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VIII

Ich will an anderes denken. Die Vergangenheit taucht auf. Ich sehe meinen Vater vor mir.

Mein Vater, dieser kluge, alte Teufel (wie klug von ihm, nicht hierherzukommen!) machte manchmal Spaße. Er hatte Humor, das heißt Distanz. Aus der Entfernung konnte er mit großem Vergnügen (er wußte, was Lebensgenuß ist!) zusehen, wie sich die Menschlein in ihrem Jammer und in ihrer Niedertracht mit grauenhafter Possierlichkeit bewegten. Aber diese Distanz war vorher für keinen leicht zu gewinnen. Man mußte sie sich abzwingen, und dazu erzog er mich. Aber wenn ich dann alles ertrug, im wahrsten Sinne des Wortes, ohne mit der Wimper zu zucken, dann war er stolz auf mich, der mit dreizehn Jahren ein Mann war und ein brauchbarer Kamerad. Und hatte er das herausgebracht und erreicht, enthüllte er mir zum Dank auch seine Späßchen, und ich sollte mitlachen.

So simulierte er einmal in der Zeit, als sich in mir die bekannten Pubertätskämpfe um den Sinn der Weltordnung abspielten und sich in religiösen und sozialen Zweifeln äußerten, eine Augenkrankheit und bat mich, ihm aus der Zeitung vorzulesen. Er hatte plötzlich Bindehautkatarrh und mir wurde der Star gestochen.

Vielleicht kam ich an diesem Tage gerade aus der Kirche. Mag sein. Der Religionslehrer unserer Gymnasialklasse, ein noch junger Mensch namens La Forest, Bruder eines Beamten meines Vaters im Ministerium, war nicht unintelligent, er hatte versucht, sich in mich hineinzudenken, hatte mir Trost zu geben versucht, hatte mir für meine Person »geistige Demut und Furcht vor dem Herrn« und für mein Verhalten zu anderen »hilfreiche und opferwillige, tätige, christliche Liebe« empfohlen. Die Sinnlosigkeit und Grausamkeit der Welt führte er auf die Erbsünde zurück, von der sich jeder Mensch kraft der Existenz des Heilands und kraft seines eigenen Willens befreien konnte.

Wie gern hätte ich meinem Vater gegenüber von diesen Tröstungen geschwiegen. Er brauchte mich aber nur flüchtig anzusehen aus seinen angeblich so kranken Augen, er brauchte nur an meinem Jackett zu riechen – und er wußte, ich kam aus der Kirche, ich kam aus der Schule eines »unerlaubten, widernatürlich optimistischen« Menschenfreundes.

Und was tat er? Keine spitzfindigen Diskussionen. Kein schneidender Spott. Nein, im Gegenteil! Er redete mir nur noch gut zu, nur ja recht oft in die heilige Messe zu gehen, zu beichten, zu beten etc. Also was tat er dann so Schreckliches, daß ich ihm das Beiwort »teuflisch« zulege? Er rieb sich bloß die Augen, bis sie wunderbar tränten, blätterte mit ratloser Miene in den Abendzeitungen (er war stets ein leidenschaftlicher Zeitungsleser gewesen) und er rief mich mit zärtlicher Stimme (sie zitterte nicht, seine tiefe, wohlklingende, leise und überdeutliche Stimme) und fragte mich, ob meine Zeit es mir gestatte, ihm aus der Zeitung vorzulesen. Ist es nicht merkwürdig, daß ich den Text heute noch Wort für Wort weiß? Nachts, aus tiefem Schlaf geweckt, könnte ich ihn exakt wiedergeben.

