiedene Aufzeichnungen vorlagen, wie er uns berichtete.

In dieser Ärztefamilie hatte jeweils der Sohn dem alt und gebrechlich werdenden Vater bei seiner letzten Krankheit beigestanden, hatte rechtzeitig den Urheber seiner Tage auf das kommende Ende vorbereitet – bloß Magister v. F., dessen Kinder andere Sorgen hatten, hatte sich seine Diagnose (chronische Nierenschrumpfung sowie Arteriosklerose) selbst stellen müssen. Aber er war glücklicherweise frei von Sentimentalität. Die Gefaßtheit, mit der er seinem in etwa drei bis vier Monaten zu erwartenden Ableben (er täuschte sich nicht) ins Auge sah, nahm mich für ihn ein. Ich muß es gestehen, ich (der alte Neidhammel) beneidete die Kinder dieses komischen, alten tropenfesten Menschenfreundes um ihren Vater. Sie verstanden ihn nicht. Verstanden auch wir ihn nicht? Ich nahm seine Moskitoeier, die er auch diesesmal und zwar in einem goldpapiergeränderten Pillenschächtelchen auf Watte vorsorglich untergebracht hatte, in die Hand und wog das federleichte Ding.

Wäre nur bei diesem Menschen ein gegenseitiges Verstehen möglich gewesen! In seiner Familie gab es eine klinische Tradition. Seine Beobachtungen, wenigstens was die Lebensweise verschiedener Moskitos anbetrifft, hatten alle wünschenswerte Exaktheit, die man nur von einem modernen Naturwissenschaftler erwarten kann. Er unterschied seine Moskitos, die Y. F.-Moskitos, Stegomyia fasciata, genau von den Anophelesmücken, den wohlbekannten Trägern der Malaria. Er wußte, wie diese sich hinsetzten, wie jene mit den Hinterfüßen wippten etc. Auch die Ablagestelle der Eier war bei beiden Unterarten eine ganz verschiedene. Welchen Eifer, welche minutiösen Beobachtungen mußte der alte Mann neben seiner hier in den Tropen besonders schweren Berufstätigkeit aus reinem Idealismus aufgebracht haben?!

Er erkundigte sich, rührend in seiner senilen Naivität, nach den Schicksalen seiner ersten Moskitoeier. Ich wußte im Augenblick bloß von dem einen Insekt, das in Monikas Zimmer ausgeflogen war und sie gestochen hatte. Möglicherweise war es dasselbe Exemplar gewesen, das sich nachher an den Kaschemmenwirt herangemacht und dessen süßes Blut genossen hatte. Wäre dieser hierauf an Y. F. erkrankt, dann wäre die absurde Theorie des Magisters bewiesen gewesen. Ja, »wenn«! Ein ungeheurer Schritt nach vorne wäre getan gewesen. War es aber nicht. Ich fragte ihn aus Neugierde darnach. Er wußte von nichts. Wir gingen sogar der Sache nach, gründlich wie wir waren, und riefen in der Stadt an. Der Kaschemmenwirt befand sich gesund und wohlauf, einige Schrammen und Hautwunden abgerechnet, die er in einer Balgerei vor drei Tagen von seinen Spießgesellen abbekommen hatte. Also war es damit nichts. Das triste, schon mit dem Stempel des Todes gezeichnete Gesicht des alten Narren hätte man sehen müssen.

Von seiner ersten Moskitoportion waren nur die sterblichen Überreste da, die auf dem Grunde des gazebedeckten Glasgefäßes in einer schmierigen Flüssigkeit schwammen. Es klebten noch an den Wänden Krümel von Zuckerstaub, der ihnen zur Nahrung gedient hatte – und auf dem Boden befanden sich Reste von Chloroform, mit denen sie der gute, alte Carolus, ein verspielter alter Hans, in das bessere Jenseits der guten Tiere Gottes hinüberbefördert hatte.

Ich muß sagen, selbst die leiseste Erinnerung an die Portugiesin, (der Stich durch die Mücke und ihr schelmisches, tapferes, sonnenhelles Wesen), brachte immer noch eine Erschütterung in mir hervor. Ich war von dieser Liebe nicht geheilt. Ich fühlte sie noch. Und so konnte ich dem flehenden Blicke des alten Mannes, der seinen Herzenswunsch erfüllt haben wollte, bevor er starb, schwer widerstehen. »Lassen Sie die Insekten wenigstens an Kranken ansaugen und bringen Sie sie dann unters Mikroskop. Was kostet es Sie?« bat er. Die Erinnerung an die Portugiesin hatte mich weich gestimmt.

