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III

Gummibonbons Ehrgeiz ist es, kein Gummibonbon, sondern ein Diamant zu sein. Seine stolze Haltung am Hafenplatz, seine wieder in der letzten Zeit besonders krampfhaft geübte Zurückhaltung, aus der aber doch immer eine unbeherrschbare Leidenschaftlichkeit durchbricht – immer ist es das Gleiche. Ein Verbrecher? Nein. Aber ein gefährliches Kind? Ja, das ist er. Seine Geschichte war viel weniger romantisch, als er glaubte. Er gehört ja zu den »liebenden Herzen«, und wie er andere bemitleidet (z. B. mich), bemitleidet er sich selbst. Wie er andere belügt (z. B. mich), belügt er sich selbst.

Er erzählt von seiner Verlobung. Sie ist die Tochter eines Obersten (eines mittleren Magistratsbeamten), er nennt sie einmal beim Vornamen, das anderemal wie unabsichtlich, sich daraufhin sofort verbessernd, die Komtesse. Der dritte im Bunde ist der Kadett, aber in Wahrheit ist es nicht ein Anwärter hoher militärischer Würden, sondern ein künftiger gehobener Kommis oder Bankbeamter, der jetzt noch die Handelsschule besucht, besuchen würde, wenn er noch lebte. Quod non.

Gummibonbon kann auf die Dauer nicht lügen.

Alles andere ist wahr. Wahr ist Marchs Gefühl. Wahr ist Gummibonbons Motiv. Wahr ist der tragische Endeffekt. Wahr sind die zwei Stücke einer Grammophonplatte »Unter den Brücken«, welche die beiden Geschwister, Louis und Lilly, jedes auf einem anderen Plattenfragment, in alten Kinderzeiten mit ihrem Namen feierlich bekritzelt haben. Und er, March, der sich anfangs als Sohn eines Fabrikanten, eines Großindustriellen ausgab, und zwar als der einzige Sohn, entpuppt sich nach und nach nur als einer der Sprößlinge aus der großen Kinderschar eines stets am Rande des Bankerotts stehenden Drogisten, der in Zeiten schlechten Geschäftsganges einem Kinobesitzer die Bücher geführt oder sich um die Fabrikation neuer Schuhputzmittel oder Kräutertees vergeblich bemüht hat. Aber wenn die Not der Familie noch stärker stieg, so beschäftigte er sich auch mit dem Rauschgifthandel, verschaffte sich zuerst echte Drogen und gab sie gegen teures Geld weiter, dann aber ersetzte er sie durch Kreidepulver und trieb einen so plumpen Betrug, daß er denunziert wurde. Die Denunzianten hatten ihrerseits selbst nicht das reinste Gewissen, die Sache schlief ein, der Drogist konnte nur wegen Übertretung gegen das Preisverordnungsgesetz bestraft werden; er hatte ja keine Rauschgifte weitergegeben.

Und so windet er sich eben immer wieder nur so durch.

In dieser Atmosphäre wächst der junge March auf. Der Vater hatte aber in höherem Alter selbst Appetit auf diese Rauschgifte bekommen, er verkauft sie, gewitzigt wie er ist, nicht mehr mit Wucherzinsen an andere, sondern verwendet sie selbst. Stockend nur erzählt der Sohn von den Szenen, die sein morphiumsüchtiger Vater aufführte, von den großen Kosten, welche seine tapfere, lebenstüchtige, gesunde, dem kranken Gatten völlig ergebene Mutter nicht scheute, um dem schnell alternden Mann seine Leidenschaft abzugewöhnen.

Endlich gelingt es. Jubel im trauten Heim über den verlorenen und wiedergefundenen Vater. Aber in der Heilanstalt, in der die Entziehungskur vorgenommen worden ist, hat der Drogist ein junges Mädchen von Bühne und Film kennengelernt, hat sich brennend in sie verliebt. Neue, diesmal endgültige Flucht des Vaters aus der Familie, für die jetzt March, der älteste Sohn, zu sorgen hat.

March wird ein kleiner Beamter, ein ordentlicher, fleißiger Mensch mit dem Streben nach Höherem. Zehn Jahre Arbeit, Sparsamkeit. Häuslicher Frieden. Amen. Seine Mutter heiratet nach diesen zehn schwierigen Jahren zum zweitenmal, seine Geschwister sind im Beruf, ein jüngerer Bruder in der Uhrmacherlehre, eine jüngere Schwester verlobt. Gott sei Dank – und March atmet auf.