Schlagzeile: Schreckensszenen bei Nacht. Über dreihundert Sträflinge verbrannt. Eigenes Telegramm Newyork, 22. April. Im Zuchthaus des Staates Ohio, in der Stadt Columbia, brach am gestrigen Spätnachmittag eine Feuersbrunst aus, die Hunderte von Gefangenen, in ihre Zellen eingesperrt, überraschte. Schrecklich, sagt er. Bitte lies deutlicher! Oder bist du müde? Warten die algebraischen Aufgaben? Dann laß dich nicht aufhalten, ich muß nicht alles wissen. Ich setzte fort: Während ein Teil der Gefangenen rechtzeitig durch den Gefangenenhof gerettet werden konnte, wurden die Sträflinge, die im alten Zellenblock untergebracht waren, vom Feuer eingeschlossen. Die Wärter und die Gefangenen ... Nein, unterbrach er mich, du hast ein Stück ausgelassen. Interessiert dich wohl nicht! Wie hatte der alte Teufel das erraten? Und wie mich dieses Protokoll des wirklichen Lebens interessierte! Aber ich wollte die Güte der Allmacht und den Erlösertrost unseres Heilands nicht verlieren, ich wollte seine Himmelsgüte mit dem Bilde der Wirklichkeit vereinigen, ich wollte guten Gewissens beten können! Was sollte ich tun? Ich holte das Versäumte nach: Abends um acht Uhr wurden bereits zweihundertfünfzehn Tote bekanntgegeben. Um neun Uhr war die Zahl bereits auf dreihundertfünf gestiegen. Wir wollen für ihr Seelenheil beten, sagte mein Vater und sah mich treuherzig an. Er kniete nieder auf den schönen, weichen Teppich, nahm von seinem Schreibtisch einen kleinen, dreiteiligen Holzaltar, hinter dem ein altes, kleines Mikroskop stand und stellte ihn vor sich hin. Ich stand daneben. Ich kniete nicht nieder. Ich las weiter: Die Wärter und die Gefangenen versuchten gemeinsam, allein den Brand zu löschen. Erst eine halbe Stunde nach dem Ausbruch des Feuers erschien die Feuerwehr. Es war jedoch zu spät, die Unglücklichen, die in den vier alten Zellenflügeln wohnten, zu befreien. Groß gedruckt: Maschinengewehre gegen die Geretteten. Mehrere hundert Gefangene, die sich wegen leichterer Verbrechen in Haft befanden und die in einem gemeinsamen, großen Schlafsaal untergebracht waren, und dreitausend weitere Gefangene aus etwas entfernteren Flügeln wurden in den Gefängnishof geleitet und durch Maschinengewehre in Schach gehalten. Meine Stimme versagte, ich konnte nicht weiter. Ich sah alles vor mir. Mein Vater tat, als bemerke er es nicht. Immer nur Schaudergeschichten in den Asphaltblättern, als ob es nicht auch etwas Erquickliches gäbe. Genug der Greuel! Die Erde ist doch kein solches Jammertal. Was übrigens Schach betrifft, hätte mein lieber Sohn Lust auf eine Partie Schach? Wir können blind spielen, oder wenigstens ich. Denn meine Augen will ich nicht unnötig anstrengen. – Was sollte ich tun? Ich beherrschte mich. Ich war der Aufgabe, die er mir stellte, so gut gewachsen, daß ich diese Partie gegen ihn, den starken Spieler, nicht nur eine Stunde lang halten, sondern auch mit einem Remis abschließen konnte. Ich weiß nicht mehr, wie er mich für diesen Sieg belohnte. Hatte ich genug Distanz bewiesen? Hatte ich der Wirklichkeit ins Auge gesehen? Wer weiß? Aber ich weiß das eine, daß ich am nächsten Sonntag ihn und meine Mutter nicht in die Messe begleiten konnte. Es mußte eine weitere Folge von Abhärtungsversuchen kommen, bis ich nach außenhin mich beherrschen, bis ich heucheln, eine ebenso fromme und gottergebene Miene aufsetzen konnte wie er.

