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XII

Diese Einzelheit bestand im Grunde aus einer ganz unwesentlichen Sache, ich erwähne sie hier mehr der Vollständigkeit wegen.

Von vielen Ärzten wird bei Blutungen aus den Schleimhäuten, wie hier aus Mund-, Rachen-, Magen- und Darmschleimhaut, die Anwendung von Nebennierenextrakt empfohlen. Um nichts unversucht zu lassen, hatte ich mir das Präparat aus der Lazarettoffizin holen lassen. Ich hatte die übliche, einen Kubikzentimeter fassende Pravaczspritze mit der farblosen-, wasserklaren Flüssigkeit gefüllt. Die Spritze hatte ich mit der Nadel nach außen und oben auf das Nachtkästchen gelegt und hatte mit der Reinigung der Einstichstelle begonnen.

In diesem Augenblick hatte sich das schauerliche Schluchzen der armen Kleinen verstärkt. Ich hätte alles andere leichter ertragen, selbst das kreischendste Geschreie und das wütendste Umsichschlagen. Bloß nicht dieses monotone, seelenlose Schluchzen. Ich konnte es und konnte es nicht mehr ertragen.

Ich streichelte dem Kinde das Haar, ich flößte ihm etwas zergangenes, gelbliches, mit winzigen Vanillestäubchen gemischtes Vanilleeis ein, das bei den Mundwinkeln, mit Blutschaum vermischt, wieder abfloß. Vergebliche Mühe, vergebliche Quälerei.

Ich sah ja ein, daß alles verloren war. Noch etwas anderes sah ich. Die Apothekenschwester, die in Ermangelung eines eigens angestellten Apothekers die Verschreibungen in der Lazarettoffizin besorgte, hatte meine Schrift nicht richtig entziffern können, hatte eine zehnfach stärkere Lösung angefertigt und diese abnorm starke Konzentration als solche auf dem Fläschchen gewissenhaft mit einem Rufzeichen! notiert. Ich spritzte sofort die tödliche Dosis wieder durch die Injektionsnadel in die Luft, und da ich nicht vorsichtig genug war, benetzte ein Tröpfchen davon das Etikett, so daß die schwarze Tintenschrift von der Hand der Apothekenschwester verwischt wurde. Eine Null nach dem Dezimalpunkt mehr oder weniger – es war nicht mehr zu erkennen. Gutes Gift – oder hilfloses Medikament?

In diesem Augenblick entsann ich mich meiner Gattin. Ich sah das Fläschchen mit dem Toxin vor mir, mit dem ich meine arme Frau ermordet hatte, ich sah die alte, feine, glitzernde Spritze auf einer Spiegelglasplatte mit der leicht blutigen Nadel nach außen und oben gerichtet, wie ich sie bei meiner Tat verwendet hatte. Das Wort: wie kehrt doch alles wieder in diesem kurzen Leben, ging mir auf. Es ging mir auf wie ein Licht, und ich sah.

Eine Sekunde zögerte ich. Ich begriff meinen Herzenswunsch, dieses schauerliche Schluchzen, dieses tierhafte, sinnlose Leiden eines absolut verlorenen Wesens möge nur enden. Es koste, was es wolle. Warum nicht noch einmal die Spritze füllen, ein blitzschneller Stich in diesen gelben, ausgemergelten Arm – ein tiefer Atemzug und alles ist zu Ende. Schrecklich zu Ende, aber doch zu Ende. Nur wer Wochen oder auch nur Tage oder selbst nur einige Stunden neben einem rettungslos Verlorenen gesessen hat und dessen Ohr und Auge und Herz und Seele wütend sich aufgebäumt haben gegen die unnütze Quälerei, der wird mich verstanden haben.

Aber versteht man denn auch, daß ich diese blitzschnelle Bewegung dann doch nicht machte? Daß ich, Georg Letham, der jüngere, dem Schicksal seinen Lauf ließ?

