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IX

Der Generalarzt hantiert im Schweiße seines dürren Angesichts mit Zettelchen von verschiedener Farbe, teils runden, teils quadratisch ausgeschnittenen. Er durchstöbert einen Berg von medizinischen Journalen, steckt die Zettelchen (mit den Stecknadeln zwischen den langen Raffzähnen ist der Gute wie eine alte Hausschneiderin anzusehen) an einer großen Landkarte ab, zum Entsetzen des Kapitäns, der seine kostbare Landkarte nicht zu diesem Zwecke hergeliehen hat. Aber der Rang eines Generalarztes ist zu gottähnlich. Da beugt sich jeder in Ehrfurcht und Gehorsam.

Zwei Feststellungen sollten nun dem braven Carolus in fortgesetzter angestrengter Arbeit gelingen. Zwar nicht die Entdeckung des Gelbfiebererregers. Diese kann nur mitten auf dem Schlachtfelde der furchtbarsten, nach der Bubonenpest gefährlichsten Seuche gelingen. Wenn sie überhaupt gelingt. Auch nicht die Entdeckung der Seuchenverbreitung, die exakte Epidemieologie. Darin haben wir so viel Theorien, als es Forscher gibt, die sich mit dieser tropischen Sphinx beschäftigt haben.

Einer von ihnen, ein alter Arzt in C., hat sogar die Stechmücken verantwortlich machen wollen. Natürlich, ohne es zu beweisen. Mücken! Stechmücken! Anopheles! Stegomyia! Als ob diese Krankheit, die »gelbe Pest«, eine Art Malaria wäre, die bekanntlich durch Mückenstiche verbreitet wird von Mensch zu Mensch. Welch ein Unterschied, welch eine Verwirrung, welch eine Phantasie!

Wenigstens ein Gutes hat Carolus. Er hat keine Phantasie. Er hat ungeschickte Hände, mehr noch, er hat unsaubere Pfoten, er kann keinen Bakterienstamm rein isolieren, er hat Angst vor dem lebenden Fleisch, vor den Schmerzen seiner Opfer! Er fährt armen Sträflingen mit infektiösem Material in ihr wehrloses Angesicht, er läßt sie hungernd und todmüde stundenlang warten, während er unnötige, theoretische Aufzeichnungen statistischer Art aufnimmt – aber ein Gutes hat er: er glaubt nur das, was er weiß.

Ein einfaches Prinzip. Und doch der einzige sichere Unterschied zwischen einem Mann der exakten Wissenschaft und einem Dilettanten.

Die erste der zwei Feststellungen des Carolus bezieht sich auf die Lufttemperatur aller Orte, in denen Fälle von Gelbfieber sicher festgestellt worden sind. Das gelbe Pestfieber bedarf demnach einer Temperatur, die im Durchschnitt der Nachttemperatur nicht unter zweiundzwanzig Grad sinkt und in der Tagesmitteltemperatur mindestens über fünfundzwanzig Grad bleibt.

Die zweite Feststellung betrifft das geographische Verbreitungsgebiet der Seuche und ihre Geschichte, die er mir in die Feder diktiert wie folgt:

»Das Gelbfieber, auch gelbe Pest, englisch Yellow fever genannt, ist eine Infektionskrankheit, von der die ersten Nachrichten schon bald nach der Entdeckung Amerikas nach Europa gelangten. Die ersten Berichte, welche die Seuche unverkennbar darstellen, stammen von dem Pater Du Tertre aus dem siebzehnten Jahrhundert, als das gelbe Fieber auf den Antillen in ausgedehntem Maße herrschte. Das eigentliche Heimatland ist das tropische Amerika. Von hier aus erfolgten die weiteren Übertragungen nach dem nördlichen Amerika, Westafrika und Europa. Das Hauptgebiet liegt zwischen den beiden Wendekreisen. Also in der Äquatorgegend.

Innerhalb der beiden Wendekreise, also unter dem dreiundzwanzigsten nördlichen und südlichen Breitengrade sind es die einander gegenüberliegenden Küsten Amerikas und Afrikas, die Gelbfieberfälle aufzuweisen haben. Also die Ostküste Afrikas und die Westküste Amerikas. Geographisch gesprochen, die Gegend des Golfes von Panama mit weiterer Umgegend und in Afrika die Elfenbeinküste und Goldküste. Erhebliche Ausbreitung in gemäßigten Zonen ist ausgeschlossen.

Empfänglichkeit der verschiedenen Menschenrassen: Europäer stärker empfänglich als Mischlinge. Afrikanische Neger und Mongolen scheinen immun zu sein, das heißt, sie können in verseuchten Gegenden leben, mit Kranken zusammen sein und werden doch nicht angesteckt. Am empfänglichsten (wie sardonisch ist dein Lächeln, du alter Pharisäer mit dem Generalsabzeichen, glaubst du, die werden dich vor der Krankheit schützen, mehr als uns arme Schacher? Nein!) – am empfänglichsten ist der neuangekommene Europäer, und zwar in um so höherem Maße, aus einem je kühleren Lande er kommt. (Wir alle! Gerechte und Ungerechte, dem Himmel sei Dank!)

Männer leichter empfänglich als Frauen. (Schade!) Erwachsene mehr als Kinder. (Traurig!) Kräftige junge Leute mehr als alte schwache. (Ewiger Irrsinn der Natur, die sich mit den Worten ›gütig‹ und ›liebevolle Mutter‹ schmeicheln läßt, die alte geschminkte Dirne.) – Die arme Bevölkerung mehr empfänglich als die reiche!« (Also auch hier, von den Stufen der Hölle bis zu den Höhen des Paradieses, die Bevorzugung der kapitalkräftigen Klasse!)

Fertig, alter Kratzer? Er kratzt sich, während er Wort für Wort aus seinem langgestreckten Munde hervorzieht, mit den affenartig behaarten Händen bald die Brust, bald den Kopf, der ein Büschel fahler, graublonder Haare scheinbar an falscher Stelle trägt, ganz so, als hätte er eine verrutschte, fuchsig gewordene Perücke auf dem langen, turmartig aufgebauten Schädel. Nein, er hat noch viel Theorie zu diktieren, noch viel an der Karte abzustecken, ich muß das Schälchen mit Stecknadeln in der einen Hand, in der anderen Hand das Schälchen mit feinen quadratischen und kreisförmigen Zettelchen halten, außerdem sollte ich womöglich noch eine dritte Hand haben, um die wichtigen, gelehrten Entdeckungen aufzuzeichnen.

Der Generalarzt hat als Haupt der Kommission Befugnisse eines Gouverneurs. Darf ich an seiner Seite bleiben, wird alles, alles gut. Ich darf es, ich soll es, ich muß es. Mit strenger Miene kommandiert er an mir herum, befiehlt mir, mich bei der Landung den anderen Deportierten zwar anzuschließen, dann aber mich bei ihm zu melden. Als wissenschaftlicher Assistent? O nein! Nur als stummer Diener, der z. B. bei den Sektionen der Gelbfieberleichen assistieren soll. Gott verläßt die Seinen nicht. Er verläßt sie nicht. So werde ich der erste sein, der sich an frischen Gelbfieberleichen anstecken und in kürzester Frist verrecken darf. March, du mein Liebling, du bist gerächt. Laß dein Grammophon spielen, wenn man mich alten Sünder zu Grabe trägt. Und weine mir nicht nach. G. L., der jüngere, verdient es nicht!


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