Er ist als Beamter der Stadt kein Kirchenlicht, aber gut angeschrieben, immer und überall gut gelitten, ein solider, schüchterner, zurückgezogen lebender Mensch, der am Schlüsse seiner Amtsstunden in Gedanken schon bei den Seinen daheim ist und stets nur daran denkt, wie er ihnen das Leben sicherstellen und darüber hinaus angenehme Überraschungen bereiten könnte. Zu Frauen fühlt er sich noch nicht sehr hingezogen. Er hat ja seine Mutter, seine Schwester. Vatergefühle werden wach in ihm gegenüber seinem kleinen Bruder, der sehr schwächlich ist, vielleicht von dem Vater in der Morphiumperiode gezeugt wurde.

Das Leben des jungen March ist also von der Familie ausgefüllt, es kommt nicht zur Entfaltung irgendwelcher Leidenschaften, die einzige erkennbare Abnormität ist eine kindliche Eitelkeit, Kleider, Wäsche, Körperpflege; dazu ein Besorgtsein um ein Mehrerscheinen, ein Streben nach höherer Geltung in der Gesellschaft. Und dann eine gewisse Naturschwärmerei und eine Anbetung, ein seelischer Kniefall vor männlichen hochgestellten Personen, zum Beispiel vor einem jungen Geistlichen, der aus gräflichem Hause stammt und sein »Schloß« verlassen hat, um eine Missionsreise nach Afrika zu unternehmen, dann malariakrank zurückgekommen ist und den Pfarrer des Sprengels vertritt, in dem der brave March mit den Seinen wohnt. Dem Abbé ist nichts Gräfliches geblieben. Er hat ein hageres, ausdrucksloses Gesicht, an dem die Haut auf den Knochen festgewachsen scheint, von Schweiß feuchte, kalte, sich weichlich anfühlende Hände, und seine Tonsur erstreckt sich nicht nur auf den Hinterkopf, sondern auf den ganzen eckigen Schädel, denn der aristokratische Christ hat kein einziges Haar mehr, trotz seiner jungen Jahre.

Dieser Abbé ist die erste Liebe des March. March weiß zwar nicht, daß er Männer mehr liebt als Frauen. Aber erfühltes. Er grämt sich über die düstere Gleichgültigkeit des Abbés, er leidet an der Leere und Langeweile seines bürokratischen Daseins. Es bietet sich ihm eine Veränderung, zwar keine Reise nach Afrika zu schwarzen Missionskindern, sondern nur eine etatmäßige Beförderung aus Rangklasse 6a nach 6b und damit verbunden eine Übersiedlung in eine kleine Landstadt im Norden des Landes. Also Abschied von Mutter, Stiefvater und Schwester, Bruder und Verwandtschaft und auf und davon! Nach der letzten Beichte bei dem Grafen drückt der hübsche, schüchterne Junge in tiefer Erregung die Hand des wackeren Geistlichen, dieser sieht ihm erstaunt in die aufgerissenen Augen, fährt in seinem langweiligen, stereotypen Sermon fort und wischt sich die Hand mit einem groben Taschentuch wieder ab – entweder, weil sie zu sehr schwitzt oder weil ihn der Händedruck eines kleinbürgerlichen, dümmlichen Staatsbeamten in seinen Gedankengängen irritiert oder einfach nur so aus Gedankenlosigkeit. Es tut auch weiter nichts zur Sache. Höchstens das eine, daß, wenn der gräfliche Abbe als Menschenkenner und Menschenfreund den Beamten sofort ernstlich zur Rede gestellt hätte (zwischen Beichtkind und Beichtvater sind Händedrücke zärtlicher Art durchaus nicht Sitte), dann die andersartige Veranlagung des armen March zu seinem Heil vielleicht noch rechtzeitig aufgeklärt worden wäre. So aber mußte ein schweres Unglück passieren, damit der im wesentlichen Punkt so stupide junge March wußte, mit welchem Geschenk ihn die gütige Mutter Natur begnadet hatte.

Und das mag auch den Wunsch erklären, den der arme Frosch hegt, nämlich den Herzenswunsch, mir alles zu erzählen, weil er sich jetzt, nur viel zu spät, erkannt hat und weil er eine neue Leidenschaft in sich keimen fühlt und weil er sich und (so will ich hoffen, du Guter!) auch mich vor den Folgen seines rasenden Temperamentes schützen will. Aber ich sehe dich doch, Kerlchen! Menschenkenner bin ich zu einem gewissen Grade, wenn auch kein Menschenfreund! Ich sehe dich, wie du bist!

Du und rasendes Temperament! Nichts als ein Mißverständnis! Kinder sind keine Verbrecher, gewiß. Aber lassen wir alles austoben, was in ihren schattigen Gehirnchen sich regt, dann ist Gefahr. Der Umarmungsreflex interessiert mich nicht. Ich bin keine Fröschin. Vorbeugen ist der beste Schutz. Deshalb darf es gar nicht weiter kommen.


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