Ich glaube beinahe, jetzt war mir der Sinn meiner Strafe aufgegangen. Ich war der einzige, der sich richten konnte. Ich war auch der einzige, der sich strafen konnte. Ein Teil meiner abzubüßenden Strafe war es, dem qualvollen Ende meines Lieblings zusehen zu müssen und nicht helfen zu können. Nie ist mir eine Tat schwerer geworden in meinem allzulangen Leben als das »Keinen-Finger-Rühren« jetzt. Aber ich begriff, daß ein Menschenleben einen absoluten Wert hat. Ich begriff den Zusammenhang zwischen dem früheren und dem späteren. War das so schwer? Es war schwer. Bis zum heutigen Tage unmöglich, so schwer war es. Erst als ich mein törichtes, irrendes Herz an einen Menschen gehängt hatte, unlösbar, gegen alle Vernunft (was sollte ich erwarten und was kannte ich denn von dem geliebten jungen Kind mehr als das längst verfallene Gesicht, die erloschenen Züge, hatte ich doch kaum den Klang dieser Stimme gehört, hatte ich das Kind doch nie gehen, tanzen, sich über etwas freuen gesehen!), jetzt erst, als ich der unendlichen Zahl leidender, sinnlos verlorener Menschen als ihresgleichen eingegliedert war, jetzt konnte mich ein Verlust treffen, konnte ich Buße tun. Konnte? Nein! Nein! Mußte.

Hätte ich nie gemordet, hätte ich nie hier landen können.

Ich gab der Welt meine Zustimmung. Ich mußte. Ich tat, was recht war, und nicht, was quer war. Es mußte sein.

Als ich die Lösung richtig verdünnt hatte, war der Puls bereits unfühlbar geworden. Die Einspritzung war jetzt offenbar nutzlos. Und so ließ ich sie vollends sein. Das Kind lebte noch viele Stunden, denn es war jung, war nie ernstlich krank gewesen, ungebrochen an Leib und Seele war es nach C. zu seinen Eltern gekommen. Es brauchte viele Stunden der Giftwirkung durch das Y. F., bis Leib und Seele der kleinen Portugiesin gebrochen wurden. Ich saß dabei und sah sie an. Ich würgte meinen Willen, zu handeln, etwas zu tun, in mich hinein. Ich legte die Hände in den Schoß. Nicht auf die Stirn der Sterbenden, nicht auf ihren krankhaft aufgeblähten, knallgelben Leib. Hätte ich nicht von meiner seligen Frau gehen können, auch von ihr, ohne das zu tun, was ich getan hatte?

Wozu dem Menschen, der vom ersten Tage seines Lebens an in biologischem Abstieg begriffen ist, der von seiner frühesten Jugend, vom Mutterleibe an, welkt und stirbt, noch einen Stich versetzen? Wozu morden, wozu einen Menschen leiden machen? Laß! Laß sein! Denn alle Schätze Golkondas lohnen es nicht.

Morden soll die erbarmungslose Natur oder Gott. Steh dabei, du trefflicher Arzt Georg Letham, du bezaubernder, vielgeliebter Sohn, Gatte und Herzensmann, falte die Hände und schweig! Verzweifle, schweig und stirb! Es ist alles, wie es ist. Du betest nicht mehr, weil du es nicht vermagst, und man hilft dir nicht. Wozu auch nachher um Mitleid flehen? Was sollen diese dummen Tränen, die der alten Mulattin aus dem rot umränderten Negeräuglein über die sammetartigen, braunen Altweiberwangen fließen?

Ich kann nicht weinen. Ich hatte dem Schicksal ein Angebot gemacht, ich war bereit gewesen, sofern ich den Gegenwert erhielt, mich für mein Idol zu opfern. Opfer – du altes, pathetisches Drehorgelwort! Und doch, laß gut sein! War denn der unaufhörliche Aufenthalt neben der hoch fiebernden, infektiöses Blut etc. ausscheidenden, also ansteckenden Kranken nicht auch ein Experiment? Und zwar ein nicht ungefährliches? Aber das Schicksal hatte auch mir (wie meinem armen Vater einst) nicht ihr holdes Antlitz zugewendet. Ich hatte dem Schicksal angeboten: Gib sie mir, heile sie und schlag zu – und es hatte zugeschlagen. Getroffen hatte es aber nicht mich. Denn es hatte das Tauschobjekt, Georg Letham jun., nicht als gültig akzeptiert, und ich blieb am Leben, ich verließ das Krankenzimmer, zwar gebrochen, zwar verzweifelt, wie vor den Schädel gehauen, von unbeschreiblicher Müdigkeit belastet. Aber kerngesund.