Aber ich antwortete ihm ganz anders, als er es nach dem Ausdruck meines Gesichts erwartet hatte. »Warum haben Sie sich denn nicht einmal selbst von der Stegomyia stechen lassen?«

»Habe ich es denn nicht schon oft versucht? Leider ist mir dieser Gedanke erst gekommen, als ich schon zu alt war. Was soll ich tun, mein Blut schmeckt ihnen nicht, und ich glaube auch, unsere Religion verbietet solche Experimente ...«

Als er das Wort »Experimente« aussprach, durchzuckte mich eine sonderbare Ideenverbindung. Ich hatte mir in Gedanken immer gesagt, er verstehe uns nicht, wir ihn aber auch nicht. Für uns waren seine Worte einfach nichts als unbewiesenes und unbeweisbares Gefasel, und er, der alte Praktiker der unmittelbaren Beobachtung, wiederum wußte nicht, was er mit unseren statistischen Feststellungen über die Verbreitungsweise der Krankheit anfangen soll, diesen drei Einzelheiten, die der alte Carolus ausgetüftelt hat, dem funkenartigen Überspringen ... was heißt »funkenartig«? Nichts! Weg damit! Aber was heißt Überspringen? Überfliegen?! Kann man in diese Wortmetapher einen naturwissenschaftlichen Sinn bringen? Ich, der Mann eines verläßlichen Gedächtnisses, entsann mich meines ironischen Ausdrucks »auf Engelsflügeln«, was!? wie? Ja, nein, auf Engelsflügeln nicht, wohl aber auf Moskitoflügeln konnte, ja, was konnte? mußte die Krankheit von einem Leidenden zum Gesunden sich fortpflanzen, und wenn tausendmal der Kaschemmenwirt nicht durch den Mückenstich angesteckt worden war, was konnte nicht alles die Ursache einer negativen Tatsache sein?! Hatte der Wirt das Y. F. einmal gehabt? Ist er vielleicht immun? fragte ich den Magister F. Ich wartete aber seine Antwort nicht ab. Ich wollte sie nicht wissen. Ich wollte das Problem durch Experimente erhellen.

Nicht mehr sezieren! Aber experimentieren! Ich zog ihn an dem Ärmel seiner blauen, dünnen Seidenjacke, unter der ich die Fasern seines weitmaschigen Netzhemdes fühlte, zu dem Arbeitstische, wo bereits wieder Carolus und Walter je an einem Objektiv gemeinsam ein einziges Blickfeld vergeblich, aber emsig durchmusterten, und sagte zu den Kameraden in leisem Ton: Was Herr F. angibt, könnte aber doch mit unseren Beobachtungen übereinstimmen. Die Krankheit könnte durch ein Ding, das durch die Luft fliegt, übertragen werden. Über einen Hof hinweg, ja möglicherweise von der Ostküste eines Kontinents auf die Westküste eines anderen, der das gleiche, feuchtwarme Tropenklima hat, fünfundzwanzig bis dreißig Grad, weder Norden, noch Wüste, noch Europa. Dies zu Punkt eins.

Und wenn die Erkrankungen in Schüben kommen, und das war Ihre Einzelheit Nummer zwei, Herr Generalarzt, dann könnte das unsichtbare Virus möglicherweise im Leibe einer Mücke reifen, wie man das bei anderen Seuchen, besonders von der Malaria und dem Ankylostomum, auch kennt.

Und wenn, Einzelheit Nummer drei, die Krankenpfleger und die Wäscherinnen etc. frei bleiben trotz ihrer unappetitlichen Hantierung, so beweist das, daß die Kleider und die Ausscheidungen der Kranken das Virus nicht enthalten. Oder wenn sie es doch enthalten sollten, dann in unwirksamer Form.

Das war sehr einfach. Deshalb schwer zu glauben. Einem anderen hätten die Herren ins Gesicht gelacht. Mir nicht.

Habe ich nicht schon erzählt, daß die gütige Mutter Natur mir als Ersatz für Güte, Heiterkeit und Schönheit und ein gutes, warmes, menschlich fühlendes Herz eine ordentliche Portion Logik gegeben hat? Aber diese wäre nutzlos geblieben, hätte ich nicht auch die Gabe dazu bekommen, Vertrauen zu erwecken. Unter Kranken und Gesunden. So auch hier.


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