Ein sehr wichtiges Kapitel in seiner Schule war Menschenkenntnis und methodische Menschenbehandlung. Auch hier machte er es nicht mit trockener Weisheit, sondern an Hand praktischer Beispiele, mit eisiger Intelligenz und satanischem Humor. Er sagte, er wolle die Menschen nicht in gute und böse, in menschliche und unmenschliche einteilen (von dieser Einteilung hielt er mit Recht nichts) ebensowenig in erfolgreiche und erfolglose, weil der Erfolg sich im gegebenen Augenblick nicht immer genau abschätzen läßt, auch nicht in dumme und kluge, denn in jedem Menschen sei beides unzertrennbar gemischt, sondern er fragte mich ganz nebenbei, ob man die Menschen vielleicht (wir hatten in der Schule gerade das Frosch-Mäusegedicht des alten Homer durchgenommen, übrigens ein sehr umstrittenes Werk) in Frösche und – Ratten einteilen könnte. Von Mäusen wollte er nichts wissen, sie waren ihm zu farblos als Charaktere, Ratten aber kannte er, Ratten haßte er aus Herzensgrund, sie waren ihm klar, denn sie hatten Farbe bekannt. Die Ratten waren die klebrigen Charaktere, die Frösche die schlüpfrigen. Die einen die Mörder, die anderen die Betrüger. Die einen heiß, die andern kalt. Er sagte, von beiden Typen gäbe es im Menschenreich wenig reine Exemplare, man müsse daher herauszuspüren versuchen, wieviel Froschiges und wieviel Rattiges in einem Menschen enthalten sei. Die Ratte war, wenn man ihm glaubte, monarchistisch, sie war Soldat und tötete frisch drauf los. Sie frißt und säuft gern und läßt andere leben, solange sie selbst genug hat. Sie erkennt einen Herrn und Führer über sich an, spielt am liebsten selbst den Herrn und Helden, sie liebt heiß und achtet die Familie; sie hat Mut, sie faucht nicht lange, sondern beißt zu. Der Frosch hingegen ist republikanisch, er ist für die Gleichberechtigung von jedermann. Er hat mehr Interesse an gefahrloser Tätigkeit, auch wenn diese ihn nur so schlecht und recht ernähren kann. Daher ist er anspruchslos, lobt Gott den Herrn, lügt und heuchelt aber bei Tag und Nacht, glaubt im Herzensgrunde nicht an etwas Höheres als an seine eigene fröschige Majestät. Seinen Laich setzt er still und leise ab und kennt seine Kinder nicht aus der Menge heraus. Dafür frißt er sie auch nicht, wie manchmal ein Rattenvater. Die Ratte pfeift in Gefahr und stellt sich, der Frosch quakt immer nur seinen eigenen Namen und springt im gefährlichen Augenblick ins Wasser und sagt, ihm sei es draußen zu heiß gewesen. Die Ratte ist frech und zeigt sich ebenso gern in Massen wie allein, die Frösche sind bescheiden und machen sich aus ihresgleichen nichts, sondern ziehen die schmalen Schultern hoch. Er, der Frosch, hat den gefährlicheren geistigen Hochmut und tut am liebsten nichts und würde gern die dumme Ratte für sich arbeiten lassen, was diese aber nicht tut. Es sei denn: sie muß.

Ich weiß nicht, woher ihm diese Vergleiche kamen, ich kann auch nicht beurteilen, wieviel Richtiges daran war. Aber eine Zeitlang machte er seine Diagnose bei jedem der Menschen, die in unser Haus kamen und zwinkerte mir zu. Die Ratten sollten trockene und heiße Hände haben und sollten die dargebotene Hand nicht gern wieder loslassen, während sie einem unverfroren ins Auge sahen. Die Frösche hingegen nahmen die kalten, feuchten Flossen am liebsten schon wieder fort, bevor sie sie noch gegeben hatten und schielten in die Winkel oder zur Tür.

Am besten war es, sagte mein Vater, der die linke Hand des Ministers war (von der die rechte nie wissen durfte, was die andere tat) sich mit beiden Menschenarten gut zu stellen. War dies aber einmal nicht möglich, so mußte man es der Ratte sofort auf den Kopf geben und sie gar nicht erst frech werden lassen. Mit den Fröschen sollte man sich durch langwierige Verhandlungen verhalten, sie ausnutzen, ermüden, fortwerfen. Wenn es sein mußte, sie durch einen Stich ins Hinterteil entwaffnen. Große Künstler verstünden den Umarmungsreflex in diesen kaltblütigen Tieren (denk, du hast es mit einer Dame zu tun, witzelte mein Vater) zu erwecken, wenn man nämlich einem Frosch zur richtigen Zeit mit dem Finger über das Brüstlein oder das Bäuchlein strich (ich habe das Experiment einmal angesehen) dann schloß es seine Pfötlein innigst und froschleidenschaftlichst um den Finger. Er hielt ihn, den Menschenfinger, für eine Fröschin. Doch zu solchen Zaubereien war nicht der tausendste geboren! Meist war der Frosch nachgiebig, wenn er sich durchschaut sah, während die Ratte, wenn man ihre Niedertracht herausbekommen hatte, nur mit noch größerer Unverschämtheit antwortete.

Ich erzähle dies, wie es mir jetzt durch den Kopf geht: Auf dem Hafenplatz, angekettet an einen Mann, der schwieg. So elend meine Lage war, ich mußte lachen. Es schüttelte mich und meine Handfessel mit, und ich weckte den hübschen Knaben an meiner Seite, ohne daß ich es wollte. Er schreckte auf und sah mich mit großen Augen an. In mein stilles, kicherndes Lachen stimmte er nicht mit ein. Ich kopierte so gern das Lachen anderer Menschen. Er hatte dies wahrscheinlich nicht notwendig, er hatte aus eigenem genug Galgenhumor und ein in allen schweren Lagen des Lebens quietschvergnügtes Gemüt ... Er hatte eben eine andere Erziehung und eine andere Natur.


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