Was war sie denn im Weltenlauf, die kleine Portugiesin? Was war sie im Gange unserer hehren, wissenschaftlichen Expedition? Nicht mehr und nicht weniger als was Ruru war, die brave Hündin, die meinem Vater in die Gegend des Nordpols gefolgt war.

Ich wollte, ich mußte einen Sinn in meinem Leben finden, ich ahnte ihn ja, ich hatte den Glauben, daß er zu finden, daß er zuversichtlich zu fassen sein müsse, und doch, ich ging stumm, mit gesenktem Kopfe, zusammengebissenen Zähnen, – ja, so war es, knirschend mit den Molarzähnen machte ich mich aus dem Staube, wie es mein Vater in den kritischen Augenblicken seines späteren Lebens immer getan hatte. So entschwand ich aus dem vom blödsinnigen Geheul der alten Amme erfüllten Sterbezimmer und ließ die fassungslos (aber eben nur wie ein trauererfüllter, hemmungsloser, primitiver, farbiger Mensch) schreiende und heulende Mulattin mit dem toten Kind zurück. Um es würdig zur letzten Ruhe einzukleiden.

Kurz danach mußte mir der Geistliche begegnen. Er sah mich an, und ich nickte. Ich sah ihn an, und er schüttelte den Kopf und lächelte. Er hatte sich mit besonderer Liebe der Pflege des alten Kanalarbeiters gewidmet. Nun war es ganz so, als wenn dieser sich auf dem Weg der Besserung befände! Ja, der geistliche Herr hatte eine gute Telephonverbindung mit dem Weltenlenker oben, und das zeigte sich in seiner »glücklichen Hand«. Der Arbeiter sollte leben bleiben. Welch ein Glück! So konnte der mit vierunddreißig Jahren schon senile, kinderlose Proletarier in ein bis zwei Wochen das Lazarett verlassen, blaß, aber geheilt, zu leichter Diät bestimmt und sehr erholungs- und schonungsbedürftig. Ja, leichte Diät, wenn er nicht einmal trockene Brotrinden genug hatte, um seinen dürren Leib vor dem Verhungern zu bewahren, kein Dach über dem struppigen Haupte, um es vor den kommenden Regengüssen der tropischen Regenzeit zu schützen – einerlei! einerlei! Er mußte der Menschheit zurückgegeben werden und sie ... sie!

... Ich sagte nichts. Aber der Geistliche schien mich zu verstehen. Er zog mich in einen Winkel, in eine vor unberufenen Spähern und Lauschern geschützte Ecke (die ständigen Wachen im Hause patroullierten in der Nähe stampfenden Schrittes in den fliesenbedeckten Korridoren des Hauses auf und ab, da es hier kühler war als vor dem Hause, wo eigentlich ihr Platz war), und dort offenbarte er mir – sein Geheimnis? Nein, nicht ganz. Er schlug nur seine nicht mehr ganz saubere, recht abgenutzte Soutane auseinander, er öffnete das grobe Hemd am Halse und zeigte mir, daß er quer von der linken Seite der Halswurzel zur rechten mit blauen Lettern ein Wort eintätowiert hatte: Amen.

Zwischen uns wurde kein Wort gewechselt. Ich hätte antworten können, warum auch nicht? Auch nur ein Wort: Omen.

Er schloß schnell, gesenkten Blickes, seine Kleider und ging, um die Anordnungen wegen der Einsegnung und Bestattung des Kindes zu treffen, die Treppe empor, die ich hinabgekommen war.


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