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IV

Wir hatten uns von Beginn an mit der äußersten Leidenschaft in die Untersuchung vertieft, um so größer mußte der Rückschlag werden und wurde es auch. Ich sagte es schon, alle geimpften Tiere (ein einziges Meerschweinchen ausgenommen) überlebten die Einführung des infektiösen Materials ohne einen merkbaren, für das Y. F. charakteristischen Schaden.

Der Generalarzt sah sich nach einer anderen Arbeit um und besann sich auf seine statistischen Aufzeichnungen, in denen er, hier wie in Europa, zu Hause war. Und überall, wo ein Zettelkasten, wo eine graphische Kurve, wo Fähnchen und Stecknadeln existierten, da war seine Welt, da fühlte er sich wohl, der alte Narr. Aber wenn ich da sage »der alte Narr« und wenn ich ihn früher »monumentaler Ochse« genannt habe – ich muß mich selbst fragen, spricht da nicht etwas der Neid aus mir? Neid nicht auf seine militärische Würde, nicht auf die Generalsabzeichen, sondern purer Neid auf seine philisterhafte Sicherheit? Daß er das Leben ertrug, wie es war. Aber dasselbe tat auch der wackere Walter, und diesen nannte ich nicht so.

Hier könnte ein Widerspruch in meinem eigenen Wesen liegen, ein doppelter Boden, wie er sich mir bei der Begehung meiner Tat zu meinem Verderben selbstzerstörerisch gezeigt hatte und wohl bei jeder wichtigen Entscheidung meines Daseins immer zeigen würde – unergründlich, aber mit der Stärke eines Naturgesetzes. Das heißt, im letzten Grunde ebenso unverständlich wie jedes Gesetz. Ich spräche nicht in so großer Ausführlichkeit darüber, wenn nicht diese meine Abneigung gegen einen Carolus mich um einen großen Erfolg gebracht hätte. Doch davon später. Jetzt bloß die bereits angedeuteten Feststellungen unseres alten Medizinalstatistikers.

Er beobachtete (immer an Hand seiner Karten, Pläne und statistischen Methoden) daß zum Beispiel ein Fall echten Y. F. in der Stadt C. hier an dem dritten Hause rechts von einer Ecke (rechts, vom Hafen aus gesehen) sich ereignet hatte. Der nächste (gerade jetzt, wo die Fälle spärlicher waren, konnte man es glücklicherweise exakt beobachten) der nächste Fall wurde nicht etwa im Nachbarhaus, also im zweiten oder vierten von der Ecke, beobachtet, ebensowenig direkt gegenüber, sondern um die Ecke herum in einem anderen Straßenzug, oder gar auf einer anderen Seite des Häuserblockes, der von dem ersten Seuchenherd durch einen großen, unbebauten Hof geschieden war, in dem sich Haufen von Abfällen, zisternenartige Wassergruben, Tümpelchen und Lachen, Hügel von Müll und Konservenbüchsen, Tierkadaver und Sägespäne, Ställe für Kleinvieh und kleinere verwahrloste Beetanlagen befanden. Man konnte feststellen, daß zwischen dem ersten Fall, zum Beispiel dem des schwedischen Ingenieurs und dem folgenden, der Frau eines Verwaltungsoberbeamten, keine Berührung stattgefunden hatte, sie hatten einander nie gesehen. Wie hatte sich das Kontagium verbreitet? Auf Engelsflügeln? fragte ich hämisch. Den einzig richtigen Schluß konnte damals noch keiner von uns ziehen. Er war wohl zu einfach.

Zweitens wurde festgestellt, daß die Leute im Krankenhause relativ selten erkrankten. Das Haus lag auf der Höhe. Es war der in dieser Zeit mörderisch sengenden Sonne besonders stark ausgesetzt – welcher Idiot hatte das Jesuitenkloster zum Lazarett bestimmt? Die Krankenzimmer waren also wahre Höllenkammern, den »Dunstkammern« auf der »Mimosa« seligen Andenkens (erinnerst du dich, liebes Herz, schöner, teurer March, und lächelst du mir deshalb zu?) den Folterkammern auf dem Schiff waren sie zu vergleichen, und einige Untersuchungsräume mußten in die kühleren Kellerlokalitäten verlegt werden, wo man bei künstlichem Licht zu arbeiten hatte, am besten in den Abend- und den ersten Nachtstunden.

Aber wer konnte sich dies immer so bequem einrichten? In den Krankenzimmern, besonders in denen, die unter dem flachen Dache lagen, war es fürchterlich. Und doch erfolgte höchst selten eine interne Hausansteckung, das Pflegepersonal blieb heil und ebenso die farbigen Weiber, die sich mit der Reinigung der meist gar schauderhaft verunreinigten Wäsche etc. beschäftigten. Also: warum hatte hier in diesen Hallen, wo doch oft genug in der Kapelle das Sterbeglöcklein läutete, das schauerliche Kontagium seine ansteckende Kraft eingebüßt? Kreuzworträtsel lösen sich leichter. Wir fanden keine Antwort.

Die dritte Beobachtung war die, daß die Kranken oft in ganzen Schüben kamen. Als wir eingetroffen waren, hatte eine Pause stattgefunden. Dann erfolgten drei bis vier Fälle, dann setzte eine Pause von etwa zehn Tagen ein, dann ging es mit erneuter Vehemenz los. Ja, handelte es sich vielleicht um eine Pflanze, die zehn bis vierzehn Tage brauchte, um zu blühen und etwa aus den prangenden, überüppigen Staubgefäßen das Gift der Gelbfieberpest zu versprühen? Die statistische Kurve des Carolus' war sehr charakteristisch. Aber wofür charakteristisch? Feine Kenner der Sache, wie der gute Magister F., der alte Mann mit der transportablen Moskitomaske um seinen Patriarchenkopf, wurden herangezogen. Er wurde eingehendst über seine Erfahrungen in diesen drei Punkten befragt. Aber er dachte nur an seine Moskitos und deren Finessen, die er minutiös genau beobachtet und studiert hatte, er hatte aber die uns besonders interessierenden drei Einzelheiten weder selbst beobachtet, noch hatten ihn andere darauf aufmerksam gemacht, noch auch konnte er ihnen beim besten Willen irgendeine wesentliche Bedeutung beimessen. Kaum, daß er unsere Fragestellung begriff. Es mußte eben das Auge eines begnadeten Statistikers auf diese drei Einzelheiten fallen, um sie überhaupt zu sehen und das war Carolus. Und mehr noch war er. Keineswegs in allen Lebenslagen der monumentale Ochse, wie ich ihn in erbärmlichem Neide genannt. Denn zu meiner Schande sei nun endlich folgendes berichtet:

Man erinnert sich, daß als einziges Opfer unserer vielfachen Versuche eines von den drei von ihm geimpften Meerschweinchen zu erwähnen war. Ich war durch den Korridor in den Kellerräumen gegangen, wo die Tierkäfige in Reih und Glied standen. Alle Tiere wohlauf und gesund, bloß dieses eine Meerschweinchen, ein rostrot und gelbweiß geflecktes Männchen, wollte nichts fressen, hatte gelb gefärbte Augenbindehäute und schien Fieber zu haben. Ich maß es und es zeigte neununddreißig Grad. War es ein Wunder? Die ungeschickte Hand eines Carolus hatte die Impfnadel geführt, es waren offenbar verunreinigende triviale Keime in die Blutbahn gekommen. Das Tier wimmerte leise und kläglich und streckte alsbald alle viere von sich. Ich sagte es Walter, der trübselig zu meinem wahren (falschen) Befunde: allgemeine Blutvergiftung mit Leberschwellung etc. nickte, und von dem negativen Ergebnis aller seiner (unserer) Bemühungen sehr niedergedrückt schien.

»Haben Sie weiter nichts gefunden?« fragte er.

»Überzeugen Sie sich selbst!« antwortete ich und wies die Präparate vor. Und er, der doch selbst in früheren Zeiten die Impfbarkeit der Meerschweinchen mit Y. F.-Serum festgestellt oder doch wenigstens sehr wahrscheinlich gemacht hatte, gab sich mit meinem oberflächlichen Befunde zufrieden. Er verließ sich sträflicherweise auf mich, und ich wollte mich auf mein Vorurteil verlassen. Aber ich konnte es nicht. Ich war gewissenhafter. Ich färbte die stark erweichte, entzündete Leber des Meerschweinchens und fand in den Gewebsschnitten unter dem Mikroskop statt der üblichen Eitererreger eine Art verdächtiger Mikroorganismen, blasse, mehr geahnte, als wirklich exakt erfaßte Dinge von spirochätenähnlicher Gestalt, also korkzieherförmige Gebilde – und dies an einer einzigen Stelle, in einem einzigen Schnitt von sechsen. Nun wäre es doch das Naheliegendste gewesen, dem Carolus und dem Walter auch diesen problematischen Befund zu melden. Ihm nachzugehen. Das Präparat mit besonderer Sorgfalt zu behandeln. Die Färbung zu wiederholen, alle bekannten Methoden zu versuchen, von der Geißelfärbung und Beizung mit Osmiumsäure angefangen bis zu den bekannten Spirochätenuntersuchungen, wie es Pflicht und Aufgabe jedes anständigen, redlichen Bakteriologen ist.

Tat ich es? Keineswegs. Ich schämte mich, einzugestehen, daß meine erste Meldung ungenau gewesen sei. Ich gönnte auch dem Carolus, den ich als Stümper kannte, nicht den Erfolg. So schnell war das Kollektiv gesprengt. Ich hielt einem Ochsen gegenüber alles für erlaubt. Lieber redete ich mir ein, daß das, was ich gesehen hatte, »Schatten« von Bakterien, Reste von Spirochäten eines anderen Falles gewesen waren. Denn die Verwaltung sparte, und die Glasplättchen, auf denen wir die Ausstriche färbten, waren gebraucht, March hätte sie in heißer Sodalauge vorher sorgfältig reinigen sollen, was ich eben bezweifelte, verbohrt wie ich war. Aber aus Abneigung gegen ihn (die natürliche Reaktion auf seine von mir ungewollte, aufdringliche Liebe) und aus Haß gegen Carolus (Reaktion auf sein unzerstörbar sicheres, beschränktes, stupid glückliches Wesen) unterließ ich alles, was meine Pflicht gewesen wäre. Ich war genauso leichtsinnig und borniert wie so manche mittelmäßige Forscher, und deshalb entging mir ebenso wie ihnen das, was ich suchte.


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